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Den ganzen Tag über lagen Johann Kranz und Karl Lubizek auf der Lauer.
Abwechselnd – denn einer mußte ja Lulu bewachen, die vorbildlich brav war und sogar das Mittagessen auf dem Campingkocher zubereitete – lagen sie im hohen Gras hinter einer kaum nennenswerten Erhebung, die aber genügend Schutz bot, und beobachteten durch ein Fernglas die kleine Kapelle an der fraglichen Straße.
Sie zählten bis zum Einbruch der Dämmerung vierunddreißig Autos, die aber ohne Halt an der Kapelle vorbeifuhren, und eine Radfahrerin mit einem schwarzen Kopftuch, die zwar die Kapelle mit einem Strauß Feldblumen betrat, aber nicht um das kleine Gotteshaus herumging und etwas ablegte.
»Verdammter Mist!« sagte Lubizek, als er von der letzten Wache zurückkam. »Nichts! Jetzt wird es zu dunkel, um weiter etwas erkennen zu können.«
»Dein Herr Marquis haut dich ganz schön in die Pfanne«, meinte Johann Kranz boshaft grinsend und öffnete eine Dose Nudeln mit Gulasch. »So groß kann die Liebe nicht sein!«
»Das ist ein ganz verdammter Saukerl!« versetzte Lulu wenig damenhaft. »Ich habe gedacht, der rast sofort los mit dem Geld.«
»Pustekuchen! Sei froh, daß wir dich weggeholt haben. Diese feinen Herren! Eines Tages hättest du einen Tritt bekommen wie ein lahmer Köter …«
»Das hätte Raoul nie gewagt! Dafür weiß ich zuviel über …«
»Darüber müssen wir noch reden.« Kranz setzte einen Topf auf den Propangaskocher und schüttete das Gulasch hinein. Lulu hatte den Klapptisch bereits gedeckt, ihre hausfraulichen Ambitionen schlugen in jeder Lebenslage – sogar im Zelt – durch. Tempotaschentücher, die sie in dem alten VW gefunden hatte, funktionierte sie zu Servietten und Tischtüchern um; sie hatte sich überhaupt erstaunlich rasch in ihre neue Lage eingelebt, eine Spezialität von ihr, die auch schon Zipka bewundert hatte. Sie nahm eine neue Situation hin und füllte sie mit eigenen Attributen auf.
»Was weißt du von dem Marquis?«
»Jungs, laßt die Finger von dem!« antwortete Lulu abweisend.
»Was liegt denn in der Mühle, Püppchen?« Lubizek riß eine Coladose auf. »Könnte man sich nicht daran beteiligen?«
»Unmöglich!«
»Das müßte man erst mal sehen«, meinte Kranz.
»Vergeßt es, Jungs!« Lulu setzte sich an den Klapptisch und stützte den Kopf in beide Hände. Sie dachte nach, dann fuhr sie fort: »Die Sache ist für euch zehn Nummern zu groß! Das läuft alles international, rund um die ganze Welt!«
»Wir könnten doch mal auf Vergrößerungskurs gehen, Baby. Wer will denn schon bei dem Erreichten stehenbleiben?«
»Bei diesem Ding ständet ihr völlig hilflos da! Glaubt es mir! Wenn ihr damit auf dem Markt auftaucht, in solchen Mengen, dann klingelt es überall Alarm. Dann ballert es von allen Seiten auf eure Köpfe. Das überlebt ihr keine Woche! Jungs, ihr seid so nette Schwachköpfe – warum wollt ihr unbedingt ein Loch darin haben?«
»Waffenschmuggel!« sagte Lubizek mit ehrfurchtsvollem Unterton. »Stimmt's? Der Marquis verdient seine Mäuse mit Waffenschmuggel?«
»Oder Rauschgift!« meinte Johann Kranz. »Umschlagplatz für Frankreich. Das große Ding im Drogengeschäft mit Afrika. Ja?«
»Fragt mich nicht – ich sage nichts. Und jetzt kommt nur nicht mit der Masche: Das kitzeln wir noch aus dir heraus! – Fehlanzeige, Jungs! Ich bleibe stumm.«
»Obwohl dem sauberer Kavalier nicht mal 100.000 Francs für dich ausspuckt? Püppchen, den würde ich hochgehen lassen wie 'nen Freiballon! Dem würde ich zeigen, was ich wert bin.«
»Das kommt noch!« sagte Lulu mit gefährlicher Ruhe. »Aber da muß ich erst in Sicherheit sein.«
»Wer bist du eigentlich?« Karl Lubizek schöpfte heißes dampfendes Gulasch mit Nudeln auf die Plastikteller. »Nur die Mieze des Marquis?«
»Ich lebe jetzt über ein Jahr mit ihm zusammen. Wir haben uns vor einiger Zeit auf Korsika kennengelernt – bei einer Miß-Wahl.«
»Du grüne Neune!« rief Kranz.
»Ich wurde zur ›Miß Touristik‹ gekrönt – erster Preis: eine Woche im Luxushotel Mare Nostrum, eine Nacht mit dem Filmschauspieler Jean Panther – das war Mist, der Kerl wollte mir dauernd an die Wäsche – und freie Wahl in der besten Boutique bis 5.000 Francs. Dort sprach mich der Marquis an und kaufte mir Sachen für 25.000 Francs! Das überzeugte mich, ich fuhr mit ihm erst nach Marseille, dann hierher. Er ist ein lieber Mann, er hat mich noch nie geschlagen …«
»Wie alt bist du denn?«
»Dreiundzwanzig.«
»Schon allerhand auf dem Buckel, was, Baby? An Erfahrung, meine ich. Willst du denn wieder zurück nach Deutschland?«
»Nein!« Sie stocherte in dem Essen herum und schüttelte ihren blonden Kopf. »Was soll ich denn in Deutschland? Wenn mich ein Mann aushält, muß ich dafür auch noch Steuern zahlen! Allein der Gedanke, daß das Finanzamt immer mit mir im Bett liegt, macht mich krank! Hier fragt keiner danach – hier lebe ich frei wie die Wildenten und die Flamingos.«
»Aber wenn du den Marquis hops gehen läßt, ist das doch vorbei, Baby.«
»Es wird andere reiche Männer geben!« versetzte Lulu ungeniert und aß weiter von ihrem Gulasch mit Nudeln. »Es ist nett von euch, Jungs, daß ihr euch so um mich kümmern wollt, aber ich falle schon wieder auf die Beine. Ich bin in dieser Beziehung wie eine Katze.«
»Ein süßes Kätzchen«, meinte Lubizek traurig. Er sah keine Chance mehr, für Lulu mehr als ein zufälliger Kumpel zu werden. »Und was ist, wenn dem Marquis doch noch in der Nacht das Geld hinterlegt?«
»Dann falle ich ihm nach meiner ›glücklichen Befreiung‹ um den Hals und werde wieder einmal ganz lieb zu ihm sein!«
»Dafür würde ich bei seinem Geld auch 100.000 Francs bezahlen«, maulte Lubizek. »Mädchen, die Freuden dieser Welt sind ungerecht verteilt! Wir armen Schweine haben immer nur Stehplätze …«
Spät in der Nacht fuhr Kranz zu der kleinen Kapelle. Er hielt in respektvoller Entfernung, ging das letzte Stück zu Fuß und näherte sich wie ein Wolf, nach allen Seiten sichernd, der Rückwand des kleinen Gebäudes.
Eine halbe Stunde lang blieb er dort bewegungslos in einer wilden Lavendelpflanzung liegen und rechnete damit, daß irgend etwas eine Falle verriete. Als sich nichts rührte, kroch er auf dem Bauch an die Kapelle heran und entdeckte – genau unter der Erinnerungstafel – eine schwarze Aktentasche. Noch einmal wartete der vorsichtige Johann Kranz eine Viertelstunde, dann wagte er die letzten Meter und griff nach der Tasche. Sie war mit einem Draht an einem Haken in der Kapellenwand befestigt, was Kranz sehr vernünftig fand. Ein korrekter Mann, der Baron, der an alles denkt, sagte er sich. Einen Profi würde schon die Verschnürung unsicher gemacht haben. Was Kranz natürlich nicht wußte – und auch nicht ahnte –, war, daß der Draht mit einem entfernten Alarmgeber verbunden war. Als er mit einem Ruck den Draht von dem Haken riß, leuchtete irgendwo ein schwaches rotes Lämpchen auf.
Marquis de Formentiére unterbrach die Schwachstromleitung und ging zu seinem Pferd. Man hatte ihm die Hufe dick umwickelt, und so konnte es fast lautlos durch das Grasland traben. Ein Gebüsch aus Weiden und Tamarisken verbarg den Reiter vor den Blicken des Mannes, der die Aktentasche abholte. Der Marquis wartete, bis Johann Kranz von der Kapelle weglief; dann führte er sein Pferd seitlich der Straße durch das unübersichtliche Gelände. Nach einer Weile hörte er das Aufbrummen eines Motors – da saß er auf und ritt zur Straße zurück. In der Ferne verschwanden die Rücklichter des Wagens. Raoul de Formentiére gab seinem Pferd die Sporen und setzte in einem leichten Jagdgalopp hinterher. Erst als Johann Kranz in einen schmalen Weg abbog, der mitten hinein in das Sumpf- und Steppengelände führte, hielt der Reiter an und folgte nicht weiter.
Die Richtung war nun bekannt – wenn man weiß, wo ein Fuchs strolcht, entdeckt man auch seinen Bau.
Nach den internationalen Spielregeln des Gewerbes, dem der Marquis de Formentiére angehörte, waren Karl Lubizek und Johann Kranz bereits tot. Es kostete den Marquis eine große innere Überwindung, auch Lulu dazuzurechnen. Ihre Schönheit und ihre Zärtlichkeit hatten ihn oft erfreut. Vor allem war sie nie langweilig geworden, was man nicht von allen ihren Vorgängerinnen sagen konnte. Ein echter Verlust, dachte der Marquis, aber es gibt nun einmal Geschäftsregeln, die über persönliche Gefühle hinaus bindend sind.