9
Bevor der Chauffeur des Marquis mit dem schweren Wagen kam, um die Gäste abzuholen, fotografierte Zipka das Mädchen noch von allen Seiten. Zuerst weigerte sich Lulu, dann wehrte sie sich. An diese Komplikation hatte sie nicht gedacht. Aber jetzt gab es kein Entrinnen mehr, auch keine Begründung, warum sie nicht fotografiert werden wollte. Sie rief immer nur: »Ich will nicht! Ich will nicht!« – wie ein trotziges Kind. Sie lief vor der Kamera weg, spielte die Erschrockene, drehte ihr Gesicht zur Wand, schnitt schauerliche Grimassen, streckte die Zunge heraus, schielte und blähte die Backen auf wie ein Ochsenfrosch. Zipka war von einer geradezu missionarischen Geduld, redete ihr gut zu und versuchte zu erklären, bis Kathinka energisch sagte: »Lulu, wenn Sie weiter so ein Theater machen, haue ich Ihnen eine runter!«
»Dann kratze ich Ihnen die Augen aus!« rief Lulu zurück. »Ich erwürge Sie! Sie wissen nicht, wieviel Kraft ich habe!«
»Ich bringe Sie gefesselt nach Arles!« versetzte Kathinka unbeeindruckt.
Lulu wandte sich an Zipka, der an seiner Kamera hantierte. »Sie will mich …«, schrie sie hell.
»Ja! Ich auch!«
»Sie auch, Monsieur?«
Es war, als falle das Mädchen in sich zusammen. Aber Lulus Gedanken jagten. Hier muß Raoul helfen! Die Filme dürfen nie zur Entwicklung kommen. Es ist völlig unmöglich, daß die Fotos in die Zeitungen kommen! Schon auf dem Weg zum Fotografen muß der Film verlorengehen, er muß vernichtet werden.
Lulu senkte den Kopf. »Ich bin in Ihrer Gewalt, Monsieur.«
»Nicht doch! Das ist ein falscher Ausdruck, Lulu. Die Fotos sollen dir doch nur helfen, sie sollen dein richtiges Leben zurückholen …« Er duzte sie jetzt wie ein Kind, führte sie hinter die Mühle und stellte sie gegen eine verwitterte Holzwand. Dann machte er Aufnahmen – von vorn, im Profil, nur den Kopf, dann die ganze Figur. Er knipste den ganzen Film – sechsunddreißig Aufnahmen – ab und ging mit Lulu zurück in die Mühle. Kathinka hatte bereits gepackt, einen Koffer für sich, einen kleinen für Zipka. Nur das Notwendigste, um jederzeit sagen zu können, man müsse zur Mühle zurück, um dieses oder jenes zu holen. Damit konnte man auch begründen, warum man die Mühle nicht freigab: Die Tage bei dem Marquis sollten nur ein Besuch sein, bis sich Madame von dem Schock der letzten Stunden erholt hatte – so wollte man es ausdrücken. Den Urlaub wollte man dann darauf weiterhin in der Moulin St. Jacques verbringen.
Pünktlich um die Mittagszeit meldete Lulu, die an der Tür aufpaßte: »Er kommt!«
Ludwig und Kathinka trugen ihre Koffer hinaus, beluden damit Kathinkas Sportwagen und taten so, als würden sie die Tür zur Mühle abschließen. Lulu rief ihnen von drinnen noch zu: »Viel Glück!«, dann bremste Alain auf dem Vorplatz und stieg aus. Er trug wieder seine blaue Livree, riß die Mütze vom Kopf und verbeugte sich tief. »Ich soll Madame zu dem Herrn Marquis bringen.«
»Danke, ich fahre selbst.«
»Der Herr Marquis hat mir ausdrücklich befohlen, Madame nicht fahren zu lassen. Er bittet sehr darum, daß Madame seinen Wagen benutzen. Der Herr Marquis möchte nicht, daß Madame die Mühe des Fahrens auf sich nehmen. Den Wagen von Madame kann Monsieur nachbringen.«
»Zu gütig!« sagte Zipka giftig. »Ein wahrer Gentleman!«
Kathinka lachte verhalten. »Du wärest nie auf die Idee gekommen, daß ich nervenschwaches Weib in diesem desolaten Zustand nicht mehr fahren darf. Deine Beruhigungstherapie hätte vielleicht darin bestanden, mich mit einer Angel an einen stinkenden Tümpel zu setzen, in dem gar keine Fische sind …«
»Fahren wir endlich!« sagte Zipka wütend und stieg in Kathinkas offenen Sportwagen. »Wo steigst du ein?«
»Natürlich bei dem Marquis.«
»Also dann!« Zipka drehte den Zündschlüssel herum. »Ich freue mich.«
»Auf einmal?«
»Ja. So etwas wie mich hat der gute Herr Marquis bestimmt noch nicht erlebt!«
»Du willst dich also bewußt danebenbenehmen?«
»Wie die Faust aufs Auge! Das verspreche ich dir. Dem lieben Marquis werden büschelweise weiße Haare wachsen. Ich habe bislang immer einen Priem verabscheut …«
»Einen – was?«
»Einen Priem. So einen Knoten Kautabak.«
»Pfui Teufel! Was soll das?«
»Ich werde mich daran gewöhnen müssen. Mit einem Priem im Mund kann man wunderbar gegen ehrwürdige Ahnenbilder spucken …«
»Wig!« Sie blieb neben ihrem Wagen stehen und blickte ernst auf Zipka hinab. »Wenn du das tust, gehen wir auseinander.«
»Hängt deine große Liebe von einem Stück Kautabak ab?«
»Nein. Aber ich möchte mich nicht blamieren, so etwas wie dich zum Mann zu haben. Jeder denkt doch, wir seien ein Ehepaar.«
»Kaum hat man sich an eine Frau gewöhnt, schon fängt die Unfreiheit an! Also gut, ich werde mich gesittet benehmen. Madame, steigen Sie ein! Alain steht noch immer mit entblößtem Kopf da, dem Guten friert im frischen Wind das Hirn ein! Aber noch eins Madame: Ich schlucke arrogante Frechheiten des Marquis nur bis zum Gaumen, dann spucke ich zurück. Das bin ich meiner Ehre schuldig! – So, und jetzt fahr ab, mein Liebling.«
Nach einer knappen halben Stunde erreichten sie das ringsum abgesperrte Landgut des Marquis de Formentiére. Durch ein großes Tor gelangte man in einen weiten Innenhof, dessen hinteren Abschluß das breit daliegende Herrenhaus bildete. Links und rechts lagen Stallungen, Scheunen, Magazine, Garagen und Hallen für die Landmaschinen. Im Torhaus wohnte anscheinend der Froschmann und Chauffeur Alain, merkwürdigerweise der einzige Angestellte des großen Besitzes. Das Gut war im provenzalischen Stil erbaut, sehr rustikal und sehr romantisch, auch sehr wehrhaft mit seinen dicken Natursteinmauern.
Raoul de Formentiére stand in der breiten Tür des Herrenhauses, als die beiden Wagen in den Innenhof fuhren. Dann erschienen auch zwei ältere Frauen, denen man die Bäuerinnen der Camargue ansah – sie waren nur tagsüber auf dem Gut und wurden abends in ihr Dorf zurückgebracht. Zu diesem Zweck stand ein alter Renault bereit; undenkbar, daß man sie in der Luxuslimousine sitzen ließ.
Mit ausgestreckten Händen ging der Marquis auf Kathinka Braun zu. »Willkommen!« rief er enthusiastisch, »willkommen! Erwarten Sie keinen Palast, Madame, aber hier sind Sie sicher vor Geistern, Spuk und plötzlich auftauchenden Menschen ohne Gedächtnis.«
»Sie haben es hier wunderbar, Marquis!« Kathinka blickte sich um und gewahrte gerade noch das große Tor, das sich wie von Geisterhand selbst schloß. Ein Luxusgefängnis, dachte sie unwillkürlich. Wenn der Marquis es nicht will, kommt hier keiner mehr heraus! Eine abgeschlossene Welt, um die sich niemand kümmert.
Ein leichter kühler Schauer lief über Kathinkas Rücken. Sie sah zu Zipka hin und war glücklich, daß er bei ihr war. Anscheinend ließ er sich durch nichts beeindrucken. Er stieg aus dem Sportwagen, machte wieder seine gewohnten Lockerungsübungen, rief laut »Uff!« und gähnte ungeniert.
Der Marquis sah ihn indigniert an. »Machen Sie das immer?« fragte er.
»Was?« gab Zipka unschuldig zurück.
»Dieses komische Turnen, wenn Sie aus dem Wagen steigen?«
»So kann nur einer fragen, der nicht um des Gefühles willen, in einer Rakete zu sitzen, seine Muskeln und Sehnen in Falten legt. Aber es ist ja der Wagen meiner Frau. Ich selbst bevorzuge Autotypen, wo man wie in einem Klubsessel sitzt. Sie müssen nämlich wissen, daß ich ein bequemer Mensch bin.«
Das Innere des Herrenhauses war überwältigend wertvoll und doch angenehm einfach. Die Möbel waren echte Antiquitäten, die Bilder an den gekalkten Wänden wahre Museumsstücke, die Teppiche auf den Klinkerböden so wertvoll, daß man versucht war, um sie herumzugehen. Raoul de Formentiére schien ein Liebhaber und Kenner der Antike zu sein, überall, wo man etwas abstellen konnte, standen Ausgrabungen: Töpfe, Schalen, Gliedmaßen aus Marmor, kleine Amphoren aus Glas, Ton oder Stein, mythische Tierplastiken, Münzen, Versteinerungen. Der riesige Wohnraum wurde von einem aus dicken Flußsteinen gemauerten Kamin beherrscht. Hier stand die einzige moderne Einrichtung: eine Sesselgruppe aus naturbelassenem Büffelleder von Stieren der Camargue.
»Phantastisch!« sagte Kathinka und meinte es ganz ehrlich, obwohl ihr inneres Frieren zunahm. »Ich kann es beurteilen, Marquis, ich bin Architektin.«
»Welch ein Zufall und welch ein Glück!« rief der Marquis mit großer Geste aus. »Seit einem Jahr trage ich den Plan mit mir herum, das Haus umzubauen. Madame – ich lege es in Ihre Hände! Wollen Sie meinen Besitz neu gestalten? Ich schreibe Ihnen nichts vor – ich beuge mich voll Ihrer Phantasie.« Er drehte sich herum und blickte Zipka an, der an dem wirklich riesigen Kamin stand und über die in Jahrmillionen rund geschliffenen Flußsteine strich. »Sie sind auch Architekt?«
»Nein. Designer.«
»Innenarchitekt?«
»Man kann es kaum so nennen.« Zipka lehnte sich gegen den Kamin und begann zu dozieren: »Wenn man beispielsweise einen Barsch fängt, lateinisch Perca fluviatilis, dann kennt sich ein guter Angler genau in der Psyche dieses Fisches aus. Er wird ihn anders locken als eine Forelle oder einen Karpfen …«
»Das verstehe ich nicht«, sagte der Marquis irritiert.
»Mein Beruf ist etwas ungewöhnlich. Ich entwickle Lockmittel für Fische.«
»Und davon kann man leben?«
»Solange es Fische gibt …« Zipka nickte zur Seite. »Sie haben in dem Kamin nie Feuer angemacht?«
Raoul de Formentiére winkte lässig ab. »Er zieht nicht. Eine Fehlkonstruktion! Ich habe ihn nie umbauen lassen. Warum auch? Mich erfreut seine Form – heizen braucht er nicht. Dafür gibt es Öl.«
Alain erschien in der Wohnhalle. Er hatte sich wieder umgezogen und trug nun die Uniform eines Butlers. Auf einem Tablett brachte er drei Champagnergläser und reichte sie herum. Der Marquis hob sein Glas und strahlte dabei Kathinka an.
»Mögen Sie sich bei mir wohlfühlen! Nein, mögen Sie hier glücklich sein! Nach dem Essen zeige ich Ihnen das ganze Haus …«
Später, nach dem Rundgang durch Haus und Park, saßen Zipka und Kathinka in ihrem großen Gästezimmer auf dem Bett und blickten zum Fenster hinaus in das weite Land. Über dem Etang de Vaccarès flimmerte die Luft und verwischte alle Konturen.
»Was sagst du nun!« fragte sie leise, als könne jemand mithören.
»Noch nichts«, antwortete Zipka.
»Was heißt noch?«
»Ich bin mir nicht im klaren darüber, warum wir überhaupt hier sind – oder besser gefragt: Warum hat uns der Marquis eingeladen? Deinetwegen? Wohl kaum, denn dann müßte er mich zunächst beseitigen, weil ich keinen Meter aus deiner Nähe weichen werde. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Du siehst viele Gespenster, Wig! Wie sollte er dich …«
»Schachmatt in zwei Zügen! Der erste Zug: Er tröpfelt mir etwas ins Getränk, was man unter Ganoven k.o.-Tropfen nennt! Danach fällt man um und ist für Stunden ausgeschaltet. Zug Nummer zwei: Er pumpt dich mit Alkohol so voll, daß du ein willenloses Spielzeug in seiner Hand bist. Du wärst nicht die erste Frau auf dieser Erde, die durch Alkohol völlig verändert würde.«
»Da kennt er mich schlecht. Ich habe bei meinen Bauarbeiten trinken gelernt und geübt. Außerdem traue ich ihm das nicht zu. Nach jeder Nacht gibt es einen Morgen, und der würde dann für den Marquis recht bitter.«
»Es ist alles so widersinnig!«
Ludwig Zipka stand auf und trat ans Fenster. Unten im Garten liefen lautlos drei riesige Hunde umher. Dobermänner, vor deren Gebiß es keine Gnade gibt. Als ob sie die Bewegung am Fenster gemerkt hätten, blieben sie ruckartig stehen, drehten sich um und starrten Zipka mit ihren dunklen kalten Augen an. Sie öffneten ihre Schnauzen, die Zähne glänzten, aber kein Laut drang aus ihren Rachen. »Sieh dir das an, Tinka«, flüsterte Zipka. »Wir haben keine Chance.«
Stumm blickte Kathinka die großen Tiere an. Sie lehnte sich gegen Zipka und unterdrückte nicht mehr ihr Zittern. »Was nun?« flüsterte sie zurück. »Wig, wir wickeln uns da in Hirngespinste ein. Natürlich hat er Hunde, die das Haus nachts bewachen, warum auch nicht? Es liegt ja einsam genug. Warum sollte er uns in eine Falle gelockt haben? Wozu denn? Wie können ausgerechnet wir ihm wichtig sein?«
»Ich habe dir etwas verschwiegen, Liebling.«
»Mein Gott, was?« rief sie erschrocken.
»In der ersten Nacht, in Baume-les-Dames, habe ich einen Stein an den Kopf bekommen, durch's Fenster! Mit einem Zettel darangeklebt, der mich warnte, weiter mit dir durch Frankreich zu fahren. Damals dachte ich, es wäre dein Dauerverehrer Herbert Vollrath, der uns beschattete …«
»Unmöglich! Das würde Herbert nie tun. Nein, das ist nicht sein Stil. Herbert ist ein Ästhet und kein Gangster. Er hätte sich mit dir ausgesprochen, wie es unter gesitteten Männern üblich ist – aber da gibt es ja nichts auszusprechen. Wig, warum hast du mir das nicht sofort gesagt?«
»Es wäre damals zwecklos gewesen. Du hättest nur festgestellt, daß das wieder einer meiner üblichen Tricks ist, um mich bei dir interessant zu machen. Außerdem – was wäre dabei herausgekommen? Die Steinwerfer waren längst weg, spurlos verschwunden, wie ich selbst festgestellt hatte. – Und jetzt sieht das aber alles ganz anders aus. Was in den letzten zwei Tagen über uns hereingebrochen ist, das kann doch nicht mehr normal sein! Irgend etwas hängt uns an – ich weiß nur nicht, was es ist.«
»Lulu!«
»Das mußte kommen! Lulu hat damit nichts zu tun. Das ist nichts als eine typische Anhäufung von Zufällen. Das Gesetz der Serie.«
»Durch Lulu haben wir den Marquis kennengelernt.«
»Oder der Marquis hat Lulus Unglück zum Anlaß genommen, an uns heranzukommen.«
»Aber was will er von uns?«
»Wenn ich das wüßte!« Zipka schlug sich verzweifelt mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Es ist alles so verworren und so sinnlos! Wem hast du gesagt, daß du in die Camargue willst?«
»Nur Herbert Vollrath und meinem Bürovorsteher.«
»Wissen die beiden von der Moulin St. Jacques?«
»Nur sie! Wig, das ist absurd. Beide sind hundertprozentig in Ordnung. – Aber wie ist es bei dir? Wem hast du …?«
»Als du mich vom Hotel in Hannover abholtest, wußte ich doch gar nicht, wohin du fahren wolltest.«
»Das stimmt!« Sie starrte ihn fassungslos an. »Wig, ich glaube, wir sind beide hysterisch!«
»Der Stein war es nicht, der war echt. Er traf genau meinen Kopf.«
»Vielleicht ein Irrtum? Sie haben sich im Fenster geirrt …«
»Das wäre zuviel Zufall! Tinka …«
»Ja, Wig?«
»Versprich mir, von jetzt ab nichts mehr ohne mich zu tun.«
»Ich verspreche es dir. Sei ehrlich – irgendwie hast du Angst?«
»Nein! Irgendwie habe ich eine Sauwut, daß wir unsere Mühle verlassen haben!«