10

Nur zehn Minuten kam der Jeep mit den Polizisten, die ihren Chef suchten, zu spät. Dr. Santaluz hatte sie losgejagt. »Sucht ihn«, hatte er gerufen. »Wir haben keine Zeit für private Kriege. Er soll sofort zurückkommen.«

Was Piraporte gesagt hatte, war endlich von einer versteckten Funkstation durchgegeben worden: Die anderen Gruppen im Land existierten nicht mehr. Die Männer an der Straße in die Hölle standen allein. Zweitausend Menschen, Männer und Frauen, abgeschnitten von allem, allein auf einer halbfertigen Urwaldstraße, noch singend vor Begeisterung und sich damit selbst betäubend, sollten unter Ausschluß der Öffentlichkeit liquidiert werden.

Noch wußten sie es nicht, noch glaubten sie alle an die große Revolution, an den Vulkan ihrer Heimatliebe.

»Was werden Sie tun, Doktor?« fragte Gebbhardt niedergeschlagen.

»Kämpfen«, schrie Norina Samasina wild. »Glaubst du, die kennen Erbarmen, wenn wir mit weißen Tüchern winken?«

»Ich werde ihnen entgegenfahren und verhandeln«, sagte Gebbhardt.

»Man wird Sie anhören, belügen und uns trotzdem vernichten.« Santaluz schüttelte den Kopf. »Uns stehen knapp vierhundert Mann gegenüber. Wir werden sie überrennen und uns dann im Land verteilen. Wir werden überall neue Gruppen bilden, bis uns der große Sieg gelingt.« Santaluz deutete auf die riesigen Sperren. »Sie können immer noch gehen, Carlos.«

»Es wäre das Beste, wenn wir alle gingen, jeder an seinen Arbeitsplatz. Wenn jeder von uns seine Arbeit verrichtet, wenn das Militär heranrückt, so, als wäre nichts geschehen, dann wäre es zwar eine Demonstration, aber niemand könnte auf uns schießen.«

»Zu spät, Carlos.« Santaluz wies mit einer Kopfbewegung auf die Männer, die vom Basislager gekommen waren: Die Transportfahrer, die Werkstättenarbeiter, die Kantinen-Kellner, die Huren, das ganze Menschengemisch der Etappe. »Sie haben aufgeräumt. Sie haben alle umgebracht, die einmal zu Luis Jesus Areras gehörten.« Und als Gebbhardt ihn entsetzt und stumm vor Grauen anstarrte, nickte er. »Die Leidenschaft der Revolution: Blut! Wer hätte das verhindern können? Niemand.«

Über die Straße jagte ein Melder auf einem Motorrad heran. Ein Mestize. Er stoppte vor den ineinander verkeilten Wagen, sprang vom Rad, ließ es auf dem Boden liegen und kletterte über die Sperren. Ein Gewirr von Händen half ihm. »Sie kommen!« schrie er dabei. »Sie kommen! Sie haben vier leichte Kanonen bei sich. In einer halben Stunde könnt ihr sie sehen. Es sind knapp hundert Mann. Fallschirmjäger!«

»Eine halbe Stunde.« Santaluz sah auf die Uhr. »Bis dahin wird auch Bandeira wieder zurück sein. Nur hundert Mann? Sie unterschätzen uns.«

Er wandte sich schroff ab und ging hinüber zu den Barrikaden. Gebbhardt blickte ihm nach und hielt Norina fest, die ihm folgen wollte.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Von einer großen Idee, von aller Liebe zu seinem Land sind ihm leere Hände geblieben und ein Haufen johlender Mörder. Wir sollten ihn überreden. Man könnte sich durch den Urwald bis zur nächsten Siedlung schlagen und sich dort verstecken. Er … du … und ich.«

»Er würde es nie tun.« Sie hob die nach Gewehröl riechende Hand und streichelte ihm übers Gesicht. »Aber ich danke dir, Carlito, daß du gesagt hast: Er, du und ich.« Sie schob den Stahlhelm tiefer in die Stirn und hakte die Finger um den Patronengurt, der zweimal ihre schlanke Taille umgürtete. »Ich liebe dich … und jetzt halte den Mund, oder ich schieße auf dich.«

Die erste Gruppe der Fallschirmjäger hielt in Sichtweite der Straßensperren an. Gejohle und wilde Schreie empfingen sie, und dann begann einer zu singen. Nacheinander fielen alle ein, und schließlich sangen sie gemeinsam aus vollem Hals das Lied der Revolution: Faßt euch bei den Händen, seid Brüder in der Not …

Dr. Santaluz stand mit Gebbhardt und Norina zwischen den aufgeschichteten Stämmen der Urwaldriesen und blickte durch ein Fernglas zur Kette der Fallschirmjäger hinüber. Sie hatten die vier leichten Geschütze mit ihren Spreizlafetten in Stellung gebracht, nicht ahnend, daß die Revolutionäre auch Granatwerfer besaßen, mit denen sie die Kanonen erreichen konnten. Es kam nur darauf an, wer zuerst das Feuer eröffnete.

»Sie wissen, daß sie hier nicht durchkommen«, sagte Santaluz ruhig. »Auch nicht mit ihren Kanonen. Sie können die Wagen und Maschinen zusammenschießen, aber dadurch wird der Wall nur noch dichter.«

»Und Sie wissen, daß Sie hier nicht mehr herauskommen.« Gebbhardt mußte schreien, um gegen den fanatischen Gesang der Menge anzukommen. »Was hat mehr Sinn?«

Durch das Gewirr der Stämme, Dornenbüsche und Baumaschinen kletterte Alegre zu ihnen. Sein breites Gesicht, schweißglänzend und verdreckt, war wie eine wüste Fratze. »Sie haben Bandeira gebracht«, rief er Santaluz zu.

»Gebracht?« Santaluz umklammerte mit beiden Händen das Fernglas.

»Ihn und Piraporte. Sie haben sich gegenseitig umgebracht.«

»Worauf warten Sie noch?« Gebbhardt packte Santaluz an beiden Schultern. »Das ist Ihre Chance, Doktor. Verhandeln Sie mit dem Militär. Es ist zwar schäbig, aber jetzt haben Sie die Möglichkeit, alles auf Bandeira abzuschieben. Und wenn Ihnen Ihr Leben selbst nichts wert ist, dann denken Sie an die anderen. An die Frauen hier, an die Väter … an … an Norina.«

Santaluz atmete auf. Alegre war zurückgeklettert und brüllte über das Megaphon das Revolutionslied mit. Es war wie ein Rausch, der über die Menschen gekommen war, wie ein alles betäubender Wahnsinn, der jede Vernunft niederwalzte. Sie lagen, hockten, standen in der vierfachen Sperre, hingen an den Baumaschinen, Kränen und Räumern, schwenkten Fahnen, vom Körper gerissene Hemden oder irgendwelche Fetzen. Sie sangen und grölten, und ihre Gesichter waren verzerrt vom übermächtigen Triumph.

Santaluz deutete mit beiden Armen auf die Menge. »Können Sie das noch aufhalten, Carlos?« fragte er. »Überzeugen hier noch Worte? Der Vulkan ist ausgebrochen. Er muß sich austoben, bis er von selbst zusammenbricht.«

»Und die Toten, die es geben wird?« schrie Gebbhardt zurück.

Der Arzt hob die Achseln. »Sie sind in einer Stimmung, in der es keine Todesangst mehr gibt. Man kann auch aus Begeisterung sterben. Das werden die Europäer nie begreifen.«

Über die Straße näherte sich ein Jeep den Barrikaden. An einer Holzstange flatterte ein weißes Tuch. Ein Offizier und ein Fahrer saßen im Wagen und hatten um ihre Helme ebenfalls weiße Binden gebunden.

»Laßt sie nur rankommen!« brüllte Alegre durch sein Megaphon. »Nicht schießen! Hört euch an, was die Scheißkerle zu sagen haben.« Dann schwenkte er das Megaphon zur Straße und schrie zum Jeep hinüber. »Zehn Meter vor uns halten! Wir schicken eine Delegation zu euch. Und keine Tricks, ihr Arschlecker der Regierung.«

Der Jeep bremste. Aus dem Wagen stieg der Oberst des Bataillons und musterte die gewaltigen Sperren. Sie zu stürmen war absoluter Wahnsinn, selbst nach Artillerievorbereitung. Aber ein ebenso großer Irrsinn war es, sich dahinter sicher zu fühlen.

Das Singen und Gegröle ließ nach. Plötzlich war es still. Und mit der Stille kam die Vernunft zurück, und es kam die Erkenntnis, daß jetzt die Stunden oder Tage der Leiden begannen.

Paulo Alegre stand schon auf der Straße und ging langsam dem Obersten entgegen. Dabei streckte er die Hände vor, um zu zeigen, daß er waffenlos war. Dann standen sie sich gegenüber, sprachen miteinander und trennten sich sehr schnell. Mit wiegenden Schritten kam Alegre zurück.

»Das war aber kurz«, sagte Gebbhardt ahnungsvoll. »Haben Sie gesehen, der Offizier hat Paulo einen Zettel überreicht.«

»Ein Ultimatum sicherlich.« Santaluz lächelte bitter. »Ultimative Forderungen sehen nur einen Sieger und einen Besiegten vor. Carlos, es wird die von Ihnen ersehnten Verhandlungen nicht geben.«

Alegre war zu Santaluz hinübergeklettert und reichte ihm den Zettel. »Es ist ein Oberst«, sagte er dabei. »Ein arrogantes Schwein. Sagt zu mir: ›Hier, gib das deinem Verführer. Mehr habe ich ihm nicht zu bestellen.‹ ›Gut‹, sage ich, ›und ich soll Ihnen bestellen, daß Ihre Jungs vorsichtig sein sollen. Jeder, der über die Barrikade kommt, wird von uns kastriert!‹« Alegre grinste breit. »War's so richtig, doutôr

»Völlig richtig«, sagte Santaluz müde. Er faltete den Brief auseinander und begann ihn laut vorzulesen: »Mit Rücksicht darauf, daß die Mehrzahl der Aufständischen die wahre Lage nicht überblickt, sind wir im Namen der Regierung bereit, eine Generalamnestie für alle zu erlassen, die sich bis heute abend acht Uhr bei uns einfinden. Unsere Bedingung ist, daß sich folgende Personen mit allen Konsequenzen ergeben: Dorias Bandeira, Dr. Stefano Santaluz, Paulo Alegre, Norina Samasina, Felipe Pavao, Carlo Dulcao, Pedro Almareia.« Dr. Santaluz ließ den Brief sinken. »Es folgen noch siebzehn Namen. Soll ich sie vorlesen? Es besteht kein Zweifel: Die Liste stammt von Piraporte.«

»Sie sollen zwei haben!« knirschte Alegre. Er riß Santaluz den Brief aus der Hand und zerfetzte ihn. Gebbhardt starrte Norina an. Ihr herrliches Gesicht war hart und völlig gelassen. Sie stand auf der Liste der Personen, die sich bedingungslos ergeben sollten. Bedingungslos … was das hieß, brauchte nicht erklärt zu werden.

»Glauben Sie immer noch an Verhandlungen, Carlos?« fragte Dr. Santaluz ruhig. Er blickte Alegre nach, der knurrend über die Barrikaden kletterte und im Gewirr der Baumaschinen verschwand. »Erwarten Sie, daß wir wie Schafe zur Schlachtbank trotten? Im Urwald gibt es keine Genfer Konvention, die den Krieg zu vermenschlichen versucht. Hier wird gerächt und getötet, weiter nichts.«

Vor ihnen, in der ersten Reihe der Sperre, wo die Lastwagen, der umgestürzte Omnibus und ein Greiferbagger standen, begann ein Bagger sich zu bewegen. Sein stählerner Arm hob sich, schwenkte weit hinaus auf die Straße und senkte sich dann wieder. Einen Meter über dem Boden öffneten sich die Stahlzähne des Greifers und zwei Körper stürzten heraus, klatschten auf die Straße und bildeten ein schreckliches Knäuel aus Armen und Beinen.

Bandeira und Piraporte.

»Die beiden kommen freiwillig!« brüllte Alegre durch sein Megaphon. »Die anderen müßt ihr euch holen.«

Der Oberst warf einen Blick auf die Leichen, wandte sich schroff ab und stieg in den Jeep. Das Fahrzeug wendete und fuhr schlingernd auf dem löchrigen Boden davon. Ein tausendstimmiger Aufschrei begleitete ihn. Dann sangen sie wieder, schwenkten die Fahnen und Hemden, und von den riesigen grünen Mauern des Urwalds prallten die Töne zurück wie gewaltige Wogen:

»Faßt euch bei den Händen, seid Brüder in der Not …«

»Komm«, sagte Norina ruhig und ergriff Gebbhardts Hand. »Komm mit.« Es war eine nüchterne und doch ergreifende Liebeserklärung. »Ich will dich noch einmal spüren. Um acht Uhr beginnt das Sterben.«

Sie saßen nebeneinander auf dem Bett und rauchten ihre letzte Zigarette. Gebbhardt wehrte sich gegen diesen Gedanken, aber Norina hatte ihn ausgesprochen, als wäre das Sterben so etwas wie Teetrinken oder der Kauf eines Brotes in der Kantine. Ihre Stimme veränderte sich nicht dabei, während sich Gebbhardts Kopfhaut zusammenzuziehen schien und Übelkeit ihm das Atmen zur Qual machte. Ich bin eben kein Held, dachte er. Ich bin ein total normal empfindender Mensch, der Angst vor dem Sterben hat. Nicht einmal vor meinem eigenen Tod – der scheint mir gar nicht so schrecklich, aber der Gedanke, daß Norina in der nächsten Stunde hier auf dem Urwaldboden verbluten wird, bringt mich um den Verstand. Warum hat sie keine Angst? Sind diese Menschen wirklich so anders als wir? Mein Gott, sie ist doch eine Frau – die herrlichste Frau, die ich je gesehen habe, eine Frau so prall voll Leben und Liebe, daß der Gedanke an den Tod sie eigentlich niederschmettern müßte. Aber was tut sie? Völlig ruhig sitzt sie da und raucht ihre Zigarette, streichelt mit der Hand über meinen Schoß und sagt: »Carlito, bei dir war ich wirklich glücklich. Was ist Glück? Man kann das nicht erklären. Es ist so viel, daß es dafür keine Worte gibt.« Und dann raucht sie ruhig weiter und wartet auf das Signal von den Barrikaden.

Brüder und Schwestern … es lebe Brasilien!

Es war eine ungemein zärtliche Liebesstunde gewesen, die hinter ihnen lag. Nicht die wilde Leidenschaft der ersten Begegnung, nicht die Unersättlichkeit, die ihn atemlos machte, nicht die faszinierende Mischung aus Animalischem und der aufgebrochenen Seele einer von der Liebe fast hypnotisierten Frau. Die so schnell verronnenen Stunden, die letzten Stunden, waren ganz eingebettet in die Ruhe zweier Liebenden, die ihre Körper genossen, wie man einen schweren Wein trinkt – verklärt, die verborgensten Feinheiten aufspürend und auskostend, genießend bis zum Überschwang, ohne Hast, ohne selbstzerstörerische Unkontrolliertheit. Zwei Menschen, restlos erfüllt vom Glücksgefühl.

Noch einmal hatten sie die kleine Bauhütte Gebbhardts aufgesucht, das schmale Feldbett, staubig und knirschend, umgeben vom fauligen Dunst heißer, angestauter Urwaldluft.

»Lauf doch weg«, hatte Norina gesagt, als sie nebeneinander lagen und ihre schweißbedeckten Körper noch zusammenklebten. »Mein Liebling, lauf einfach weg. Bitte, lauf weg! Sie werden nicht auf dich schießen. Wenn du mich liebst, lauf weg.«

»Nur mit dir zusammen, Norina.«

Sie hatte ihn nur kurz angeblickt. Nach einer Weile setzte sie sich auf und griff nach den Zigaretten, die auf dem Tisch lagen. »Reden wir nicht mehr darüber«, sagte sie und schob ihm die brennende Zigarette zwischen die Lippen.

Nun saßen sie auf dem Bett, starrten auf den schmutzigen Dielenboden, rauchten stumm und hatten keine Worte mehr. Was sollte man jetzt noch sagen? Es war alles sinnlos … das Leben wie das Sterben.

Der Schuß kam plötzlich, ohne vorherige Warnung. Dumpf hörten sie irgendwo den Abschuß, dann orgelte es hell durch die Luft und schlug zwischen dem Wall der aufgefahrenen Maschinen ein. Der grelle Knall des Aufschlags fiel mit dem nervenzerreißenden Kreischen berstenden Metalls zusammen.

Norina sprang auf. Gebbhardt umschlang sie und hielt sie fest. Ihr nackter Körper straffte sich, und er spürte, wie sich ihre Muskeln unter seinen Fingern verhärteten. »Sie fangen an!« sagte sie.

»Artillerie! Das war eine Granate, Norina. Was wollt ihr Wahnsinnigen denn gegen Panzergeschütze ausrichten? Sie schießen euch aus sicherer Entfernung zusammen.«

»Aber nicht diese Barrikaden.«

»Auch diese Barrikaden. Verdammt noch mal, sie haben doch Zeit. Sie werden euch mit Trommelfeuer eindecken. Sie werden Munition heranschaffen. Sie können euch eine Woche, einen Monat lang beschießen, bis die Gegend hier nur noch aus Granattrichtern besteht. Es bleibt euch kein Ausweg außer dem Tod.«

»Dann werden wir eben sterben. Carlito, laß mich! Wenigstens angezogen will ich dabei sein.«

Sie riß sich von ihm los, schlüpfte in ihre engen Jeans und die Feldbluse, die sie mit den Waffen empfangen hatte, band ihr langes schwarzes Haar auf dem Kopf zu einem Knoten zusammen und stülpte den Helm drüber. Dann holte sie ihre Maschinenpistole aus der Barackenecke und sah den noch immer nackt auf dem Bettrand hockenden Gebbhardt an.

»Bleib hier«, sagte sie ruhig. »Auf dem Dach weht ein großes weißes Handtuch. Dr. Santaluz hat es aufstecken lassen, während wir uns liebten. Dir wird nichts geschehen. Aber komm nicht heraus.« Sie ging rückwärts zur Tür und schob die MP vor ihre Brust. »Carlito, bleib hier sitzen. Wenn du dich vorn an den Barrikaden blicken läßt, schieße ich dich ins Bein und lasse dich zurücktragen. Du sollst leben, Carlito. Leb wohl.«

»Norina!« Sein Aufschrei hallte durch die enge Baubude, und er erschrak vor seiner eigenen Stimme. Er sprang auf, aber Norina hatte bereits die Tür aufgerissen und rannte davon. Die Schreie von Verwundeten waren zwischen den Detonationen zu hören. Der Boden zitterte, als zöge er sich frierend zusammen. Durch die offene Tür sah Gebbhardt, wie ein riesiger Urwaldbaum zerfetzt wurde, als eine Granate in halber Höhe seinen mächtigen Stamm traf und explodierte. Ein Regen aus Holz, Ästen und glühenden Splittern prasselte auf die Männer an den Barrikaden nieder.

Die ersten Verwundeten und Toten wurden zu den Lazarettzelten getragen. Man behandelte die Verletzten nicht. Man legte sie nebeneinander auf den Boden, und dann rannten die Träger zurück zu den Sperren.

Gebbhardt zog sich schnell an und wartete einen Moment ab, in dem die Granaten nicht in allzu dichter Folge einschlugen. Dann rannte auch er los, nahm einem Toten vor dem Lazarettzelt Helm und Maschinenpistole ab und hetzte zu den Barrikaden. Im Gewirr aus zerrissenem und verbogenem Stahl, das von dem großen Bagger übriggeblieben war, traf er auf Paulo Alegre. Er lag in einem flachen Granattrichter, unkenntlich vor Dreck – unverkennbar waren nur die gewaltigen Maße seines Körpers. An seiner Seite, klein und schmal, lag Alja. Gebbhardt plumpste neben Alegre in den Trichter und fiel in eine gelbliche Brühe.

»Was wollen Sie denn hier, Senhor Carlos?« brüllte Alegre. »Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

»Wer befiehlt hier, Paulo?« schrie Gebbhardt zurück. »Wer ist der Chef der vorderen Baukolonnen?«

»Es gibt keine Kolonnen mehr, es gibt nur noch Brasilianer. Das hier ist unsere Sache. Das geht euch Deutsche gar nichts an. Weg mit Ihnen … und nehmen Sie Alja mit. Das Weibsbild ist verrückt. Sie klebt an mir und läßt sich nicht abschütteln.«

»Wagen Sie nicht, mich anzufassen, Senhor«, sagte Alja. Sie drehte sich etwas zur Seite. Ihr sonst so rührendes Kindergesicht hatte an den Mundwinkeln scharfe Falten bekommen.

»Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll«, stöhnte Alegre. »Ich kann sie doch nicht besinnungslos schlagen.«

»Auch das hilft nichts. Ich wache ja wieder auf und komme dann zurück. Du mußt mich schon umbringen.«

»Das besorgen schon die andern.« Gebbhardt duckte sich. Eine neue Granatenwelle rauschte heran, zerschlug die Barrikaden, wirbelte Menschenkörper durch die Luft, entfachte neue Schreie, zerhieb die Deckungen. »Das ist doch Wahnsinn!« schrie Gebbhardt.

»Wahnsinn! Wo ist Norina?«

»Bei Santaluz, irgendwo da vorn.«

Hinter den umgekippten Omnibussen begannen nun die Granatwerfer der Aufständischen zu blaffen. Eine armselige Gegenwehr, einer Faust vergleichbar, die gegen den Stahl der Panzer klopfte. Gebbhardt zog die Beine an, um aufzuspringen. Alegre drückte ihn mit seinen breiten Tatzen in den schlammigen Trichter zurück.

»Sie wollen doch nicht etwa hin?« brüllte er.

»Natürlich!«

Eine neue Serie von Granaten beendete das Gespräch. Gleich darauf hämmerten aus der vorderen Barrikade drei Maschinengewehre los. Alegre sprang auf. Als Gebbhardt ihm folgen wollte, gab er dem Deutschen einen Fußtritt in den Rücken.

»Liegenbleiben! Sie greifen an. Endlich bekommen wir sie vor die Mündung. Die sollen sich wundern.«

Er rannte geduckt davon, zwischen den Eisentrümmern hindurch, um brennende Holzstapel herum. Nur eine Sekunde zögerte Alja, dann schnellte sie wie eine Katze aus dem Trichter und huschte Paulo Alegre nach.

Gebbhardt erhob sich langsam. Alegres Tritt hatte ihn fast gelähmt. Es war, als habe ihm ein Stier die Wirbelsäule zerstampft. Taumelnd machte er sich dann auf den Weg, lief Alegre nach und ließ sich nach wenigen Schritten hinter einen dicken Baumstamm fallen, als ihn Gewehrkugeln umzischten.

Die Fallschirmjäger griffen an. Wie im Manöver liefen sie einen schulmäßigen Sturmangriff, vorweg die Panzer und in ihrem Schutz, geduckten Laufs, die Männer in den grünbraun gefleckten Tarnuniformen.

Am ersten Barrikadenriegel blieb der Angriff stecken. Bandeira und Dr. Santaluz hatten die Sperren richtig eingeschätzt. Je mehr man sie zerschoß, um so unüberwindlicher wurden sie für die Fallschirmjäger und selbst für die Panzer. Die Baumaschinen bildeten einen gewaltigen Wall aus zerfetztem Eisen, der auch die Panzer aufspießen würde. Es wäre sinnlos gewesen, hier zu stürmen.

Noch einmal hieben die Granaten nun in direktem Beschuß zwischen die Barrikaden. Dann gab es Stellungswechsel. Die Fallschirmjäger zogen sich zurück und kletterten in sicherer Entfernung auf die stählernen Ungetüme. Ein Granatwerfergeschoß traf einen Panzerturm und fegte die dort aufgesessenen Soldaten zur Erde. Schwarzer Qualm quoll aus dem Panzer. Ein Zufallstreffer.

In den Barrikaden jubelten und grölten die Arbeiter. Dann sangen sie wieder ihre wilden Freiheitslieder. Es war für sie eine Befreiung von dem inneren Druck und der Todesnähe, aus der sie jetzt für kurze Zeit gerettet waren.

Gebbhardt schwankte zurück zum fahrbaren Lazarett. Dr. Santaluz, vier Sanitäter und Norina hatten die Arbeit aufgenommen. Wie auf einem Fließband schob man die Verwundeten zu ihnen hin. Santaluz arbeitete mit bloßem Oberkörper, das Gesicht mit Dreck und Blut verschmiert. Nur seine Hände hatte er gewaschen und in eine sterilisierende Lösung getaucht. Den meisten Verwundeten war nicht mehr zu helfen. Bei denen, deren Tod sicher war, nickte er nur. Ein Sanitäter gab ihnen einen Injektion aus einer großen Spritze. Gebbhardt sah es mit hellem Entsetzen. Er hielt sich an einer Zeltstange fest. Alegres Fußtritt paralysierte ihn noch immer.

Er hat mir einige Nerven eingequetscht, dachte Gebbhardt. Wie lange dauert es wohl noch, bis ich ganz gelähmt bin? »Ist das ärztliche Kunst?« sagte er matt.

Dr. Santaluz sah ihn fragend an. »Was?«

»Diese Todesspritze?«

»Sie ist eine Gnade, eine Erlösung.«

»Aus Ihrer Sicht. In Wirklichkeit schließt sie nur Ihren Wahnsinn ab, diesen Kampf zu führen!«

»Es bleibt uns keine andere Wahl, Senhor Carlos.« Santaluz schnitt eine breite Wunde nach und holte einen Granatsplitter aus einem Oberschenkel. Dann wurde der Verwundete weitergeschoben zum ersten Sanitäter, der die Wundversorgung fortführte. Neben Santaluz, an einem anderen Tisch, arbeitete Norina. Ihre langen schlanken Hände waren bis zur Mitte der Unterarme blutig. Wie Santaluz arbeitete auch sie ohne Handschuhe. Wozu brauchte man jetzt noch einen Gummischutz? Sie sah Gebbhardt nicht an, aber er wußte, daß sie auf jedes Wort achtete.

»Glauben Sie jetzt noch an die Möglichkeit einer ehrenhaften Kapitulation?« fragte Santaluz.

»Ja«, antwortete Gebbhardt.

»Wie wenig kennen Sie die Wahrheit. Man wird sie uns versprechen, und wenn wir mit hochgehobenen Armen herauskommen, schießt man uns ab wie Hasen. Wen kümmert das? Wer erfährt das? Wer regt sich darüber auf? Die sogenannte Welt? Der ist es doch gleichgültig, was hier mitten im Urwald passiert. Proteste? Die UNO? Menschenrechtskonferenzen? Das sind doch alles nur Farcen! Uns hilft niemand. Und nun waschen Sie sich die Hände und helfen Sie Norina, die Verwundeten zu versorgen. Herumstehen und glotzen, das hasse ich.«

Sie arbeiteten bis weit nach Mitternacht. Die Straße vor den Barrikaden war durch Scheinwerfer in helles Licht getaucht. Aber die Fallschirmjäger kamen nicht mehr. Nur ein Spähtrupp hatte sich seitlich der Straße in den Wald gesetzt und beobachtete die Sperren. Es war eine ungewohnte, geisterhafte Stille um sie alle. Die Tiere, die sonst mit tausend singenden, flötenden, kreischenden Stimmen die Urwaldnacht belebten, waren geflohen.

»Neunundsiebzig Verwundete und dreiundvierzig Tote«, sagte Dr. Santaluz, als der letzte zerfetzte Leib hinausgetragen wurde. »Ich hatte nach diesem Trommelfeuer mit mehr gerechnet.«

Er setzte sich an den Klapptisch und ließ sich von einem Sanitäter eine Zigarette und ein Glas mit Kognak reichen. Norina lag erschöpft auf dem Bett im Hintergrund des Zeltes, die Feldbluse offen, mit nackter Brust. Im Grab gibt es keine Scham mehr. Dr. Santaluz reichte Gebbhardt seinen Kognak, doch der Deutsche schüttelte nur stumm den Kopf.

»Wenn es Sie beruhigt, Senhor Carlos«, sagte Santaluz, »dann verrate ich Ihnen, daß vier kleine Trupps zu je vier Mann unterwegs sind, um Hilfe von draußen zu holen. Sie schlagen sich seitlich durch den Wald und werden dann mit unseren Freunden im Rücken der Truppen operieren. Die alte Guerillataktik: Auftauchen, zuschlagen, vernichten, verschwinden. Wenn wir uns hier ein paar Tage halten, sieht die Lage ganz anders aus. Bisher wurde nur geredet, jetzt wird gehandelt. Und das allein überzeugt.«

»Wie gläubig Sie das sagen, Doktor.« Gebbhardt nahm nun doch das Glas und trank den Kognak aus. »Sie haben mich einen Träumer genannt. Ich glaube, hier im Zelt gibt es einen noch viel größeren Träumer.«

Gegen vier Uhr morgens bestätigte sich Gebbhardts Verdacht. Zwei der ausgeschickten Trupps kamen zurück. Sie waren mitten im Urwald auf Fallschirmjäger gestoßen und hatten sich kampflos zurückgezogen, um dem Gegner nicht zu zeigen, daß er entdeckt war.

»Sie schlagen sich in großem Bogen um uns herum durch den Wald«, sagte einer der Männer. »Morgen werden sie uns von hinten packen. Dann kommen sie über den Fluß und von den Seiten. Sie kreisen uns ein.«

»Zerstört die Brücke über den Fluß«, befahl Dr. Santaluz ruhig. »Sofort! Den Fluß überwinden sie nie. Zweihundert Mann sollen sich am Ufer eingraben.«

»Sie halten sich keine zwei Tage mehr«, sagte Gebbhardt.

»Jetzt noch länger.« Santaluz lächelte verächtlich. »Vor einem sind wir dann sicher: Sie können keine Bomben mehr werfen, ohne eigene Leute zu treffen. Vor den Bomben hatte ich Angst.«

Gebbhardt starrte ihn ungläubig an. »Mein Gott«, sagte er dann leise. »Sie hypnotisieren sich ja mit Ihren eigenen Worten.«

Santaluz stand auf und reckte sich. »Wohl dem, der das kann«, antwortete er, schob Norina etwas zur Seite und legte sich neben sie aufs Bett. »Keine Angst«, sagte er dabei, »ich tu ihr nichts. Ich will nur ein bißchen schlafen.«