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Im Mai, in einer Mittwochausgabe, erschien in einer großen überregionalen Zeitung eine Anzeige unter der Rubrik ›Bekanntschaften‹. Sie lautete:
Dame mit eigenem Wagen sucht für Ferienreise in den Süden (Französische Riviera?) charmanten Begleiter. Getrennte Kasse. Zuschriften unter C 15678.
Auf diese Anzeige meldeten sich dreiundzwanzig Herren. Von einem Gärtner angefangen, der seine ›durch Wind und Wetter gestärkte Potenz‹ pries, bis zu einem Botanikprofessor, der im Gebiet von Cap Benat auf der Halbinsel Cabasson bei Le Lavandou eine floristische Mutation untersuchen wollte. Der jüngste sich vorstellende Reisebegleiter war siebzehn Jahre alt, der älteste zweiundsiebzig. Ausgerechnet dieser muntere Greis legte ein Bild bei, das ihn in einer äußerst knappen Badehose zeigte. Darunter stand: »In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist.« Der flotte Opa wirkte sehr unternehmungslustig.
Kathinka Braun sortierte diese Briefe aus und warf sie in den Papierkorb. Es war ihr von Beginn an klar gewesen, daß die Mehrzahl der Zuschriften recht eindeutigen Charakters sein würden. Es war auch nur eine ihrer Launen gewesen, diese Anzeige aufzugeben, gewissermaßen zur Dämpfung ihrer stillen Wünsche nach Glück, eine Bestätigung, daß jeder Mann in einer Frau grundsätzlich nur ein Objekt der Lust sieht und sich erst in zweiter Linie die Mühe macht, ihre Seele zu entdecken. Mit der Eroberung des Körpers schließt ein Mann sein Frauenverständnis ab, was kümmert ihn der seelische Bereich?
Das war die Wand, hinter die sich Kathinka Braun immer flüchtete, wenn sie spürte, daß ihre natürlichen Sehnsüchte den selbstgeschmiedeten Panzer durchstoßen wollten. Sie stand hinter dieser Schutzwand wie ein Torero in einer spanischen Stierkampfarena, der sich mit einem Sprung vor dem angreifenden Tier gerettet hat, und baute ihr Selbstbewußtsein immer von neuem auf. Die Zuschriften auf ihre Anzeige bewiesen es wieder: Die Welt, die sie mit Fleiß und Können geschaffen hatte, war vollkommen. Nur mit einem Brief kam sie nicht zurecht. Er war ganz kurz, trug als Absender eine Postfachadresse in München und hatte als Beilage kein Foto, sondern eine grünschillernde, kleine künstliche Fliege mit einem Stahlhäkchen. Eine Anglerfliege.
»Das bin ich«, erklärte der Absender. »Wenn es Sie interessiert und Sie mehr wissen wollen, können wir korrespondieren.« Das war alles.
Es war einer der merkwürdigsten Briefe, den Kathinka Braun je bekommen hatte. Sie betrachtete ihn lange, saß mit ihm an ihrem schönen Barockschreibtisch, dessen wertvolle Intarsienarbeit jeder Besucher bewunderte, ließ die Leselampe auf den Brief scheinen, als könne man dadurch Fingerabdrücke sichtbar machen, und drehte mit der Spitze ihres goldenen Kugelschreibers die grünglitzernde Fliege hin und her.
»Verrückt!« sagte sie schließlich laut. »Darauf antworte ich nicht.« Sie legte den Brief und die Fliege in ein Schubfach und schloß das Anzeigenexperiment mit der Negativbewertung ab: Auch dieses Jahr fahre ich allein in Urlaub. Sechs Wochen Riviera und ein anderer, unbekannter Mensch sein unter lauter Unbekannten …
Nach einer Woche lag in der Post ein Brief der Zeitung (Anzeigenabteilung), mit dem Vermerk, es sei noch ein ›Nachläufer‹ auf die betreffende Anzeige gekommen. Ohne den Umschlag aufzuschlitzen, wußte Kathinka, daß es kein Nachläufer war, sondern ein neues Lebenszeichen der postlagernden Fliege.
Bis zum Abend bezwang sie ihre Neugier. Sie trug den Brief in ihrer Handtasche herum, aber sie war an diesem Tag nervös und reizbar, unkonzentriert und merkwürdig unruhig.
In ihrem Appartement – der Brief lag jetzt auf der Schreibtischplatte – trank sie einen großen trockenen Sherry und sagte laut in die Stille der Wohnung hinein: »Nein!« Es war ein sinnloser Protest, denn sie warf den Brief weder weg noch zerriß sie ihn, sondern sie schlitzte ihn mit einem Brieföffner auf und zog einen fast leeren Briefbogen heraus. Mit großen Ziffern war nur eine Telefonnummer auf das Blatt gemalt, weiter nichts.
»Frechheit!« sagte Kathinka Braun laut, trank noch einen Sherry und griff dann zum Telefon. Es war ein Münchner Anschluß; sie hatte ihn kaum gewählt, da wurde auch schon abgenommen. Es schien, als habe der Unbekannte auf ihren Anruf gewartet, als habe er schon auf der Lauer gelegen und sich nach Absenden des Briefes nicht mehr aus der Nähe seines Telefons entfernt.
»Guten Abend«, sagte er. Er hatte eine angenehme sonore Stimme, aber Kathinka mißfiel sie sofort. Gewollt seriös, wie er das ›Guten Abend‹ hinsingt – affig! dachte sie.
»Was fällt Ihnen eigentlich ein?« fragte sie hart.
»Aha!«
»Was heißt aha?«
»Die Dame mit dem eigenen Wagen …«
»Ich rufe Sie nur an, um Ihnen zu sagen, daß Ihre Anglerfliege mir nicht imponiert. Wenn Sie das originell nennen … Ich bin jedenfalls kein Hering, den man so einfängt.«
»Forelle«, korrigierte die angenehme Männerstimme.
»Wie bitte?«
»Der Hering ist ein Meeresfisch und wird in Netzen gefangen. Er zieht in ganzen Schwärmen. Meines Wissens hat noch keiner einen Hering mit der Angel herausgeholt. Mit der schönen Fliege dagegen fängt man vornehmlich Forellen, herrliche schlanke Fischchen, mit Punkten oder einer Regenbogenhaut – die Mannequins unter den Fischen!«
»Ich bin auch keine Forelle«, erklärte Kathinka empört.
»Was wäre unser Leben ohne Sinnbilder? Ich las Ihre Anzeige und dachte mir: Jeder Mann, der jetzt darauf schreibt, fügt einen Brief bei, in dem er seine Vorzüge anpreist wie ein Marktschreier. Und ein Foto schickt er auch … möglichst eines mit überquellender Männlichkeit. Wenn man sich nachher trifft, ist alles ganz anders. Das Foto ist viele Jahre alt und von unten nach oben geschossen, wodurch jeder Körper gestreckt wird, und überhaupt ist der ganze Kerl eine einzige Enttäuschung.«
»Und Sie betrachten sich als eine einzige Erfüllung, was?«
»Ich preise mich nicht an.«
»Sie schicken Anglerfliegen. Was soll das?«
»Es ist meine Visitenkarte.«
»Sie sind Berufsangler? Gibt es denn so etwas?«
»Haben Sie die Fliege vor sich?«
»Ja.«
Kaum, daß sie dies zugegeben hatte, ärgerte sich Kathinka Braun. Es bewies, daß sie sich mehr mit dem Postlagernden beschäftigt hatte, als sie zugeben wollte.
»Diese Fliege ist ein Spitzenmodell«, tönte es sofort aus dem Telefonhörer, »und nach den neuesten fischwissenschaftlichen Erkenntnissen konstruiert. Die grünschillernden Flügel – der Belag ist ein Patent von mir – sind transparent und erzeugen für den Fisch den Eindruck, als sei die Fliege gerade ins Wasser getaucht. In der Psychologie der Fische bedeutet das, daß das Erkennungserlebnis umgesetzt wird in …«
»Sie reden viel und dumm!« unterbrach ihn Kathinka Braun wütend. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich allein an die Riviera fahre. Stellen Sie bitte die einseitige Korrespondenz ein …«
»Wie alt sind Sie?« fragte der Unbekannte frech.
Kathinka zuckte zusammen und starrte wütend die künstliche Fliege an, die vor ihr lag. »Das geht Sie gar nichts an!« antwortete sie grob. »Die Beschäftigung mit fischpsychologischen Problemen scheint Ihre Manieren verdorben zu haben.«
»Ich bin für Klarheiten. Für meine Person habe ich nichts zu verbergen. Ich bin 1,79 groß, schlank – bis auf einen kleinen, keineswegs störenden Bauchansatz, den ich mir bei meinen fünfunddreißig Lebensjahren durchaus leisten kann. Meine Haare sind noch vorhanden, mittelblond, leicht gewellt, aber nach Berührung mit Wasser kräuseln sie sich gern, was manche Damen als Beweis eines verborgenen Temperaments ansahen. Schuhgröße 43, blaue Augen mit treuem Blick …«
»Gute Nacht!« sagte Kathinka wütend.
»Bitte legen Sie noch nicht auf. Woher rufen Sie an?«
»Aus Hannover.«
»So weit weg.«
»Schon diese Entfernung schließt weitere Kontakte aus.«
»Ich könnte morgen mittag auf dem Flugplatz Hannover landen.«
»O Gott, nein! Warum?«
»Ich möchte Ihnen doch beweisen, daß ich ein anständiger Mensch bin.«
»Ich lege auf diese Demonstration keinerlei Wert. Wozu auch?«
»Wenn wir zusammen an die Riviera fahren wollen …«
Der Unbekannte lachte. Es klang jungenhaft und so nett, daß Kathinka den Hörer, der schon über der Gabel schwebte, nicht auflegte. »Wie heißen Sie?« fragte er.
»Das ist völlig unwichtig. In wenigen Sekunden verlieren wir uns für ewig aus den Augen.«
»Also, dann bin ich morgen in Hannover. Um 12.55 Uhr. Direktflug München-Hannover mit der Lufthansa.«
»Wenn es Ihnen Spaß macht …«
»Würden Sie mich wohl bitte abholen?«
»Nein!« Kathinka fauchte es förmlich ins Telefon. »Ihre Unverschämtheit ist grenzenlos.«
»Ich bin übrigens nicht zu verfehlen«, sprach der Teilnehmer ungerührt weiter. »Ich werde eine Zeitschrift vor mir her tragen, das ›Deutsche Anglerblatt‹. Auf der Titelseite – Vierfarbendruck! – holt ein Angler mit viel Schwung einen Lachs aus einem schäumenden Wildfluß. Das ist in Irland aufgenommen. Der Angler bin ich! Sie sehen mich also gleich zweimal. Sie können mich gar nicht verfehlen.«
»Sparen Sie sich diesen Flug«, meinte sie grob. »Wenn ich jetzt Adieu sage, dann ist das endgültig. Adieu!«
»Auf Wiedersehen!«
Sie legte auf und lehnte sich zurück. »Widerling!« stieß sie hervor. »Solche dummen Reden habe ich gern!«
In der Nacht aber geschah etwas Merkwürdiges: Kathinka Braun, die sich immer rühmte, auf Kommando schlafen zu können, saß im Bett und fand keinen Schlaf. Sie las einen historischen Roman, aber auch das befriedigte sie nicht und rief keine Müdigkeit hervor. Ihre Nerven gaben keine Ruhe. Eins steht fest, dachte sie, obwohl sie gar nicht daran denken wollte, er ist ein eingebildeter Geck! Er hält sich für witzig und originell, und dabei ist er mit fünfunddreißig Jahren noch reichlich kindisch! Die Fliege ist mein Patent, hatte er gesagt. Du lieber Himmel, stellte er etwa Anglerfliegen her? Natürlich, das könnte ein Berufszweig sein – und ein gutes Geschäft dazu; denn – wie viele Millionen Angler gibt es auf der ganzen Welt? Ein völlig fremdes Gebiet, mit dem sich Kathinka noch nie befaßt hatte. Doch schon oft hatte sie von ihren Bauherren gehört: »Als ich da und dort angeln war, wissen Sie, damals am Roten Meer, als ich auf Haie ansaß … Letztes Jahr, an der Küste von Istrien, da habe ich doch ein Prachtexemplar herausgeholt. Fast drei Stunden habe ich mit dem Biest gekämpft …« Gekämpft? Kann man mit einem Fisch kämpfen?
Damals hatte sie das gehört und wieder vergessen, es war an ihr ohne Wirkung vorbeigeplätschert, sie hielt Angeln für das langweiligste Nichtstun überhaupt. Jetzt kamen ihr verschiedene Sätze in die Erinnerung zurück. Kämpfen mit einem Fisch? Natürlich, so ein großer Fisch läßt sich doch nicht einfach an Land holen. Da gibt es doch eine berühmte Erzählung, worin ein Mann mit und um einen großen Fisch kämpft. Sogar den Nobelpreis hatte der Schriftsteller dafür bekommen. Ernest Hemingway – Der alte Mann und das Meer. Konnte man von ihm etwas übers Angeln lernen?
Sie stand auf, suchte in ihrer Bibliothek nach dem Erzählband und knüllte sich dann die Kissen in den Rücken. Bis zum Morgengrauen las sie vom verzweifelten Kampf des alten Mannes gegen die Haie, die ihm den Fang seines Lebens, einen riesigen Schwertfisch, zerfleischten. Dann schlief sie erschöpft ein, rief gegen zehn Uhr vormittags in ihrem Büro an und sagte, sie habe Migräne und man möge einige Termine verschieben. Nach einer heiß-kalten Wechseldusche war sie tatsächlich erfrischt, frühstückte aber lustlos und fuhr gegen zwölf Uhr hinaus zum Flughafen.
»Ich bin verrückt!« sagte sie zu sich. »Kathi, du bist verrückt! Kehr um! Wegen eines Mannes, der auf der Titelseite einer Anglerzeitung abgebildet ist! Diese erfolgreiche Architektin hat Herzklopfen wie ein Schulmädchen, auf das an der Ecke ein Junge lauert … Bist du denn noch normal, Kathi? Bieg von der Straße ab und fahr zu Herbert in die Hochschule. Geh mit ihm essen, wie glücklich wird er sein …«
Sie parkte ihren Wagen vor dem Flughafengebäude und sah auf den elektrischen Uhren, daß sie noch zehn Minuten Zeit hatte. In der Cafeteria trank sie schnell einen Espresso, rauchte nervös eine Zigarette und lehnte sich dann seitlich vom Ausgang A an die Wand.
Die Maschine aus München landete pünktlich. Eine nüchterne Männerstimme verkündete es im Lautsprecher, auf der Anzeigetafel erschienen die elektronischen Buchstaben ›Gelandet‹. Noch kann ich weg, sagte sie sich. Eine Kehrtwendung, raus aus der Halle, hinein in den Wagen und ab! Das wäre endgültig. Er kennt meinen Namen nicht, nicht die Adresse, nicht die Telefonnummer. Die Zeitung ist bei Chiffre-Anzeigen zum Schweigen verpflichtet. Und wenn er schreibt? Ich kann Anweisung geben, alle nun noch ankommenden Angebote zurückzusenden … Ich brauche mich nur umzudrehen und zu gehen.
Sie blieb stehen.
Die Maschine aus München schien voll besetzt gewesen zu sein. Eine Menge Passagiere stieg aus und eilte zu dem Koffertransportband. Ganz zuletzt – Kathinka Braun hatte eigentlich nichts anderes erwartet – schlenderte der Postlagernde heran. Er war keine umwerfende Erscheinung, kein Cary-Grant-Typ, keine strahlende Männlichkeit, vielmehr sah er recht durchschnittlich aus. Er trug einen Sportanzug, einen Staubmantel über dem Arm, einen Bordcase aus braunem Büffelleder in der linken Hand und in der rechten das ›Deutsche Anglerblatt‹ mit dem besagten Titelbild. Er trug es vor sich her wie ein Zeitungsverkäufer, es fehlte nur noch, daß er lauthals ausrief: Das neue Anglerblatt! Die sensationelle Geschichte des Mannes am Fluß! Das neue Anglerblatt …
Es war falsch, daß ich nicht weggefahren bin, dachte Kathinka. Es war grundfalsch. Jetzt ist es zu spät. Genauso habe ich mir das vorgestellt … ein Clown von fünfunddreißig Jahren!
Sie rührte sich nicht, blieb stehen und sah dem Mann entgegen. Er suchte umher, stellte sein Köfferchen ab und drückte die Anglerzeitung an seine Brust. Kopf und Titelfoto schwebten jetzt übereinander. So blieb er stehen, bis er allein vor dem Ausgang A stand. Niemand wartete mehr bis auf eine auffallend hübsche, elegante Dame in einem mit Saphirnerz besetzten Frühlingsmantel, dem man das Pariser Atelier von weitem ansah. Fast gleichzeitig setzten sich Kathinka Braun und der Fremde in Bewegung und trafen sich in der Mitte der Halle.
»Wenn ich das gewußt hätte …«, sagte er statt einer Begrüßung. Er faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in die äußere Rocktasche.
»Wenn Sie was gewußt hätten?« fragte Kathinka verschlossen. Aus der Nähe betrachtet, sah er doch ganz manierlich aus. Er hatte fröhliche blaue Augen und ein energisches Kinn, er war gebräunt – von einem Skiurlaub oder aus dem Solarium? –, und seine Haare kräuselten sich etwas. Über Hannover herrschte heute eine besonders hohe Luftfeuchtigkeit.
»Sie sind ja eine Lady«, sagte er.
»Was haben Sie erwartet? Ein Lockvögelchen, das sich mit solchen Anzeigen durchs Leben schlägt?«
»Ich kann es nicht erklären.«
»Warum nicht? Soviel ich bisher gemerkt habe, gehören Sie nicht zu den scheuen Menschen.«
»Ich habe zum ersten Mal auf eine solche Anzeige geschrieben.«
»Sieh an!«
»Und ich weiß auch nicht, warum ich es tat. Ich las sie – dabei muß ich erwähnen, daß ich Zeitungen sorgfältig zu lesen pflege, vom politischen Kommentar bis zur Reklame für Hornhautentferner unter den Fußsohlen –, und ganz plötzlich dachte ich: Da schreibst du mal hin! Bin gespannt, wer sich da meldet. Es war, als ob ich in ein völlig unbekanntes Gewässer einen Köder auswerfe.«
»Sie betrachten wohl alles aus der Anglerperspektive? Passen Sie auf, daß Ihren Schwertfisch nicht jemand auffrißt.«
»Wie bitte?« Er sah sie entgeistert und etwas hilflos an.
Kathinka Braun winkte ab. Hemingway kennt er also auch nicht, dachte sie. Keinerlei literarische Ambitionen. Ein angelnder Banause.
»Wie darf ich das mit dem Schwertfisch verstehen?«
»Haben Sie in einem Hotel reservieren lassen?« kam Kathinkas Gegenfrage.
»Aber ja! Im Hotel ›Welfenpark‹.«
»Ein sehr gutes Haus.«
»Es ist mir empfohlen worden.« Die Unterhaltung drohte zu versacken. Kathinka nestelte an ihrer Tasche und betrachtete den Bordcase, der neben ihm stand.
»Müssen Sie noch Gepäck vom Band holen?« fragte sie schließlich.
»Nein, das ist alles. Ich heiße Zipka.«
»Wie bitte?«
»Ludwig Zipka. Mit Z am Anfang und A am Ende. Genau umgekehrt wie im Alphabet.«
»Ich bin Kathinka Braun.«
»Kathinka. Das erinnert mich an östliche Weiten – an Birkenwälder und Sonnenblumenfelder. Sie kennen das russische Volkslied ›Kathinka‹?«
»Und wie ich es kenne! Zu Weihnachten, zu Osten, zum Geburtstag, überall, wo man mich erfreuen will, höre ich es! Wenn Sie jetzt auch noch damit anfangen, empfehle ich Ihnen, schleunigst für den nächstmöglichen Rückflug zu buchen.«
»Ich werde keinen Ton singen. Eigentlich schade, es wird behauptet, ich besäße einen schönen weichen Bariton. Die Opernleute nennen so etwas einen ›Kavaliersbariton‹. Ich könnte Ihnen doch im Hotel Schuberts ›Forelle‹ vorsingen …«
»Wir sollten, glaube ich, uns nicht auf diese alberne Linie festlegen, Herr Zipka«, entgegnete Kathinka verschlossen. »Außerdem habe ich wenig Zeit. Soll ich Sie zum Hotel bringen, oder hatten Sie andere Pläne?«
»Ich bin nach Hannover gekommen, um mich Ihnen voll unterzuordnen. Ich wollte mich vor allem vorstellen. Bitte, verfügen Sie über mich.«
»Wenn es Ihnen recht ist, setzen wir uns ins Opern-Café. Dort können wir ungestört darüber sprechen, daß Ihre Reise nach Hannover eine Fehlinvestition war.«
Ludwig Zipka nickte, griff nach seinem Bordcase und folgte Kathinka, die ihm als Wegbereiter drei Schritte vorausging. Er betrachtete sie eingehend. Die langen schlanken Beine, die wehenden Haare mit dem Kastanienton, der wohlgeformte Körper, diese Ausstrahlung ihrer Sicherheit … Wie kam eine solche Frau dazu, über eine Zeitungsanzeige einen Reisebegleiter zu suchen? Ein Wink von ihr, und eine Hundertschaft von Männern würde sich prügeln, um mit ihr verreisen zu können. Wer war diese Frau? Dame mit eigenem Wagen … Da kann man sich alles vorstellen, nur nicht eine Frau wie Kathinka Braun.
Er holte sie ein, sie traten aus der Halle und blieben dann vor dem italienischen Sportwagen stehen. Zipka tippte mit dem Zeigefinger auf die Motorhaube. »Ein rasanter Schlitten! 220 in der Stunde.«
»245.«
»Und die fahren Sie auch?«
»Wenn ich freie Bahn habe – warum nicht?«
»Ich bekäme einen Kreislaufkollaps! Warum muß man so schnell fahren? Welch ein zwingender Grund liegt dafür vor?«
»Keiner. Es ist einfach herrlich, zu wissen, daß man mit 245 dahinfliegt; daß man diese Geschwindigkeit beherrscht; daß man an der Grenze des Möglichen angekommen ist.«
»Sie lieben also das Risiko?«
»Ja.« Sie warf die Haare zurück und stieg in den Wagen. »Ein Leben ohne Risiko wäre langweilig.«
Zipka ging um das Auto herum, stieg auf der anderen Seite ein und hatte Mühe, seine langen Beine bequem zu lagern. Man lag mehr in den Sitzen, als daß man saß. Die Straßendecke war direkt unter einem, nur durch eine dünne Blechscheibe getrennt. So ein Gefühl hatte man immerhin, trotz Lederpolsterung und Verkleidungen aus feinstem Wurzelholz. Sie muß vor Geld stinken, dachte Zipka. Und eine solche Frau setzt eine Anzeige in die Zeitung? Da stimmt doch etwas nicht!
»Sie mögen keine Risiken, nicht wahr?« setzte Kathinka die Unterhaltung fort, nachdem Zipka endlich die beste Sitzposition gefunden hatte. »Aber was würden Sie tun, wenn Sie einen Schwertfisch fingen und Haie wollten ihn Ihnen wieder abnehmen?«
Wieder dieser Schwertfisch! Zipka starrte auf die Straße. Sie reihten sich in den Verkehr in Richtung Innenstadt ein, und er suchte nach einer Antwort.
»Ich habe noch nie einen Schwertfisch gefangen. Aber Haie – vor Nordafrika! Mit ›Tummler-Angelsport-Reisen‹. Zwei Wochen Marokko mit garantiertem Haifang für nur DM 1.157, –, Halbpension. Ganz interessant, aber nicht mein Fall. Einen Hecht muß man überlisten, der ist ein intelligenter Bursche, oft klüger als der Angler. Aber ein Hai, so ein gefräßiges Luder, der beißt überall an, wo er Blut riecht. Und an unseren Angeln hingen blutige Fleischfetzen! Das ist dann keine Kunst mehr! Angeln kann nämlich zur Kunst werden …«
»Sie leben davon?«
»Genauer: Ich lebe von den Anglern. Mein Beruf ist Designer. Speziell: Designer für Angelköder.«
»So etwas gibt es?« Kathinka lachte plötzlich und sah ihn kurz an. Sie fuhr sehr forsch und überholte sogar, wenn es äußerst knapp war. Zipka kniff öfters die Augen zusammen. Er war selbst ein guter Fahrer und schnaufte ein paarmal durch die Nase, wenn Kathinka Braun anders reagierte, als er es getan hätte.
»Ich bin sozusagen der Dior der Anglerfliegen«, fuhr Zipka fort. »Viermal habe ich schon einen Designerpreis gewonnen.«
»Und davon kann man leben?«
»Es geht mir nicht schlecht. Ich bin unabhängig und habe viel Zeit.«
»Das glaube ich Ihnen.« Sie blickte ihn von der Seite an.
»Warum haben Sie auf die Anzeige geschrieben?«
»Um einmal zu sehen, wer solche Anzeigen aufgibt.«
»Das müssen verwerfliche Personen sein, nicht wahr? Vielleicht sind sie nur sehr einsam?«
Zipka hielt den Atem an. Kathinka Braun überholte wieder einmal ›risikoreich‹. Im letzten Moment schlüpfte sie wenige Meter vor einem entgegenkommenden Wagen in eine Lücke der Kolonne. Der Gegenfahrer blinkte mit der Lichthupe und drohte beim Vorbeisausen.
»Recht hat er!« sagte Zipka. »Sie fahren wie ein amerikanischer Gangster.«
»Haben Sie jetzt schon Angst?«
»Ja. Was heißt ›jetzt schon‹?«
»Sie wollen doch mit mir in Urlaub fahren. Sechs Wochen! Und machen schon die Augen zu, wenn wir durch Hannover fahren? Das ist keine gute Empfehlung.«
»Werden wir mit dieser Rakete fahren?«
»Zum Rucksackwandern bin ich zu faul.«
»Und Sie sind sicher, daß wir an der Riviera ankommen?«
»Ich bin vor zwei Jahren kreuz und quer durch Finnland gefahren.«
»Das erklärt vieles!« meinte Zipka erleichtert.
»Was?«
»Die tausend Seen dort …«
»Wieso?«
»Das sind die gesammelten Tränen aller Straßenanwohner …«
»Wie witzig!« Sie biß die Zähne zusammen, fuhr aber vorsichtiger und hielt neben dem Opernhaus. Im Opern-Café fanden sie einen Tisch ganz hinten in einer Ecke, wo sie niemand störte.
»Einen Kognak!« bestellte Zipka, als der Kellner kam. »Einen dreistöckigen, bitte. Ich muß meinen Gleichgewichtssinn stabilisieren.«
Sie warteten, bis der Tisch gedeckt war. Kathinka trank einen Tee und aß ein Stück Erdbeertorte ohne Sahne.
Zipka freute sich über seinen Kognak. »Ich bereue nicht, daß ich nach Hannover geflogen bin«, sagte er plötzlich.
»Das ist einseitig.«
»Ich bin nicht Ihr Typ?«
»Sie reden wie ein Gammler. Typ! Sie werden nie begreifen, warum ich diese Anzeige aufgesetzt habe.«
»Das stimmt. Wer kann das auch begreifen?«
»Ich bin Architektin. Ich lebe und arbeite in einer ausgesprochenen Männergesellschaft. Was ist am Bau schon weiblich? Ich kenne die Skala männlicher Natur von A bis Z.«
»Das ist es! Ich kann Ihnen etwas anderes bieten: Von Z bis A!«
»Ich weiß: Zipka!« Sie lachte und strich sich mit den Händen durch die Haare. »Designer für Anglerfliegen! Wir sollten die ganze Episode als wirkliche Episode betrachten und schnell vergessen! Ich reise allein – wie bisher!«
»Im August«, sagte Zipka leichthin.
Kathinka fiel darauf herein. »Nein. Im Juni. Der Juni ist an der Riviera wundervoll. Ich wollte am 3. Juni abfahren.«
Das Gespräch versandete schnell. Kathinka brachte Ludwig Zipka noch zum Hotel. Dort verabschiedete man sich und wußte, daß man sich nie wiedersehen würde. Es war die beste Lösung – ein halber Tag, der kaum Erinnerungen hinterließ.
Am 2. Juni, morgens um neun Uhr, klingelte bei Kathinka Braun das Telefon.
»Stolze Kathinka Braun«, sagte eine fröhliche Stimme, »hier spricht Zipka. Ich bin in Hannover. Reisefiebrig und zu allem bereit, sogar zum Risiko.«
Hinter Kathinka lagen einige turbulente und recht nervöse Wochen. Nicht allein ihr Beruf schlauchte sie, der Ärger mit den Handwerkern und den Baubehörden, die man – ihre Meinung nach – eigentlich Baubehinderungsbehörden nennen sollte; auch der seit zwei Wochen in der Firma sitzende Betriebsprüfer des Finanzamtes trug nur zu einem kleinen Teil dazu bei, daß Kathinka in übler Laune durch ihre Büros eilte und die Mitarbeiter ihr aus dem Weg gingen, wo das möglich war … Ein Schweigen störte sie vor allem und zerrte an ihren Nerven. Das Schweigen von Ludwig Zipka! Was sie nie geglaubt hatte, war eingetroffen: Zipka hatte tatsächlich ihren Abschied vor dem Hotelportal als endgültig angesehen. Kein Brief mehr, kein Anruf, kein Lebenszeichen, nichts. In den ersten zwei Wochen nach ihrem Treffen überraschte sich Kathinka dabei, daß sie am Frühstückstisch saß und dem Briefträger auflauerte, der ihre Privatpost brachte. In der dritten Woche fragte sie ihn beiläufig: »Ist es eigentlich möglich, daß heutzutage noch Briefe verlorengehen?«
Die Antwort des Briefträgers trug nicht zu ihrer seelischen Stabilisierung bei. Er sagte: »Möglich ist alles, 'ne falsche Postleitzahl, und schon trudelt der Brief herum. Wird ja alles mechanisch gelesen. Eine Art Computer, der die Briefe sortiert. Aber auch Computer können sich irren. Fehlt Ihnen denn ein Brief?«
»Nein, nein!« Sie hatte abgewunken. »Es war nur eine grundsätzliche Frage.«
»Einschreiben ist immer sicherer.«
»Natürlich.«
Am Ende der dritten Woche spielte sie mit dem Gedanken, in München beim Einwohnermeldeamt nachzufragen, wo ein Ludwig Zipka wohnte. Doch dann verwarf sie diese Idee wieder. Anrufen mochte sie nicht – um keinen Preis!
Nach vier Wochen begann sich Kathinka Sorgen um sich selbst zu machen. Ich bin dreißig Jahre alt, sagte sie sich. Verdammt, das ist doch noch jung! Die besten Jahre einer Frau liegen noch vor mir. Aber immerhin ist man mit dreißig nicht mehr taufrisch, und es gibt Männer, die eine Frau über dreißig schon mit einer gewissen Altersehrfurcht begrüßen.
Wenn Zipka auch dazu gehört, bitte sehr! Dann soll er sich in den Diskotheken herumdrücken und sich dort Mädchen suchen. Jeder nach seinem Geschmack … Meiner ist es nicht! Aber solche Gedanken bohrten und waren wie ein Wurm, der einen knackigen Apfel durchhöhlt. Kathinka stand jetzt abends öfter vor dem Spiegel und betrachtete sich. Müde sehe ich aus, kritisierte sie dann ihr Spiegelbild. Abgeschlafft. Ränder unter den Augen, kleine Falten in den Mundwinkeln. Und der Blick ist etwas müde. Eigentlich kein Wunder, wenn man sich zehn Stunden mit hunderterlei Dingen herumschlägt, neue Pläne entwickelt, die Detailzeichnungen der Kollegen durchspricht, mit Bauherren verhandelt, auf den Baustellen den Fortgang der Arbeiten kontrolliert, die Angebote der Schreiner, Elektriker, Installateure und Dachdecker durchrechnet und mit Entsetzen feststellt, daß die vereinbarten Termine nie eingehalten werden können, weil der eine nicht pünktlich liefern kann und der andere in Urlaub gefahren ist. Jeden Tag zehn Stunden lang eine Springflut von Neuigkeiten und Entschlüssen – das gräbt sich in einen Menschen ein, vor allem in sein Gesicht. Kathinka Braun versuchte es mit äußeren Retuschen: Sie änderte die Frisur, sie wechselte das Make-up, sie lag jeden zweiten Tag unter der Höhensonne, sie ließ den Alkohol weg und trank nur noch Fruchtsäfte, ging früher ins Bett und schwamm jeden Morgen zehn Runden im Pool des Appartementhauses. Mit anderen Worten: Sie nahm sich mehr Zeit für sich selbst.
Auch Herbert Vollrath merkte die Veränderung: die Theaterbesuche wurden knapper, und die Stunden nach der Oper oder einem Konzert, die sie früher bei Kathinka mit Cocktails und langen Gesprächen verbracht hatten, fielen völlig weg.
»Was ist los mit dir?« fragte Vollrath eines Tages.
»Nichts …«
»Du weißt genau, daß diese Antwort falsch ist! Du bist nervös, gereizt, wie eine scharfe Bombe, die man nicht anrühren darf, sonst geht sie in die Luft. Du lebst gewissermaßen – außerhalb deiner Haut!«
»Blödsinn!«
»Auch das hättest du früher nicht gesagt. Wo liegen deine Sorgen?«
»Vielleicht in der Neugier meiner Umwelt und in ihren bohrenden Fragen«, erwiderte Kathinka angriffslustig. »Mein Gott, laßt mich doch in Ruhe! Ich fühle mich blendend, mein Blutdruck ist normal, meine Hirntätigkeit zeigt keine Ausfälle – was wollt ihr mehr?«
»Du bist ganz einfach urlaubsreif.«
Das hätte Vollrath nicht sagen dürfen, aber wie sollte er das wissen? Sie fuhr herum, blitzte ihn an und sagte gepreßt: »Ich fahre nicht in Urlaub! Dieses Jahr überhaupt nicht! Sieh mich nicht so an wie ein bettelnder Hund. Gute Nacht!« Sie ließ Vollrath stehen und verschwand im Haus.
Herbert schüttelte nur den Kopf und wartete, bis der Lift nach oben schwebte. Wie alle dachte auch er: Der tägliche Streß macht sie fertig. Es ist einfach zuviel für sie. Wenn sich Männer schon in ihrem Beruf verschleißen, um wieviel mehr dann eine Frau!
Und plötzlich, morgens um neun Uhr, klingelt das Telefon, und diese verfluchte, so sehr vermißte Stimme sagt: »Hier spricht Zipka.«
Kathinka Braun atmete tief durch und trank einen Schluck heißen Tee. Sagen konnte sie im Augenblick nichts. Zipkas Wiederauftauchen war zu plötzlich. Kathinka starrte aus dem Fenster über die Dächer von Hannover. Die Morgensonne vergoldete Ziegel und Schindeln. Eine Großstadt im Märchenglanz.
»Hören Sie mich?« fragte Zipka, weil seine Fröhlichkeit so ganz ohne Echo blieb.
»Natürlich. Ich habe nur einen Schluck Tee getrunken.«
»Sie sind Teetrinker? Fabelhaft! Ich auch! Meine Teemischung stelle ich selbst her. Grundlage: Darjeeling, Frühlingsernte. Die zarten Spitzen – die geben eine wundervolle hellgoldene Tasse Tee, wenn man einen Krümel Ceylon dazu mischt. Nicht länger als höchstens zwei, drei Minuten ziehen lassen! Ich kann Ihnen sagen, das rauscht in die Glieder und ins Gemüt! Da werden die Gelenke munter! Da tiriliert schon morgens ein Paradiesvöglein in den Hirnwindungen …«
»Was tut es?« fragte Kathinka verwirrt.
»Tiriliert! Pieppieptsitsiriririri …«
»Daß Sie kindisch sind, weiß ich seit unserer ersten Begegnung. Aber daß es so schlimm mit Ihnen steht …«
»Ihrer Stimmung nach müssen Sie starken Assamtee trinken.«
»Was wollen Sie eigentlich?« unterbrach ihn Kathinka barsch.
»Morgen ist der dritte Juni! Um wieviel Uhr geht es los? Frühmorgens? Das ist die beste Zeit, um in den Urlaub aufzubrechen. Frühmorgens, wenn die Hähne kräh'n …«
»Ich fahre nicht in Urlaub.«
»Dann muß die ganze Welt auf dem Kopf stehen.«
»Wieso?«
»Ich bin seit drei Tagen in Hannover …«
»Muß man Ihnen ins Gesicht sagen, daß Sie mir lästig fallen?«
»In Ihrer Firma sagte man mir – ich erlaubte mir anzurufen und mich als Fabrikant von geblümten Klobecken vorzustellen –, man sagte mir wörtlich: ›Die Chefin ist in Urlaub.‹ Die Chefin, sagten sie. Toll! Sie haben aber Zug in dem Laden! Die Chefin! Man hörte förmlich die Ehrfurcht gegen die Rippen hämmern.«
»Ich mache zu Hause Urlaub.«
»In Ihrer Autowerkstatt haben Sie an ihrem Todesflitzer eine große Inspektion vornehmen lassen. Zitat von Ihnen: ›Ich brauche ihn für eine Fahrt in den Süden. Er muß hundertprozentig in Ordnung sein.‹ Stimmt's?«
»Sie spionieren mir nach? Also, das ist eine bodenlose Frechheit!«
»Ich würde es lieber Vorsicht oder Selbsterhaltungstrieb nennen.« Zipka lachte jungenhaft. »Ich muß mich schließlich informieren, ob ich mich dieser vierrädrigen Rakete anvertrauen kann! Der Werkstattmeister sagte mir, der Wagen laufe jetzt wie eine Eins!«
»Ich werde die Werkstatt wechseln.«
»Kathinka Braun, warum sind Sie so verbittert? Sechs sonnige Wochen liegen vor uns. Die Riviera! Ich rieche schon den Lavendel. Ich kenne einige verträumte Strandbuchten, die noch ihren ursprünglichen Reiz bewahrt haben und wo es wirklich noch nach Lavendel riecht.«
»Ich habe keine Lust, Ihnen länger zuzuhören!« Kathinka Braun nahm wieder einen Schluck Tee, er war leider kalt geworden. »Riviera ist gestrichen! Wenn ich fahre, hören Sie, wenn ich fahre, dann in die Camargue. Aber ich fahre nicht!«
»Die Camargue«, sagte Zipka. Seine Stimme nahm einen verträumt-romantischen Klang an. »Welch ein verzaubertes Fleckchen Welt! Das riesige Rhônedelta, die Etangs mit ihren Flamingoschwärmen, die Salzseen, das mannshohe Gras und der wilde Galopp von Herden weißer Pferde! Darüber ein unendlicher Himmel, eine Weite überall, in der der Mensch seine Winzigkeit begreift. Ein Urlaub, wo die Natur wirklich noch Gottes Schöpfung ist und nicht das Zeichenbrettwerk von Landschaftsgestaltern. Alles atmet Größe und unberührte Schönheit. Camargue – das ist ein blendender Gedanke von Ihnen! Durch die Myriaden von Mücken, Käfern und anderen Insekten sind die Fische dort maßlos verwöhnt. Ich werde eine neue Anglerfliege konstruieren: Die Zipkasche Camargue-Fliege!«
»Ende!« sagte Kathinka hart und legte auf. Dann saß sie vor dem Telefon, wartete, rauchte nervös eine Zigarette und kaute an einem Brötchen mit Honig. Als es wieder klingelte, zählte sie bis acht. Erst dann meldete sie sich.
»Ja?« Es sollte unbefangen und gleichgültig klingen.
»Ich habe einmal ein Buch über die Camargue gelesen«, sagte Zipka, als sei er nicht unterbrochen worden. »Ein herrliches, dramatisches Buch. Da verliebte sich ein weißer Hengst in seine Reiterin.«
»Ich lege sofort wieder auf«, zischte Kathinka.
»Bitte, nicht! Wann fahren wir?«
»Gar nicht! Ihre Sturheit ist anscheinend krankhaft! Sie hätten sich alle Unkosten sparen können. Die Fahrt hierher, das Hotel …«
»Hotel ›Welfenpark‹«, warf er ein.
»Ich dachte es mir. Herr Zipka, mein letztes Wort: Ich habe kein Interesse daran, Sie wiederzusehen.«
Sie legte auf, bevor er antworten konnte. Sie atmete tief durch, trank den kalten Tee aus und ging dann an das große Panoramafenster. Sie drückte die Stirn gegen die Scheibe und merkte erst jetzt, wie heiß ihr Kopf war, weil sich das Glas so köstlich kühl anfühlte.
Sie wartete, Sie saß untätig herum, sie las in der Morgenzeitung, ohne aufzunehmen, was sie las und verbrachte so eine ganze Stunde. Das Telefon schwieg. Ein ekelhafter Mensch, dachte sie. Ein Dauerredner! Ein Schwätzer, der sich sehr klug und charmant vorkommt; ein Blender, der mit Worten jongliert, um dahinter seine geistige Hohlheit zu verbergen. Die Zipkasche Camargue-Fliege! Wenn man so etwas hört …
Schließlich begann Kathinka zu packen. Zwei Koffer, zwei große Reisetaschen, ein Transistorradio, einen Kamerabeutel, das starke Fernglas. Mit dem Lift brachte sie alles in die Tiefgarage und belud damit ihren Wagen.
Dann rief sie den völlig überraschten Herbert Vollrath an, um sich zu verabschieden.
»Ich fahre nun doch«, sagte sie. »Ich habe mich ganz kurz entschlossen. Ich dachte, in die Camargue …«
»Allein? Kathi, da kommst du doch vor Einsamkeit um! Das ist keine Gegend für eine alleinreisende Frau! Die Weite und die Eintönigkeit machen dich verrückt!«
»Ich brauche Ruhe, Herbert. Absolute Ruhe.«
»Du bist nicht die Frau, die wochenlang wie der erste Mensch leben kann. Wenn schon diese Gegend, dann fahre in die Provence. Besuche Arles, Avignon, Nîmes … Tanke Kunst und die Sonne von Jahrhunderten. Durchstreife das Land der Troubadours!«
»Vielleicht.« Sie blickte über das Lichtgeflimmer der nächtlichen Großstadt. »Kennst du zufällig ein Buch, das in der Camargue spielt?«
»Da gibt es viele Bücher.«
»Eins, in dem sich ein Pferd – in seine Reiterin verliebt?«
»So etwas Blödes lese ich nicht, Kathi.«
»Das stimmt, das Buch soll furchtbar blöd sein. Ich habe auch nur davon gehört. Also dann, mach's gut, Herbert. In sechs Wochen hörst du wieder von mir.«
»Halt, Kathi.« Vollraths Stimme klang gehetzt. »Wann fährst du?«
»Morgen. Ganz früh. So gegen fünf Uhr. Warum?«
»Ich wollte dir einen Abschiedskuß geben. Darf ich noch vorbeikommen?«
»Nein, Herbert. Bitte nicht. Warum denn alles komplizieren?«
»Soll ich mitfahren? Ein Wort von dir …«
»Du bist mein liebster Freund. Bitte, bleibe es!«
In der Nacht schlief Kathinka Braun kaum. Sie hörte in einer Art Dämmerschlaf den Wecker ticken, irgendwo in der Wohnung knackte es, dann war es ihr, als belausche sie ihren eigenen Atem. Trotzdem schrak sie aus tiefem Schlaf hoch, als der Wecker klingelte. Vier Uhr morgens. Über Hannover ging die Sonne auf. Blutrot, in Wolken schwimmend. Die Dächer flammten, als brenne die ganze Stadt.
Kurz vor fünf Uhr bog Kathinka in die Auffahrt des Hotels ›Welfenpark‹ ein und bremste forsch vor dem säulengetragenen Eingang. Ludwig Zipka saß auf einem mittelgroßen Koffer und winkte ihr zu.
Der Nachtportier, der ihm bis jetzt Gesellschaft geleistet hatte, kam mit einem Rucksack und einer zusammengeklappten Staffelei aus dem Hotel. Verwundert sah Kathinka zu, wie der Mann Koffer, Rucksack und Staffelei auf dem Hintersitz verstaute und dann mit einem freundlichen »Gute Reise« wieder im Hotel verschwand.
Zipka riß die Beifahrertür auf. »Woher wußten Sie, daß ich um fünf Uhr hier vorbeikomme?« fragte Kathinka, nicht sehr freundlich.
»Intuition! Ich sagte mir: Wenn sie beim Morgengrauen aufsteht, muß sie gegen fünf Uhr hier sein. Ich habe vor einer Viertelstunde bei Ihnen angerufen, keiner meldete sich – also waren Sie unterwegs.«
»Frechheit!«
»Ich würde es eher den Ausdruck einer einfühlsamen Genialität nennen.« Ludwig Zipka setzte sich in das weiche Lederpolster und schnallte sich sofort an. Dann faltete er die Hände und seufzte: »Nur zur Information: Ich habe meine Lebensversicherung erhöht.«
»Sie können sofort wieder aussteigen!« fauchte Kathinka ihn an. »Ist das Ihr ganzes Gepäck?«
»Ich bin ein bescheidener Mensch.«
»Was wollen Sie mit der Staffelei? Malen Sie etwa auch noch?«
»Sie haben vergessen, daß ich die Zipkasche Camargue-Fliege entwerfen will?«
»Auf einer Staffelei? Wie ein Ölgemälde?«
»Meine Fliegen sind Kunstwerke, das werden Sie noch erkennen. Ich wette mit Ihnen, daß Rembrandt solche Fliegen nicht malen konnte.«
»Das glaube ich Ihnen. Aber ich warne Sie. Ich bin sehr impulsiv.«
»Herrlich!«
»Vielleicht schlage ich Ihnen das Bild auf den Kopf!«
»Kopf! Das ist es!« Zipka sah Kathinka von der Seite an. »Sie haben eine andere Frisur.«
»Das fällt Ihnen auf?«
»Die andere gefiel mir besser.«
»Mir nicht!«
»Sie machte Ihr Gesicht weicher.«
»Ich will kein weiches Gesicht haben. Ich hasse Weichheit in jeglicher Form.«
»Sie sahen wie ein Engel aus …«
»Hören Sie auf! Ich bin kein Engel.«
»Sie haben mich nicht ausreden lassen: Sie sahen wie ein Engel aus, der im Auftrage Gottes die Sünder auf Erden testet!«
»Ich hätte die größte Lust, Sie aus dem Wagen zu werfen.«
»Das ist schwierig. Ich bin angeschnallt. Beim ersten Flitzer, dem Götterboten Hermes – er stehe uns bei! – donnern Sie los, Tinka!«
Sie zuckte wie unter einem Schlag zusammen und drehte sich dann blitzschnell zu Zipka um. Ihre Augen sprühten förmlich Funken. »Was haben Sie da eben gesagt?« zischte sie böse.
»Ich habe nur Hermes beschworen. Den olympischen Rallyefahrer …«
»Nein! Das letzte Wort!«
»Tinka.«
»Sind Sie total verrückt?«
»Tinka ist meiner Meinung nach die zärtlichste Kurzform von Kathinka. Kathi – das ist doch Kartoffelsuppe gegen Tinka! Tinka, das ist der herbe Hauch von Steppe und Kirschblüten. Ihr Vater muß hellseherische Fähigkeiten besessen haben.«
Sie suchte nach einer passenden Antwort, fand jedoch keine, was sie noch wütender machte. Es war wohl das erstemal, daß sie einem Mann eine Antwort schuldig blieb. Dafür trat sie das Gaspedal durch und umklammerte das Lenkrad. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und raste mit heulendem Motor davon. Zipka wurde in das Polster gepreßt und suchte Halt am Armaturenbrett.
»Hoppla!« rief er fröhlich. »Geht es schon los? Glauben Sie, daß wir die Autobahnauffahrt ohne gesundheitliche Schäden erreichen?«
»Wenn Sie Angst haben, können Sie jederzeit aussteigen.«
»Ich halte es schon durch.«
Sie waren die Hotelauffahrt hinuntergefahren und kamen dabei an einem blauen VW vorbei. Sie beachteten ihn nicht, aber um so mehr wurden sie von den beiden jungen Männern beobachtet, die mißmutig durch die Scheibe starrten.
»Ich denke, sie fährt allein?« fragte der eine.
»Das hat sie in der Werkstatt auch gesagt.«
»Und wer ist der Typ, der da neben ihr sitzt?«
»Keine Ahnung. Von dem war nie die Rede.«
»Was nun?«
»Es läuft alles so wie geplant. Dem Typ hauen wir eins vor die Nuß, und still ist er! Für zwei Millionen ist so'n Risiko eben drin.«
Sie starteten den Motor und fuhren rasch dem Sportwagen nach. Ein paar hundert Meter danach hatten sie ihn eingeholt, denn Kathinka Braun war auf ein normales Tempo heruntergegangen. Ludwig Zipka hatte ihr erklärt, so schnell, wie er wolle, könne er gar nicht mit den Zähnen klappern.
»Wie haben Sie sich diese Reise eigentlich vorgestellt?« fragte Kathinka.
»Das ist eine schwer zu beantwortende Frage«, entgegnet Zipka.
»Was erwarten Sie?«
»Sonne, Meer, blauen Himmel, süßes Nichtstun. Ich muß ja umdenken.«
»Wieso umdenken?«
»Zuerst hieß das Ziel Riviera. Da hätte ich mit wilden Nächten gerechnet. Aber jetzt, in der Camargue, da werden wir ganz in der Natur aufgehen. Wir werden die Flamingos beobachten, wie sich ihre Federchen rupfen …«
»Mir ist es ein Rätsel, warum Sie überhaupt mitfahren, wenn Sie alles und jedes albern finden und ins Lächerliche ziehen.«
»Und mir ist es ein Rätsel, warum Sie per Zeitungsanzeige einen Begleiter suchten. Meine Neugier ist deshalb grenzenlos …«
»Sie werden sehr enttäuscht sein.«
»Abwarten.«
»Vielleicht bin ich eine hysterische Person, die für sechs Wochen einen Blitzableiter für ihre Launen braucht …«
»Nur zu!« Zipka lachte wieder einmal fröhlich. »Ich bin für alles zu gebrauchen. Nur noch eine Frage, Tinka …«
»Sie sollen das gräßliche Wort nicht gebrauchen.«
»Wir haben getrennte Kasse.«
»Natürlich.«
»Ich beanspruche aber auch eine getrennte – Biologie.«
»Was bitte?« Sie schielte zu ihm hinüber. Vor ihnen lag der Zubringer zur Autobahn, Kathinka fuhr jetzt wieder schneller.
»Wie soll ich das ohne Anstößigkeit ausdrücken? Erklären wir es so: Wenn mir in den sechs Wochen ein nettes Mädchen begegnet, das nicht abgeneigt ist … Sie verstehen? Dann beanspruche ich meine persönliche Freiheit in Dingen der Erotik. Sechs Wochen jodhaltige Meeresluft, die Sonneneinstrahlung, das Gefühl der Freiheit, da muß es einem ja in den Adern prickeln! Ich habe nicht vor, sechs Wochen lang den Mönch zu spielen.«
»Ich auch nicht. Wir haben jeder unsere persönliche Freiheit. Und wir können uns jederzeit trennen, wenn wir merken, daß wir uns gegenseitig zu stark auf die Nerven fallen.«
»Genau das wollte ich gesagt haben!« Zipka lehnte sich zufrieden zurück. »Es soll nämlich sehr schöne Mädchen in der Camargue geben. Urgesund, mit runden Hüften und stämmigen Beinen. Mit der Natur verwachsen, von der Zivilisation noch nicht angekränkelt. Ha!«
Kathinka zuckte zusammen. »Was haben Sie denn? Warum schreien Sie so?«
»Das war ein Vorfreudenlaut!«
»Bei der ersten Autobahnraststätte steigen Sie aus!« erklärte Kathinka wütend. »Wenn Sie nur deswegen mitfahren … Sie können mit einem Taxi nach Hannover zurück. Ich stelle fest, daß Sie der denkbar ungeeignetste Reisebegleiter sind, den man sich überhaupt vorstellen kann. Überheblich, arrogant, geschwätzig – kurz: ein Ekel!«
Sie hatten die Autobahn erreicht. Kathinka gab Vollgas und raste wie eine Wilde auf der linken Fahrbahn dahin. Wer vor ihr war, den scheuchte sie mit der Lichthupe zur Seite.
»Genügt das, Herr Zipka?«
»Vollkommen!« Zipka öffnete den Kragenknopf.
In dem donnernden Sportwagen wurde die Luft warm.
»Hatten Sie auf ein Abenteuer gehofft?«
»Ganz offen: Ja!«
»Getrennte Zimmer, aber mit offener Verbindungstür …«
»Gewiß, mit allem Drum und Dran. Wenn man so eine Zeitungsannonce liest, geht doch zuerst die Phantasie mit einem durch. Aber dann trafen wir uns, und ich fragte mich: Warum tut sie das? Sie ist eine der schönsten und attraktivsten Frauen, die ich je gesehen habe, sie hat den Erfolg gepachtet, sie kann sich die Welt zu Füßen legen … Aber sie sucht per Zeitungsanzeige einen Reisebegleiter! Das paßt doch alles nicht zusammen.«
»Sie fahren also aus reiner Neugier mit?«
»Man kann es so nennen.«
»Übrigens möchte ich Ihnen mitteilen, daß ich verlobt bin«, sagte Kathinka plötzlich.
»Sieh mal einer an!« bemerkte Zipka nur. Er schien nicht sehr beeindruckt.
»Seit vier Jahren.«
»Ein Russe?«
»Wieso ein Russe?«
»Weil er so geduldig warten kann. Russen sind unschlagbar in ihrem Zeitgefühl.«
»Er ist Dozent.«
»Aha! Und seit vier Jahren redet er auf Sie ein, ohne daß er weiterkommt. Der Herr scheint keine große Überzeugungsgabe zu besitzen. – Weiß er, daß Sie mit mir zu den Flamingoherden fahren?«
»Er kennt mein Reiseziel, selbstredend.«
»Und kommt nicht sofort hinterher? Überholt uns, schneidet uns den Weg ab, zerrt mich aus dem Wagen und verprügelt mich …?«
»Das würden Sie tun, nicht wahr?«
»Aber sofort! Ich würde jeden anderen Mann an Ihrer Seite zerstückeln! Ihr Dauerverlobter muß ein komischer Heiliger sein.«
»Er ist ein Gentleman.«
»Aha! Dann werde ich nie ein Gentleman sein.«
»Wir hatten vorhin doch vereinbart, daß jeder von uns sein eigenes Leben führen kann.«
»Das stimmt. Ich bin ja auch nicht mit Ihnen verlobt.«
»Das wäre allerdings grauenhaft!«
Zipka nickte und klopfte mit dem Zeigefinger gegen die Windschutzscheibe. »Noch fünfzehn Kilometer!« sagte er plötzlich.
Kathinka starrte ihn verblüfft an. Sie wechselte sogar auf die rechte Fahrbahn hinüber. »Was ist mit fünfzehn Kilometern?«
»Da war ein Schild. Nächste Tankstelle fünfzehn Kilometer.«
»Ich habe vollgetankt.«
»Aber ich kann dort ein Taxi bekommen. Sie wollten mich doch loswerden?«
»Sie sind ein Brechmittel.«
»Ich weiß. Aber vergessen Sie nicht, daß Brechmittel auch Arznei sein können. Sie treiben alles Belastende hinaus! Hinterher fühlt man sich erleichtert. Und man beschließt, vernünftiger zu leben …«
»Sie hätten Laienprediger werden sollen«, sagte Kathinka bissig. Sie blickte kurz in den Rückspiegel. Ein blauer VW fuhr hinter ihnen her, der gerade von einer großen Limousine überholt wurde. Kathinka handelte schnell, scherte aus und gab von neuem Vollgas.
Der schwere Wagen hinter ihnen hupte und ließ protestierend die Scheinwerfer aufleuchten.
»Sie haben ihn geschnitten!« stellte Zipka sachlich fest. »Der Fahrer wird jetzt fluchen: Typisch Frau am Steuer!«
»Diese Überheblichkeit der Männer! Ihr wollt wohl alles besser können.«
»O je!« Zipka schlug die Hände zusammen. »Kommen Sie jetzt bloß nicht damit heraus, daß Sie eine Emanzipierte sind! Eine Feministin! Tun Sie mir das bitte nicht an! Dann müßte ich Sie nämlich anflehen, mich sofort abzusetzen. Ich fahre per Anhalter weiter.«
»Warum wollen Sie flüchten?«
»Ich will verhindern, daß an mir stellvertretend für alle Männer Rache genommen wird. Unter diesen Umständen würden sechs Wochen Urlaub nichts anderes sein als sechs Wochen unbarmherziger Krieg.«
»Sie haben es erkannt, Herr Zipka«, antwortete Kathinka ruhig. »Genügt Ihnen das als Erklärung für meine Zeitungsanzeige?«
»Akzeptiert!« Zipka beugte sich vor und stellte das Autoradio an. Flotte Tanzmusik erklang. »Womit beginnen wir? Wie eröffnen Sie den Krieg, Tinka?«
»Indem ich zähle, wie oft Sie noch ›Tinka‹ sagen und Ihnen später für jedes Tinka einen Tritt gegen das Schienbein verpasse.« Sie lächelte ihn an. Es war ein böses Lächeln, wenigstens sollte es so aussehen. »Ich nenne Sie ja auch nicht Lu.«
»Das wäre auch ungerecht. Lu klingt so schwül, das träfe nicht meinen Charakter. Aber wenn wir uns auf ›Wig‹ einigen könnten, wäre ich einverstanden.«
»Wig? Soll das etwa originell sein?«
»Ja. Wig könnte ein Markenzeichen werden. Als Abkürzung für ›wird immer geliebt‹! Wenn Sie Wig rufen, wüßte ich immer, daß Ihr Herz spricht.«
»Albernheit! Das wäre wie ein Rückfall in die Stammelsprache.«
Zipka zuckte hoch und warf die Arme nach oben. »Halt!« schrie er. »Bremsen! Nach rechts …«
»Was ist denn los?« Kathinka umklammerte das Lenkrad. Statt zu bremsen, drückte sie das Gaspedal voll durch. »Warum brüllen Sie denn?«
»Da war eine Tankstelle! Ich wollte doch raus!«
»Zu spät! Jetzt sehen Sie, wie Ihre dummen Reden die Konzentration beeinträchtigen.«
»Die nächste Tankstelle ist 54 Kilometerweiter.«
»Die überleben wir auch noch.«
»Aber das Taxi wird immer teurer.«
»Ich spendiere die Hälfte des Fahrpreises. Einverstanden?«
»Angenommen.« Zipka lehnte sich von neuem in das Polster zurück. Weiches naturfarbenes Leder, das etwas süßlich duftete. »Tinka …«
»Noch ein Tritt – nachher!«
»Ich freue mich auf die Camargue.«
»Sie werden sie nie erreichen.«
»Wenn Sie so weiterrasen, glaube ich das auch.«
Kathinka Braun zögerte, dann nahm sie den Fuß vom Gaspedal und fuhr vernünftig. Von weitem näherte sich der blaue VW. Der Fahrer pfiff durch die Zähne und wischte sich mit dem Ellbogen den Schweiß aus der Stirn. Der junge Mann neben ihm sagte laut »Uff!« und suchte dann in seiner Jackentasche nach der Zigarettenschachtel. »Wenn die immer so aufdreht, rast sie uns davon! So'n Blödsinn, mit 'nem alten VW diesen Flitzer zu verfolgen.«
»Wenn wir die Kohlen haben, kannste dir auch einen Sportwagen leisten!«
»Und wo willst du das Ding steigen lassen?«
»Wie geplant, in Frankreich. Da kann sie uns nicht davonfahren, da ist harte Geschwindigkeitsbegrenzung.«
»Was mir gar nicht gefällt, ist der Typ bei ihr. Wohin mit dem? Sollen wir den etwa auch mit rumschleppen?«
»Wir können ihn nicht wegblasen.«
»Warum nicht?«
Die beiden sahen sich kurz an. Sie hatten aufgeholt und fuhren jetzt direkt hinter Kathinka Braun her. Sie sahen, wie ihr Begleiter auf dem Sitz kniete und in den Gepäckstücken auf der schmalen Hinterbank wühlte. Er holte einen hellgelben Plastiksack hervor und nahm den Deckel ab.
»Der Kerl frißt Bananen«, stellte der Fahrer des blauen VW fest. »Wenn der wüßte, was in Frankreich mit ihm passiert …«
Kathinka Braun sah mißbilligend auf den Plastikkasten mit Butterbroten und den drei Bananen. Zipka schälte gerade ein Prachtexemplar mit liebevoller Hingabe.
»Das fehlte mir gerade noch!« sagte sie giftig. »Ein Freßpaket! Kartoffelsalat mit Würstchen!«
»Nein. Vollkornbrot mit Käse. Und Bananen! Vollkornbrot fördert die Verdauung, enthält Mineralien und Spurenelemente, wirkt entschlackend. Von einem Reisebegleiter dürfen Sie erwarten, daß er gesund ist, Tinka.«
»Nummer fünf!« Sie trommelte nervös gegen das Lenkrad. »Müssen Sie jetzt unbedingt essen?«
»Ich bin noch nüchtern.«
»Ich auch.«
»Ein leerer Magen am Morgen macht mißgestimmt.«
»Ich habe Tee getrunken.«
»Das genügt nicht. Obwohl wir getrennte Kasse ausgemacht haben, will ich nicht kleinlich sein und mit Ihnen mein Frühstück teilen. Ich habe Camembert und Trappistenkäse auf den Broten.«
»Trappisten? Das ist doch der Mönchsorden, der ewiges Schweigen gelobt hat? Ein Trappist darf nicht mehr reden …«
»Richtig. Der Käse dieses Namens beeindruckt mich immer wieder. Es strömt so viel Beruhigendes von ihm aus.«
»Himmel! Um Ihnen zuzuhören, muß man Nerven wie Drahtseile haben.«
Sie ging mit der Geschwindigkeit noch mehr herunter, blickte dann nach rechts und fuhr auf einen Rastplatz.
Zwischen hohen Buchen und Birken standen ein paar Steinbänke und Steintische; an diesem frühen Morgen waren sie noch leer. Drei Lastzüge parkten nahe der Ausfahrt. Die Fernfahrer schliefen noch, ihre Kabinen waren verhängt.
Auch der blaue VW bog auf den Rastplatz ein und hielt in unauffälliger Entfernung. Kathinka Braun stieg aus, reckte sich und schüttelte die Haare. Auch Zipka kletterte vom Sitz, vollführte drei zackige Kniebeugen und meinte laut: »Ha, diese Luft! Und wie die Knochen krachen! In Ihrem Wagen muß man direkt zusammengeklappt sitzen.«
Dann saßen sie an einem der Tische. Zipka hatte seine Plastikdose ausgepackt, eine große Papierserviette wie ein Tischtuch ausgebreitet und servierte Kathinka seine Käsebrote. Auch eine Thermosflasche hatte er hervorgeholt. Der Tee war goldgelb und duftete köstlich: Zipkasche Mischung.
»Wissen Sie, daß es das erstemal ist, daß ich auf einem Rastplatz aus einem Behälter esse?« fragte Katinka.
»Und – gefällt es Ihnen?«
»Eigentlich ja.«
»Was heißt eigentlich?«
»Wenn es nicht gerade mit Ihnen wäre …«
Die beiden Männer aus dem blauen VW hockten zwanzig Meter weiter an einem Tisch und rauchten stumm. Sie musterten Ludwig Zipka und taxierten seine Stärke.
»Viel hat er nicht drauf!« meinte der Fahrer leise. »Den tippen wir an, und dann fällt er um. Es ist nur blöd, daß wir ihn mitschleppen müssen! Keine Komplikationen, hatten wir ausgemacht. Auf gar keinen Fall einen Toten! Die ganze Sache muß in dieser Beziehung sauber bleiben …«