12
Hermano Santos Bolo sah man an, daß er reich war. Doch man sah ihm nicht an, daß er es verdiente, von Tausenden der von ihm Abhängigen täglich verflucht zu werden. Wie hätte man das auch sehen können? Maßanzüge, tägliche Massagen, kosmetische Gesichtspackungen, erfolgreich eingedrilltes gutes Benehmen machten Senhor Bolo zu einer Zierde der exklusiven brasilianischen Gesellschaft. Er hatte viele Freunde, gleichgesinnt und vom selben Charakter: Großgrundbesitzer mit Ländereien von der Größe der Schweiz, Minister, Militärs, Industrielle, die ihr Geld untereinander kreisen ließen, Bankiers, die ihr Vermögen durch fragwürdige Manipulationen vermehrten, Zeitungsverleger, die keine Zeile in ihren Blättern über die Vernichtung der Indianerstämme erscheinen ließen. Einzig und allein die Kirche war nicht käuflich – in diesem Fall nicht! Sie bildete die einzige Opposition gegen den ›Club der Hundert‹, der Brasilien regierte.
Man hatte alles versucht, sämtliche Register durchgespielt, vor allem im Falle des streitbaren Bischof Helder Cámara. Von der Drohung bis zum Spott, von der Verleumdung bis zur Lüge war man vor nichts zurückgeschreckt. Aber auch Cámaras Widerstand erreichte nichts. Er pilgerte zwar durch die Welt und hielt in Europa und den USA Vorträge über das Leid der Indios und die Versklavung des Menschen durch das Kapital, aber in Brasilien war man darüber nicht sonderlich beunruhigt. Was Bischof Cámara tat, war doch gut so. Er erzählte dem satten Westen von der Not in einem Land, das von diesem Westen weit entfernt und ihm völlig gleichgültig war. Er war ein Märchenerzähler in der Soutane. Man hörte ihm erschüttert zu – wie einem weisen Narren Shakespeares. Man sammelte für die zur Ausrottung freigegebenen Indios im Urwald, man verlieh dem Pater Orden … aber Brasilien selbst traf das nicht. Bolo sagte es einer europäischen Wirtschaftsdelegation einmal ganz deutlich mit der Nonchalance des Mächtigen:
»Meine Freunde, was ist wichtiger, was brauchen Sie und Ihre Völker dringender: Kaffee, Edelhölzer, Baumwolle, Zucker und Tabak – oder Indios? Wollen Sie in Brasiliens neue industrielle Entwicklung investieren, die bald die größte in ganz Südamerika ist, oder wollen Sie mit Erzbischof Dom Helder für die Rote Fahne überm Amazonas beten? Die Entscheidung liegt bei Ihnen, meine Freunde. Brasilien findet überall Partner. Dieses Land erwacht ja erst gerade und öffnet sein Nachthemd wie eine schöne Frau. Was für verborgene Schätze kommen da doch zum Vorschein!«
Dann hatte er gelacht, erstklassigen Wein servieren lassen, und die europäische Delegation schnitt das Thema Armut und Indios, soziale Gerechtigkeit und Unterdrückung der Minderheiten nicht mehr an. Es war eine einfache, aber wirksame Art, Verträge zu machen. Mit hohen Moralbegriffen hatte man noch nie ein Bankkonto aufgefüllt.
An diesem heißen Nachmittag hatte Bolo beschlossen, ans Meer zu fahren und die Arbeitswoche zu beenden. Er wohnte allein im Penthouse, über dem Warenhaus, mehr einer Laune als einer Notwendigkeit gehorchend, denn er besaß mehrere elegante Villen in Parks. Doch vom Penthouse aus konnte er Brasilia überblicken, diese auf dem Architekten-Reißbrett entstandene Stadt mit Bauten, die weit in die Zukunft wiesen. Es waren kühle Gebilde aus Glas und Beton, die zeigten, was man mit Wasser, Sand und Zement alles an Schönheit schaffen konnte. Von hier oben konnte Bolo auch hinübersehen zu dem Hochhaus seines Imperiums, zu dem gläsernen Turm, in dem zweitausend Angestellte die Vielzahl seiner Firmen verwalteten.
Auf Bolos Tisch am großen Panoramafenster standen nur zwei Telefone, ein weißes für den Privatgebrauch und ein grünes, als Schaltzentrale seiner Macht. Mit dem grünen dirigierte er – in wenigen knappen Worten, aber jedes Wort bedeutete Schicksal für diejenigen, die es traf. Es war ein geradezu erotisches Gefühl, den Hörer abzunehmen und etwas zu sagen, was kleine oder große Welten veränderte. Bolo genoß es. Er war fünfundfünfzig Jahre alt, mittelgroß und breitschultrig, dreimal geschieden und zur Zeit nur locker liiert mit einer französischen Gräfin, die in Rio auf ihn wartete. Hermano Santos Bolo … ein Begriff der Macht.
Sein letztes Telefonat hatte sich mit dem Aufstand der Arbeiter an der Straße zum Rio Araguaia beschäftigt. Die Rebellion war niedergeschlagen worden. Wer noch lebte, saß in Ceres und wartete auf seine Verurteilung. Neue Kolonnen wurden zusammengestellt und standen zum Abmarsch an die riesige Baustelle bereit. Vor den Einstellungsbüros standen die Armen Schlange. Eine ganze Woche war allerdings verloren. Bolo verbuchte sie schweren Herzens als Verlust und reduzierte den neuen Stundenlohn um zwei Cruzeiros. Man konnte einen Bolo nicht ins Minus treiben. Mehr verblüfft als ärgerlich blickte Bolo auf, als sich die Tür seines Salons öffnete, ohne daß vorher angeklopft worden war. Und statt des Dieners Juan kam ein riesiger, ziemlich zerlumpter Mensch herein, stieß die Tür wieder zu und stellte sich breitbeinig auf den Isfahan-Teppich.
Bolo zog die Brauen hoch und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Bevor Sie anfangen, sagen Sie mir erst, wie Sie hier hereingekommen sind. Ich werde Juan entlassen«, erklärte Bolo ärgerlich.
Paulo Alegre deutete mit dem Kopf zur Tür. »Hieß der Kerl Juan? Er braucht keine Entlassung mehr. Er braucht einen Sarg.«
In diesem Augenblick ertönte eine dumpfe Explosion. Die großen Scheiben in Bolos Salon zitterten. Ehe Bolo noch reagierte, schrillten im großen Kaufhaus die Alarmsirenen. Bis in Bolos gut isolierte Privaträume hinauf hörte man einen Aufschrei aus Hunderten von Kehlen.
»Feuer«, sagte Alegre dumpf. »Feuer, Senhor Bolo. Das war eine Bombe, mit der ich den Fahrstuhlführer nach unten geschickt habe. Sie muß in der zweiten Etage explodiert sein. Halt! Bleiben Sie stehen!«
Bolo wollte zu seinem Schreibtisch stürzen, aber Alegre verstellte ihm den Weg und schleuderte ihn mit einer Handbewegung zurück. Bolo taumelte gegen die Wand und riß dabei einen Blumentisch um. Er griff sofort nach dem Gestell, zertrat es und hielt gleich darauf einen Knüppel mit einer eisernen Platte in der Hand. Alegre lachte und schüttelte den Kopf. Dieses Lachen war schrecklicher als die Sirenen und das Panikgeschrei der Kaufhausbesucher.
»Sie Verrückter!« keuchte Bolo. »Was wollen Sie? Geld? Auf diese Art? In wenigen Minuten ist die Polizei da.«
»Sie wird nicht durchkommen.« Alegre tappte wie ein Riesenbär auf Bolo zu. Dieser hob den angebrochenen Fuß der Blumenbank und duckte sich. »Ich habe mir Ihr Kaufhaus angesehen. Nicht jetzt, früher schon. Ein schönes Haus, aber ohne automatische Feuerlöschanlage. Zu teuer, Senhor Bolo? Natürlich zu teuer. Was ist ein Menschenleben denn wert. Das habe ich auch Alja gesagt, als sie unten in der ersten Etage eine Bluse kaufte. Sie kennen die Bluse, Senhor Bolo? Hellblau mit roten Mohnblüten. Alja sah wie eine Prinzessin aus, wenn ihr langes schwarzes Haar um die Mohnblüten wehte. Stimmt's?«
»Sie Irrer!« brüllte Bolo. Er hörte das Heulen der Feuerwehr-Sirenen. Irgendwo platzten Fenster mit lautem Knall. Feuer, dachte Bolo und stierte Alegre an. Es brennt im Haus. Überall die leicht entflammbare Ware, die wie Zunder war. Das Feuer wird sich weiterfressen wie an einer Zündschnur. »Wenn wir noch mehr Zeit verlieren, wird das Treppenhaus brennen! Und Sie mit! Begreifen Sie das? Sie mit!«
»Ich habe gefragt, ob Sie Alja kennen – das Mädchen in der Bluse mit den Mohnblüten«, entgegnete Alegre ruhig.
»Nein!« brüllte Bolo. »Zum Teufel nein! Was geht mich Ihre Alja an?«
»Das habe ich mich auch gefragt, Senhor Bolo. Trotzdem haben Sie es getan.«
»Was habe ich getan?«
»Sie haben sie betrunken gemacht. Sie haben sie in Ihr Bett gezogen und auf ihr geritten, als sollte Sie Alja bis zum Amazonas tragen. Sie haben ihren Körper zerbrochen und ihre Seele … und beides gehörte mir. Alja von der Kantine im Hauptlager an der neuen Straße … Erinnern Sie sich, Senhor Bolo? Sie trug die Bluse mit den Mohnblüten, und Sie haben sie ihr vom Leib gerissen. Ein kleines hübsches Mischlingsmädchen, gerade gut genug, daß sich ein großer, ein weißer Herr in ihr entladen kann.«
»Wer sind Sie eigentlich?« fragte Bolo. Sein Blick flatterte angstvoll. Das Kantinenmädchen, durchfuhr es ihn. Natürlich, das kleine braune Luder mit dem Engelskörper. Wehrte sich wie ein Kätzchen, aber hat es hinterher nicht hundert Cruzeiros von mir zwischen ihre spitzen Brüste gesteckt bekommen?
»Ich bin Paulo Alegre«, antwortete der Riese ruhig. Bolos Herz verkroch sich plötzlich in eine Grotte aus Angst. Unter dem Penthouse schrien die Menschen, und an den Fenstern flatterten jetzt dunkle Qualmwolken vorbei. Die Feuerwehr schien mit den Löscharbeiten begonnen zu haben. Zwei Polizeihubschrauber umkreisten den stolzen Bau. Bolo konnte allerdings nicht sehen, daß bereits aus zwei Etagen lodernde Flammen schlugen. Menschen hockten auf den Simsen und ließen sich in die Tiefe fallen, auf den Treppen ballten sich die Körper, wahnsinnig vor Panik, und zerstampften sich gegenseitig. Die Leiber verstopften die Ausgänge, und die Flammen holten die Fliehenden ein.
»Alegre«, stieß Bolo hervor. »Ganz Brasilien sucht Sie!«
»Ich bin hier. Wir wollen uns über Alja unterhalten.«
»Mit Feuer und Vernichtung von unschuldigen Menschen?«
»War Alja nicht auch unschuldig, Senhor Bolo?« Alegre tappte auf ihn zu, riß ihm das Blumenbankbein aus der Hand und warf es gegen die große Panoramascheibe. Sie zersplitterte, und damit war Bolos Isolierung vorbei. Er hörte die gellenden Schmerzensschreie der Eingeschlossenen, das Zischen des Wassers aus den Feuerwehrschläuchen, die kleinen Explosionen im Feuermeer und die Sirenen neuer Löschzüge der Polizei und des Militärs, die das ganze Viertel absperrte.
In diesem Augenblick brach der große Senhor Bolo zusammen und wurde zu einem winzigen Menschen, der um sein Leben bettelte.
»Alegre«, keuchte er. Der Rauch drang ins Zimmer, stinkender Qualm verbrannten Kunststoffes und verschmorter Menschenleiber. »Eine Million … eine ganze Million, wenn wir uns jetzt verständigen. Ich verspreche Ihnen Stillschweigen.«
»Alja war so schön«, sagte Alegre fast verträumt. »Wenn ich sie umarmte, war ich der reichste Mann der Welt.«
»Wir verbrennen beide elend, Alegre! Wir müssen aufs Dach! Die Hubschrauber können uns noch retten«, schrie Bolo. Er fiel in sich zusammen. Mit seinem Stolz zerbrach auch sein Körper. Er lehnte an der Wand, starrte Alegre an und zitterte unter den grauenhaften Schreien, die zu ihm empordrangen.
»Verbrennen …« Alegre stand dicht vor Bolo. Seine Augen waren wie verklärt. »Wissen Sie, wie ein Mensch aussieht, wenn der Strahl eines Flammenwerfers ihn trifft? Ich hab's gesehen, zum ersten Mal. Es gibt kein Fleisch mehr … und das Skelett leuchtet bläulich auf, als ob es aus Neonröhren bestünde. Es leuchtet, Senhor Bolo. Ich habe Alja gesehen, als ihre Knochen so leuchteten.«
Bolo gab einen dumpfen Laut von sich. Dann sprang er vor, mit gesenktem Kopf, nur ein Ziel vor Augen: Die Tür zur Eingangshalle. Von dort aus konnte er über die Wendeltreppe hinauf zum Flachdach gelangen.
Er hätte ebensogut gegen einen Felsen rennen können. Alegres breite Brust fing den Anprall auf, und die gewaltige Gestalt rührte sich nicht einmal dabei. Dann griff er zu, riß Bolo an den Schultern hoch und trug den Brüllenden aus dem Salon.
»Sie hat geleuchtet«, sagte er dabei und trat die Tür zum Eingang auf. Heißer Dunst wehte ihm entgegen. Das Feuer kletterte bereits zu ihnen empor. Alegres Augen glitzerten in einem Wahnsinn, der jede Gegenwehr Bolos lähmte. Dieser begann zu heulen wie ein Hund, während er in den riesigen Armen hing – beinahe schwerelos. »Du hast es nicht gesehen, Senhor Bolo.«
Das Kaufhaus Orgulho de Brasilia brannte zwei Tage, ehe man das Feuer unter Kontrolle hatte. Die Zeitungen schrieben darüber: »Mitten in der Hauptstadt schien ein Vulkan ausgebrochen zu sein. Ein Flammenmeer, durchzuckt von immer neuen Explosionen, die weitere Brandherde aufrissen. Eine automatische Feuerlöschanlage gab es in diesem supermodernen Haus nicht. Es zeigte sich auch, daß die Leitern der Feuerwehr nicht bis zu den oberen Stockwerken reichten. So konnte der Brand in den letzten Etagen nicht bekämpft werden. Sie und das Penthouse von Senhor Bolo brannten völlig aus. Aus den Trümmern wurden bisher 347 Tote geborgen, die kaum noch zu identifizieren sind, 29 Menschen sprangen aus Angst in den Tod. Unter den bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Toten vermutet die Polizei auch Senhor Bolo. Als Ursache des Brandes nimmt man Sabotage an. Es handelt sich um die größte Brandkatastrophe in der Geschichte Brasiliens.«
Erst nach vier Tagen waren alle Flammen gelöscht, denn immer wieder loderten irgendwo in einem Winkel neue Brände auf. Nun begannen die Aufräumungsarbeiten.
Feuerwehr und Polizei fanden dabei auf der Steintreppe zwischen Penthouse und oberer Kaufhausetage zwei völlig verkohlte Leichen. Engumschlungen lagen sie an der Treppenwand. Man vermutete einen Vater, der sein Kind hatte retten wollen. Die Gerichtsmediziner stellten fest, daß es zwei ausgewachsene Männer gewesen waren, ein Mann von riesiger Größe und ein mittelgroßer Mann.
Mehr konnte man nicht sagen. Als Unbekannte wurden sie nebeneinander begraben. Und auf das Kreuz – ein einfaches Holzkreuz – schrieb man poetisch: ZWEI FREUNDE.
Die Menschheit muß ihre Ideale haben.
Das Zimmer, das man Pater de Sete im Militärgefängnis zugewiesen hatte, lag neben den ebenerdigen Zellen. Sein Fenster ging auf einen kleinen Hof mit festgestampfter Erde hinaus. Sechs Soldaten waren damit beschäftigt, vor einer hohen lehmgelben Mauer mannshohe Rundpfähle in den Boden zu rammen.
Gebbhardt stand am Fenster und starrte auf den Hof. Hinter ihm holte der Pater zwei Gläser und eine Flasche Rum aus einem wackeligen Schrank.
»Wollen Sie sich nicht setzen, Senhor Carlos?« fragte er dabei. »Sie können die Exekutionspfähle nicht wegzaubern, wenn Sie die Pfosten auch noch so wild anstarren.«
Gebbhardt senkte den Kopf, aber er blieb am Fenster stehen. »Sie werden bei ihnen sein?« fragte er leise.
»Ja.« Der Rum gluckerte in die Gläser. »Das ist für jeden Priester eine fast unlösbare Aufgabe. Was soll man den Verurteilten erzählen? Daß Gott sie liebt? Daß es im Himmel wahre Gerechtigkeit gibt? Daß das Erdenleben nur eine Zwischenstation ist und das wahre Leben nie aufhört, auch nicht unter den Kugeln des Exekutionskommandos? Trotzdem habe ich mich freiwillig angeboten, diesen letzten Gang mit den Verurteilten zu gehen.«
»Es ist Ihr Beruf, Pater.«
»Nicht nur. Darum wollte ich mit Ihnen ungestört reden, Senhor Carlos.« Pater Pietro de Sete kam ans Fenster und hielt Gebbhardt das Glas hin. Der scharfe Rumgeruch widerte ihn an, trotzdem kippte er das Glas mit einem Schluck hinunter. Er mußte husten. »Nach den Hinrichtungen werde ich mit den neuen Arbeiterkolonnen in den Wald ziehen. Man hat auf meinen Rat hin eine neue Institution gegründet: Die Rucksack-Kirche.« Pater de Sete trank sein Glas Rum leer. »Die Huren sind da besser dran. Die haben wieder zwei gut eingerichtete, vollklimatisierte Busse. Auch drei rollende Bars gibt es, für einen Kirchenwagen reicht es aber nicht. Also setze ich mich auf mein altes Motorrad und nehme Christus im Rucksack mit. Ich werde – wie Sie – in der vordersten Linie sein.«
»Und Sie glauben, gegen die Huren eine Chance zu haben, Pater?« Gebbhardt lächelte schief.
»Eine große sogar.« Der Pater nahm Gebbhardt das Glas aus der Hand und ging ins Zimmer zurück. »Vom schwachen Fleisch allein kann der Mensch nicht leben. Er muß auch reden können, sich aussprechen, die Seele befreien. Und er erwartet, daß man ihn versteht. Dafür bin ich da. Ich werde jeden verstehen. Die Heilige Schrift enthält so viel modernes soziales Gedankengut.«
»Pater!« Gebbhardt drehte sich ganz langsam um. Der Priester stand hinter dem Tisch, goß die Gläser wieder voll und lächelte dabei. »Sie wollen im Priesterrock … Mein Gott!«
»Wie gut wir uns verstehen, Senhor Carlos. Die Kirche schläft nicht mehr … nicht in diesem Land.«
»Sie sind einer von den Roten Priestern?« sagte Gebbhardt leise. »Pater, man wird auch Sie hinrichten.«
»Warum sagen Sie, wie unsere Gegner, Rot? Warum sagen Sie nicht: Ein Priester für die Menschen? Es war ein Fehler der Kirche, in einer zerrissenen Welt jahrhundertelang immer nur von einer heilen Welt zu predigen. Es ist billig, vom Himmelreich zu erzählen und die Hölle auf Erden zu dulden. Wir jungen Priester haben das eingesehen. Das Christentum sollte eine Macht sein, die Ordnung schafft. Ordnung und Gerechtigkeit für alle Menschen. So verstehen wir Christi Auftrag: Gehet hin in alle Welt. Was hat das mit Rot zu tun, oder mit Revolutionen, die nur zerstören? Wir wollen aufbauen.«
Gebbhardt griff nach dem vollen Glas Rum und leerte es wieder in einem Zug. Diesesmal hustete er nicht. »Die Theoretiker waren schon immer der Kirche liebstes Kind«, sagte er. »Wie stellen Sie sich die Praxis vor, Pater?«
»Sie ergibt sich von allein, wenn man an der vordersten Front steht. Der eine arbeitet mit dem Skalpell –«
»Sie wollen Dr. Santaluz' Platz einnehmen?« fragte Gebbhardt überrascht.
»Ja.«
Das war eine klare Antwort, und sie räumte alle weiteren Fragen weg. Man sah sich an und wußte plötzlich, daß man einen Freund vor sich hatte.
»Aber Norina …«, sagte Gebbhardt nach dieser Stille gepreßt. »Glauben Sie, daß man Norina erschießen wird?«
»Nein. Man wird sie zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilen. Das ist manchmal schlimmer als ein schneller Tod.« Pater de Sete ging zum Fenster und schloß es. Die Hammerschläge, mit denen die Soldaten die Hinrichtungspfähle in den Boden rammten, wurden ihm unerträglich. »Lieben Sie Norina?«
Gebbhardt starrte den Priester an, als wäre er geschlagen worden. »Das fragen Sie mich?«
»Lieben Sie Norina so grenzenlos, daß Sie jede Gefahr auf sich nehmen würden?«
»Habe ich das nicht bewiesen, Pater? Ich bin bei dem grausamen Gemetzel an ihrer Seite gewesen, und ich habe darum gebeten, wie sie behandelt zu werden.«
»So etwas ist sinnloses Heldentum, und Sie sind kein Held. Das wissen Sie selbst ganz genau. Senhor Carlos, trauen Sie sich zu, auf einem Mulirücken, zu Fuß, wenn's sein muß auf allen vieren durch den Urwald zu kriechen? Hinüber nach Paraguay? Durch die Sumpfhölle des Mato Grosso?«
»Warum?«
»Mit Norina, Sie Idiot!«
»Mit …« Gebbhardt umklammerte die Tischkante. »Pater, wenn Sie weiter so mit mir reden, schlage ich Ihnen den Schädel ein.«
»Auch das liegt Ihnen nicht.« Pater de Sete griff in seine Soutane und holte eine Landkarte von Brasilien hervor. Der Weg von Ceres quer durch die Grüne Hölle zur Grenze von Paraguay: ein Weg, von dem es keine Rückkehr gab, nur das Erreichen des Zieles oder den Untergang. »Sie haben Urwalderfahrung, Carlos, das kann Ihnen helfen. Sonst nur noch Gott … und Ihre eigene Kraft.«
Gebbhardt starrte auf die Karte und fegte sie dann mit einer Handbewegung vom Tisch. »Wie wollen Sie Norina aus dem Loch unter der Erde herausholen, Pater?«
»Außer den Wachen bin ich der einzige, der zu ihr darf. Wann immer ich will.«
»Und wenn Norina sich weigert? Sie wissen nicht, wie oft ich sie angefleht habe, mit mir zu kommen.«
»Überlassen Sie das ruhig einem Priester.«
»Und warum Norina?«
»Möchten Sie lieber mit Santaluz flüchten?«
»Wann?« fragte Gebbhardt schwer atmend.
»Nach der Verurteilung.«
»Am Montag morgen beginnen die Hinrichtungen.«
»Man wird Norina nicht zum Tode verurteilen. Davor rettet sie, daß sie eine Frau ist. Beim Aufstand an der Straße, ja, da hätte man sie im Kampf getötet, aber jetzt, wehrlos und schwach? Vor der Schönheit einer Frau, auch wenn es eine gefährliche Schönheit ist, vergißt ein Südamerikaner nie, daß er ein Hidalgo ist. Warten wir es ab.«
»Und dann?«
»Wer exekutiert, wird einen Moment die vergessen, die nicht so wichtig sind. Das ist der richtige Augenblick.«
»Dabei vergessen Sie, daß auch ich wie ein Gefangener gehalten werde.«
»Ab heute nicht mehr. Nun können Sie sich im Kasernenbereich frei bewegen. Sie wissen, daß Sie nach Deutschland abgeschoben werden sollen?«
»Ja. Und die deutsche Botschaft spielt mit.«
»Die Politik! Die guten wirtschaftlichen Beziehungen! Man wird Ihnen zu Hause den Kopf waschen. Sie kommen als Repräsentant einer deutschen Firma in dieses Land und mischen sich in innerbrasilianische Angelegenheiten ein.«
»Ich werde jedem, der das nicht versteht, die Wahrheit in den Kopf hämmern.«
»Sie Narr.« Pater de Sete lächelte so mild, als habe er einem beichtenden Sünder verziehen. »Sie werden bald ein einsamer Mensch sein. Sorgen Sie für Norina, lieben Sie sie, zeugen Sie nette Kinder, werden Sie ein guter Ingenieur – das ist Ihre Pflicht. Ihre einsame Stimme in Deutschland kann uns gar nichts helfen.«
Eine Stunde später saß Gebbhardt wieder vor dem Oberst auf dem Plüschsofa. Eine Ordonnanz servierte einen Imbiß und duftenden Matetee.
»Was haben Sie mit Norina Samasina gemacht, Senhor Carlos?« fragte der Oberst und biß in einen Sandwich. »Seit Sie von ihr weggegangen sind, weint sie. Mit ihren Tränen wird sie meine Offiziere vom Sondergericht aufweichen. Verdammt noch mal, ich wollte ihr das Zuchthaus ersparen. Der Pfahl wäre besser gewesen.«
In diesem Augenblick haßte Gebbhardt den Oberst wie nichts auf der Welt.