11
Das Sterben dauerte fünf Tage.
Fünf Tage lang hämmerten die Granaten der Panzer auf die Barrikaden und die Arbeiter herunter, pflügten die Sperren um und zerrissen menschliche Leiber. Sie hämmerten Trichter um Trichter in die Urwalderde und vernichteten mit einem Volltreffer die Huren des Zentralbordells, die sich in einen Bunker aus dicken Stämmen verkrochen hatten. Die Granaten zerfetzten im weiten Umkreis alle Bäume und entfachten riesige Feuer, deren Glut über die Arbeiter herfiel und ihnen den Atem nahm.
Fünf Tage lang ununterbrochenes Sterben. Fünf Tage lang brüllende Hölle. Und wenn die Geschütze einmal Atem holen mußten und die heißen Rohre sich abkühlten, krochen die Überlebenden aus den Trümmern der Barrikaden und begannen zu singen.
Daß er noch lebte, daß Norina und Dr. Santaluz in den Feuerpausen noch operierten, begriff Gebbhardt nicht. Irgendein Wunder mußte sie beschirmen. Während um sie herum die Leiber zerrissen wurden, war das einzige Blut, das sie bespritzte, das Blut der anderen. Es war unbegreiflich.
»Jetzt schießen sie mit Napalm«, sagte Dr. Santaluz, als am vierten Tag die Barrikaden und der Wald zu brennen begannen, als habe man sie mit Öl übergossen. »Ich habe Ihnen ja gesagt, es sind Schweine. Menschlichkeit ist nur ein Wort für einen Clown. Er hat damit den größten Lacherfolg.«
Jenseits des Flusses hatten sich die Fallschirmjäger inzwischen festgesetzt. Aber sie kamen nicht herüber, denn die Pontonbrücke war rechtzeitig gesprengt worden. An beiden Flanken lagen sich die Arbeiter und Soldaten im Urwald gegenüber. Es war ein Kampf Mann gegen Mann, gnadenlos, bestialisch, einsam. Hier war jede Bewegung, jeder Laut, jedes Rascheln oder Zweigeknacken ein Feind und damit der sichere Tod. Aber hier, bei den Einzelkämpfern, würde die Entscheidung fallen, das wußte Santaluz. Erreichten die Soldaten die Schneise und das Lager, war es wie ein Würgegriff, gegen den es keinen Widerstand mehr gab.
»Zwei Gruppen sind durchgekommen«, sagte Dr. Santaluz am Abend des fünften Tages. »Sie haben einen Funkspruch aufgegeben, und wir haben ihn empfangen. Sie sind in Ceres. Die Erregung in der Stadt ist ungeheuer. Trotz völliger Informationssperre sind Berichte von unserem Kampf nach draußen gedrungen. Die Zeitungen der ganzen Welt berichten über uns. Es war also doch nicht ganz umsonst.«
Gebbhardt empfand in diesen Minuten tiefes Mitleid mit Santaluz. Er klammerte sich an Zeitungsartikel, als könnten sie eine Veränderung der Welt bewirken. Er redete sich ein, sein einsamer Kampf werde zu einem Signal, und dabei wußte er doch genau, daß morgen die Sehnenzerrung eines Fußballspielers viel wichtiger sein würde als das Sterben von zweitausend Menschen auf einer unbekannten Urwaldstraße mitten im brasilianischen Dschungel.
»Bekommen Sie Verstärkung von draußen?« fragte Gebbhardt. »Gibt es etwa einen Volksaufstand?«
Dr. Santaluz blickte Gebbhardt aus müden Augen an. »Ich weiß, was Sie jetzt hören wollen. Sie sollen es auch hören: Nein. Es wird nur Einzelaktionen geben. Aber wenn der große Aufstand kommt, werden wir das Vorbild sein.«
»Und dafür lohnt es sich, so qualvoll zu sterben?«
»Ja. Ohne Leitbilder gibt es keine Revolutionen. Gäbe es ein Christentum ohne einen gekreuzigten Jesus? Um welch ein Symbol könnte man sich scharen, wenn es kein Kreuz gegeben hätte?«
»Und Sie wollen Brasiliens Kreuz werden?«
»Wir alle hier.« Dr. Santaluz machte eine weit ausholende Handbewegung. »Und jeder weiß es und hält deshalb aus. Sie werden so ein Glück, dem Vaterland dienen zu können, nie empfinden. Stimmt's, Carlos?«
»Es stimmt, doutôr. Gerade wir Deutschen haben dieses sogenannte Heldentum bis zum Exzeß strapaziert. Daß Brasilien jetzt damit anfängt, macht mich fassungslos.«
Am siebten Tage der Belagerung ging dann alles sehr schnell. Von drei Seiten stürmten die Fallschirmjäger nach einer letzten Kanonade die Barrikaden und das Lager. Aus dem Urwald kamen sie mit Flammenwerfern. Es gab keine Gegenwehr mehr.
Alegre gehörte zu den letzten, die noch schossen. Er lag hinter einem Maschinengewehr und hatte den letzten noch vorhandenen Gurt eingezogen. »Ich brauche Munition!« schrie er. »Dort drüben, neben dem Bulldozer liegen zwei Kästen. Her damit! Los, holt sie her.«
Die Männer in den Trichtern rührten sich nicht. Zwischen ihnen und den Munitionskästen lagen knapp zwanzig Meter. Das waren vierzig Meter hin und zurück, die mitten durch die Hölle führten. Außerdem standen die Kästen nahe am Waldrand, wo, bizarr verkrümmt, schon drei tote Fallschirmjäger lagen.
Plötzlich sprang doch jemand hoch und hetzte wie ein Hase im Zickzack über die Straße … eine kleine, schmale Gestalt in einer viel zu großen Männerhose und einer zerrissenen Jacke. Langes schwarzes Haar wehte beim Lauf um den zwischen die Schultern gezogenen Kopf.
»Alja«, heulte Alegre auf. »Alja! Zurück! Mein Gott! Mein Gott!«
Er schoß an ihr vorbei auf den Waldrand, und auch die anderen Männer gaben ihr Feuerschutz. Plötzlich zischte hinter einem Busch ein Strahl flammenden Öls hervor. Starr, mit aussetzendem Herzen sah Alegre, wie Alja beide Arme hoch warf, als ihr Körper im Feuer verschwand. Die Flammen schienen sie wie Röntgenstrahlen zu durchleuchten, nur ihr Skelett war noch sichtbar, bläulich phosphoreszierend – ein leuchtendes Gerippe. Dann erlosch der Feuerstrahl plötzlich. Von Alja war nicht mehr als ein schwärzlicher Fleck auf der Erde übriggeblieben.
»Mein Gott«, stieß Alegre hervor. Er rutschte hinter seinem MG in den Trichter, lehnte sich an die Wand und faltete die Hände. »Verzeih mir alles, was ich noch tun werde. Es wird nichts sein gegen das, was Du jetzt zugelassen hast. Geheiligt sei Dein Name, in Ewigkeit, Amen.«
Er wartete, beobachtete den Waldrand, kroch dann aus seinem Trichter und rannte zu den Trümmern der Barrikaden. Dort verschwand er im Gewirr des zerfetzten Eisens.
Zwanzig Minuten später warfen die Überlebenden die Waffen weg und schwenkten ihre Hemden. Dr. Santaluz hatte seinen letzten Befehl gegeben. Er arbeitete wieder mit seinen Sanitätern und Norina im Lazarettzelt, als die Fallschirmjäger das Lager besetzten. Und er blickte auch nur kurz auf, als der Oberst ins Zelt kam und ihn begrüßte, wie einen gleichrangigen militärischen Gegner.
»Legen Sie Ihre Arbeit nieder und folgen Sie mir«, befahl der Oberst.
»Und die Verwundeten?« Santaluz tauchte seine blutigen Hände in einen Eimer mit Wasser.
»Unsere Ärzte werden sie sofort übernehmen.« Der Oberst sah sich um. Sein Blick streifte Norina Samasina und blieb dann an Karl Gebbhardt haften. »Senhor Carlos Gebbhardt?«
»Ja.« Gebbhardt legte den Arm um Norinas Schulter. »Und meine Frau Norina.«
Der Oberst lächelte kühl. »Darüber werden wir uns unterhalten. Ich habe den Befehl, Sie nach Ceres zu begleiten. Hauptmann Piraporte hat sich lobend über Sie geäußert.«
»Dann hat er gelogen.« Gebbhardt zog Norina an sich. Sie preßte das Gesicht gegen seine schmutzige Jacke und begann plötzlich zu zittern. »Ich habe auch eine Waffe in der Hand gehalten.«
»Und damit geschossen?«
»Natürlich!«
»Er lügt!« Norina riß sich los und wirbelte herum. »Er lügt! Er kann auf keinen Menschen schießen. Auf kein Tier, auf gar nichts. Er würde nie schießen. Glauben Sie ihm nicht.«
»Wir werden uns die Sache überlegen.« Der Oberst grüßte militärisch. Während er hinausging, drangen Soldaten ins Zelt, rissen Dr. Santaluz vom Operationstisch, schlugen ihn mit Gewehrkolben auf den Kopf und schleiften den Besinnungslosen weg. Sie gaben Gebbhardt einen Stoß, hieben auf seine Finger, die Norina wieder umklammert hielten, und traten das Mädchen in den Bauch. Sie krümmte sich, stumm, mit knirschenden Zähnen, aber sie gönnte ihnen nicht die Befriedigung, sie schreien zu hören. Ohne einen Laut der Qual ließ sie sich verprügeln und aus dem Zelt stoßen.
»Ihr Hunde!« schrie Gebbhardt. »Ihr verdammten Hunde! Ihr Misthunde! Es lebe die Freiheit Brasiliens! Es lebe –«
Jemand schlug ihm die Faust auf den Mund. Er spürte Blut über sein Kinn laufen, sein Gesicht schien anzuschwellen, als blase man seinen Kopf wie einen Ballon auf. Dann fiel er um, schlug mit der Stirn auf den Instrumententisch und verlor das Bewußtsein.
Als er erwachte, lag er auf einem Sofa. Es war ein Sofa wie zu Großmutters Zeiten, dunkelgrün und mit Plüsch bezogen, mit einer hohen, geschnitzten Rückenlehne. Drumherum ein Zimmer, ziemlich kahl, mit zwei Fenstern, vor denen grell die Sonne schien. An einem Fenster stand ein Korbsessel, in dem ein Mann in Uniform saß. Der Oberst.
Gebbhardt richtete sich taumelnd auf und schob die Beine auf den Boden. Er sah alles wie durch eine beschlagene Scheibe – verschwommen und ziemlich weit weg.
»Ich habe die Soldaten, die Sie mißhandelt haben, zur Rechenschaft gezogen, Senhor Gebbhardt«, sagte der Oberst. Seine Stimme kam wie aus einem langen Trichter. »Ich bitte um Nachsicht. In dieser Situation konnte ein Soldat Nationalitätsunterschiede schlecht erkennen. Außerdem sprachen Sie portugiesisch.«
»Wo ist Norina?« fragte Gebbhardt. Er erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Behutsam lehnte er sich gegen die hohe Rückenlehne des alten Sofas und holte tief Luft. »Was haben Ihre verdammten Hunde mit Norina gemacht?«
»Sie sprechen von einer Eliteeinheit der Armee, Senhor.« Der Oberst stand auf und kam auf Gebbhardt zu. Er ragte vor ihm auf wie ein Berg, so stark hatte sich bei Gebbhardt die Perspektive verschoben. »Wir hatten zweiundvierzig Tote und einhundertneunundsechzig Verwundete. Durch Rebellen. Da wird die Rache zum alles beherrschenden Element in einem Menschen.«
»Wo ist Norina?« fragte Gebbhardt lauter. Sein Körper und seine Nerven gewöhnten sich wieder an die Welt. Die Verzerrungen lösten sich allmählich. Jetzt sah er den Oberst, so, wie er war: mittelgroß, stämmig, mit drei Ordensspangen an der Uniform, um die Fünfzig herum. Graue Haare, ein dickes, aber hartes Gesicht.
»Sie bewohnt eine Einzelzelle im Militärgefängnis hier in Ceres.«
»Ich bin in Ceres?« fragte Gebbhardt verblüfft.
»Haben Sie etwa angenommen, man stellt im Urwald ein Sofa auf? Sie befinden sich in meinem Privatzimmer innerhalb der Kaserne. Das Sofa, auf dem Sie geschlafen haben, ist über hundert Jahre alt und stammt von einer Tante aus Brüssel. Mein Onkel war dort portugiesischer Konsul.«
»Was geschieht jetzt mit Norina?« Gebbhardt strich mit beiden Händen übers Gesicht. »Ich bin nicht hier, um Ihr Sofa zu bewundern.«
»Es würde Ihnen besser zu Gesicht stehen, Senhor.« Der Oberst lächelte schief. »Norina Samasina wartet auf ihre Aburteilung.«
»Sie hat nichts getan. Gar nichts.«
»So wenig wie Sie auf einen Menschen schießen können?«
»Ebensowenig!«
»Das zu entscheiden ist Sache eines Sondergerichts.« Der Oberst hielt Gebbhardt ein Glas hin. Gierig griff er danach und trank es in langen Schlucken aus. Eisgekühlter Fruchtsaft, bittersüß erfrischend.
»Und Dr. Santaluz?«
»Auch so harmlos, was?« Der Oberst ging zum Fenster zurück. »Der Prozeß findet übermorgen statt. In Gruppen zu zehn. Wir haben einhundertzweiunddreißig Rebellen gefangen.«
»Einhundertzweiunddreißig von zweitausend«, sagte Gebbhardt leise.
»Wir hoffen, bis zum Abend fertig zu sein.« Der Oberst setzte sich wieder in den Korbsessel. »Am längsten dauert die Prozeßeröffnung mit den sieben Hauptangeklagten. Paulo Alegre war Ihr bester Mann, nicht wahr, Senhor?«
Die Frage kam plötzlich, wie ein Schuß aus dem Hinterhalt. Gebbhardt nickte. Noch ein Glas Saft, dachte er. Ich verbrenne innerlich.
»Ja. Es gab nichts, was er nicht konnte.«
»Das stimmt.« Der Oberst lachte trocken. »Das haben wir gemerkt. Er ist der einzige, der entkommen konnte. Wir haben jeden Toten dreimal umgedreht, aber er war nicht darunter. Nun, ein Kerl wie er fällt auf. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Kann ich Norina sehen?« fragte Gebbhardt mit trockener Kehle. »Mit ihr sprechen?«
»Als Entschädigung für Ihre Mißhandlung … ausnahmsweise.« Der Oberst füllte das Glas. Er reichte es Gebbhardt, der tappend zum Fenster kam, und steckte sich eine Zigarette an. »Aus Rio habe ich gehört, daß im Einvernehmen mit der deutschen Botschaft und Ihrer Firma in Deutschland Ihre Ausreise in der nächsten Woche – am Mittwoch – erfolgen soll. Sie erhalten ein Jahresgehalt als Abfindung.«
»Irrtum, Oberst.« Gebbhardt lehnte sich an die Wand und umklammerte mit beiden Händen das Glas. »Ich bleibe bei Norina.«
»Das wird Schwierigkeiten machen, Senhor.« Der Oberst nahm Gebbhardt das Glas ab, wie man einem ungezogenen Kind ein zerbrechliches Spielzeug entwindet. »Die Hinrichtungen sind auf Montag früh sechs Uhr angesetzt.«
Die kleine Zelle war feucht und muffig, von Schimmelgeruch durchzogen. Sie lag unter der Erde und hatte weder ein Fenster noch eine Entlüftung. Der Boden war aus Lehm, die Wände bestanden aus groben Steinen, und oben an der Decke, ungreifbar hoch, befand sich eine einsame schwache Glühbirne. Die eiserne Tür rostete in dieser Moderluft, und als sie jetzt aufgeschlossen und geöffnet wurde, knirschten die Scharniere mit einem Laut, der bis in die Knochen drang.
Norina saß auf dem rohgezimmerten Holzbett und blickte auf die zurückschwingende Tür. Sie hatte die Haare zusammengeknotet und wirkte völlig ruhig. Nur ihre Finger, die sich um den Rand des Bettes krallten, verrieten, mit welcher ungeheuren Willenskraft sie ihre Angst verbarg.
Jetzt kommen sie, dachte sie. Jetzt holen sie mich. Ohne Gerichtsverhandlung, ohne Urteil. Sie scheuen sogar die Worte unserer Verteidigung. Wie werden sie mich umbringen? Erschießen? Hängen sie mich auf? Vergiften sie mich? Wie tötet ein Militärtribunal eine Frau?
Ein Soldat betrat als erster die Zelle. Er grüßte – das verwunderte Norina – und stellte sich neben der Tür auf. »Sie bekommen Besuch, Senhorita«, sagte er steif. »Eine Viertelstunde.«
»Ich will niemanden sehen. Ich habe nichts mehr zu sagen.« Norina schüttelte den Kopf. »Laß ihn draußen!«
Dann schwieg sie plötzlich. Sie verstummte jäh beim Anblick des Mannes, der fast in die Zelle stürzte. Der Soldat trat auf den Flur und schloß die Tür.
»Norina …«, sagte Gebbhardt tonlos. »Mein Gott, Norina … was haben sie mit dir vor?«
»Warum bist du gekommen, Carlito?« Sie stand auf. Mit einem Seufzer umarmten sie sich und hielten sich dann umfangen, als sollten sie so miteinander verschmolzen werden. »Die Erinnerung war viel schöner als diese Gegenwart.«
»Am Sonnabend ist der Prozeß.« Gebbhardts Stimme schwankte. »Ich habe alles versucht. Eine Stunde lang habe ich mit der deutschen Botschaft in Rio telefoniert. Sie können uns nicht helfen. Es sei eine innerbrasilianische Angelegenheit, sagen sie. Ich soll mich da raushalten als Deutscher. Aber ich gebe nicht auf.«
»Was willst du denn sonst noch tun, Carlito?« Sie küßte ihn, und es war, als tröste sie jetzt ihn. »Sie machen also doch einen Prozeß? Das beruhigt mich. Es wäre schrecklich gewesen, einfach in aller Stille liquidiert zu werden. Alle sollen hören und sehen, mit welchem Stolz wir sterben können.«
»Das ist alles, woran du denkst?«
»Denken?« Sie streichelte sein zuckendes Gesicht und schaute an ihm vorbei auf die tropfnasse, schimmelnde Wand. »O nein … in Gedanken bin ich in einer ganz anderen Welt. Gedanken und Träume sind etwas Herrliches, wenn man weiß, daß sie Phantasien bleiben, mit denen man sich umhüllen kann wie mit königlichen Gewändern. Weißt du, was ich sehe? Ein Haus irgendwo in einem friedlichen Land. Ein berühmter Konstrukteur, eine Frau, und zwei, drei Kinder, die meine Augen und deinen Mund haben. Eine glückliche Familie in einer paradiesischen Welt …«
»Norina«, stammelte er. »Es hätte so sein können, vor zwei Tagen noch … wir hatten die Chance.«
»Nein.« Sie legte den Kopf an seine Brust und umschlang ihn mit beiden Armen. »Wir hatten nie diese Chance. Es war immer nur ein Traum. Wenn wir uns vor einem halben Jahr begegnet wären, in Rio oder Brasilia … damals vielleicht. Aber als ich mit Santaluz bei euch im Lager eintraf, gab es kein Zurück mehr. Ich hatte meinen Auftrag, und alles, was jenseits dieses Auftrages lag, blieb Sehnsucht.« Sie hob den Kopf, ihre schwarzen Augen glänzten, und zum erstenmal sah Gebbhardt, daß sie weinte. »Du hättest nicht kommen sollen«, sagte sie leise. »Jetzt machst du mir das Sterben schwer.«
»Du bist noch nicht verurteilt.« Montag, sechs Uhr früh, beginnen die Hinrichtungen, dachte er. Zwei Tage nur noch, davon ein Tag mit einem lächerlichen Prozeß. Eine Gerichtsverhandlung, um den Schein des Rechts zu wahren, dabei lagen die Urteile schon fertig vor. Was kann man in zwei Tagen tun?
An der eisernen Tür klopfte es einmal von außen. Sie zuckten zusammen und umklammerten sich wieder. Die Zeit rannte ihnen davon. Was ist eine Viertelstunde beim Abschied für immer?
»Geh«, sagte Norina tapfer. Sie wischte ihre Tränen an Gebbhardts Jacke ab und lächelte ihn an. »Dreh dich nicht um, wenn du hinausgehst. Ich will deine Augen nicht mehr sehen. Bitte.«
»Ich hole dich hier heraus!« sagte Gebbhardt heiser. »Ich werde heute noch nach Rio fliegen und –«
»Sie werden dich nicht weglassen, Carlito.« Die Tür ging kreischend auf. Der Soldat steckte den Kopf in die Zelle. Er winkte, und Norina nickte ihm zu.
»Leb wohl, mein Liebling«, sagte sie. »Unser Schicksal teilen wir mit vielen. Es wird immer Männer und Frauen geben, die das Schicksal auseinanderreißt.« Mit einem Ruck entzog sie sich ihm, stieß ihn mit beiden Fäusten von sich und lief zu ihrer Pritsche. »Und nun geh endlich!« schrie sie. »Geh!«
Gebbhardt wollte noch etwas sagen, aber der Soldat zog ihn an der Jacke aus der Zelle. Er taumelte in den Gang, die Tür fiel zu, und der Riegel schob sich quietschend in die Halterung. »Noch eine Minute«, bettelte Gebbhardt wie ein Kind. »Eine einzige Minute. Bitte.«
Der Soldat blickte ihn abweisend an. »Sie werden erwartet, Senhor«, sagte er und machte ein Zeichen. Gebbhardt fuhr herum. Hinter ihm stand eine lange dürre Gestalt in einer schwarzen, bodenlangen Soutane. Ein junges Gesicht, sehr ernst und trotz seiner Jugend wie ein verwitterter Stein.
»Pater de Sete«, sagte der Priester.
Ober Gebbhardts Rücken zogen eisige Schauer. Der Priester für den letzten Gang. Welch ein Hohn. Man tötete und hielt dabei das Kreuz hoch.
»Ist das wirklich Gottes Wille?« fragte Gebbhardt hart. »Können Sie darauf eine Antwort geben, Pater?«
»Ja.« Pater de Sete wies den Gang hinunter. »Bitte, begleiten Sie mich nach draußen. Ich habe mit Ihnen zu reden.«
Aber es klang nicht wie eine Bitte, es hörte sich eher wie ein Befehl an. Verwundert folgte Gebbhardt dem Priester. Sie gingen den Gang hinunter und stiegen die gemauerte Treppe hinauf ans Licht.
Paulo Alegre hatte Brasilia erreicht.
Man frage nicht danach, wie er es schaffte. In ihm war alles Menschliche gestorben, und er zog seinen Weg wie ein reißendes Tier. Er war durch den Urwald geflüchtet, hatte in der Nacht im ehemaligen Hauptlager ein Motorrad gestohlen, erreichte mit ihm Ceres, hielt auf der Straße einen Autofahrer an, zog ihn vom Sitz, erwürgte ihn und fuhr mit dem Wagen weiter nach Brasilia.
Was er tat, erreichte gar nicht mehr sein Bewußtsein. Wie eine Vision, die vor ihm her schwebte und ihn mitriß, sah er immer nur die Sekunde, in der Aljas Körper im Feuerstrahl des Flammenwerfers zerschmolz und ihr Gerippe bläulich aufleuchtete. Dieses Bild allein blieb vor seinen Augen, und alles, was sich ihm in den Weg stellte, zerstampfte und zerstörte er wie eine unaufhaltsame Maschine, die keiner Schaltung mehr gehorchte.
So erreichte er Brasilia, und so stand er drei Tage später, ohne sich eine einzige Stunde ausgeruht zu haben, vor dem riesigen, aus Glas, Stahl, Beton und Mahagoniholz gebauten Komplex des Kaufhauses Orgulho de Brasilia und blickte an der hohen Fassade empor.
Dort oben, in einem Penthouse, wohnt Hermano Santos Bolo, dachte er. Der große Senhor Bolo, dort oben haust er wie ein unangreifbarer Adler. Wissen Sie, Senhor Bolo, daß nichts auf der Welt unangreifbar ist? Nicht für einen Paulo Alegre.
Er senkte den Kopf und rieb sich mit beiden Händen das breite Gesicht. Aber auch als er die Augen schloß, blieb das Bild vor ihm. Aljas leuchtendes Gerippe im Feuerstrahl des brennenden Öls …
Er seufzte, ließ die Arme fallen und starrte wieder hinauf zum Dach des Kaufhauses. Vom Sims flatterten fröhlich bunte Fahnen, hinter den blinkenden Fenstern der neun Etagen krabbelten die Menschen wie große Ameisen umher.
Langsam setzte sich Paulo Alegre in Bewegung. Er durchschnitt den kühlenden Luftvorhang des Einganges, wurde von der Menge der einkaufenden Menschen mitgetrieben, suchte den Fahrstuhl und wartete, bis er herunterkam und die breite Tür sich öffnete.
»Ganz oben«, sagte Alegre dumpf, als der Fahrstuhlführer ihn hereinließ. Der Uniformierte nickte höflich.
»Glas, Porzellan, Teppiche, Gardinen, Geschenkartikel …«
»So ist es.« Alegre lehnte sich an die polierte Fahrstuhlwand. »Ich muß etwas verschenken.«
Lautlos glitt die Kabine nach oben.