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Die dramatischen Geschehnisse setzten sich am Nachmittag fort. Raoul de Formentiére verhehlte nicht, daß er in tiefer Sorge war. Von seinem Arbeitszimmer aus führte er einige Telefongespräche – wenigstens sagte er das, als er zu Zipka und Kathinka in den Salon zurückkam –, die seine Kümmernis noch verstärkten.
»Wir müssen, bei Abwägen aller Möglichkeiten, uns darüber im klaren sein«, sagte er mit geradezu heiligem Ernst, »daß Ihre Situation, Monsieur, eine denkbar schlechte ist.«
»Das weiß ich«, sagte Ludwig Zipka ehrlich.
»Er wollte mich doch nur beschützen!« rief Kathinka. »Die Folgen konnte doch niemand voraussehen!«
»Das ist die moralische Seite, Madame. Ich habe gerade mit meinen Anwälten in Avignon und Marseille telefoniert. Alle sind, unabhängig voneinander, der Ansicht, daß eine schwere Körperverletzung gegeben ist – mit oder ohne Todesfolge – das wissen wir in drei Tagen! Nehmen wir das Schlimmste an, dann käme es zu einem Prozeß. Selbst die geringfügigste Verurteilung hätte für Sie die fatale Folge, vorbestraft zu sein. Mit einem Toten belastet! Buchstäblich durch eigene Hand. Diese Vorstellung ist doch – niederschmetternd, ja?«
»Ich müßte mich daran gewöhnen, damit zu leben«, bestätigte Zipka bedrückt. »Was bleibt mir anderes übrig?«
»Sie könnten Frankreich sofort verlassen …«
»Was nützt das? Man würde sofort einen Auslieferungsantrag stellen, die Flucht kämen einem Schuldbekenntnis gleich, und alles würde nur noch schlimmer.«
»Ich könnte meinen Einfluß geltend machen und Marcel Bondeaus Tod als Folge einer Alkoholvergiftung hinstellen lassen. Herzschlag infolge eines alkoholischen Exzesses …«
»Wer sollte das bescheinigen, Marquis?« fragte Kathinka mit einem Hoffnungsschimmer in der Stimme.
»Dr. Bombette. In Mas d'Agon hat niemand ein Interesse daran, daß aus der Sache Bondeau eine große Affäre gemacht wird. Gut, Sie haben dem Betrunkenen einen Boxhieb versetzt, Sie haben ungewöhnlich hart zugeschlagen, es reichte zu einem klassischen K.o. – aber einen normalen Menschen hätte dieser Schlag nie getötet! Anders bei Bondeau. Sein Organismus ist morsch, der Alkohol hat ihn zerstört. Das konnten Sie nicht wissen. Aber hier weiß es jeder! Also wird man wohlwollend darüber hinwegsehen.«
»Auch Sergeant Andratte?«
»Er wird ein Protokoll schreiben, das von einem Unglücksfall berichtet. Ein bekannter Säufer brach im Delirium tot zusammen.«
»Wieso ist man hier bereit, so elegant zu lügen?« fragte Zipka.
»Lügen!« Raoul de Formentiére lächelte mokant. »Wir geben lediglich den Dingen einen nützlichen Namen. Monsieur, ich will Sie retten! Ich baue Ihnen goldene Brücken, und Sie zögern noch darüber zu gehen …«
»Ich bin noch nie geflüchtet!« erwiderte Zipka hart.
»Wig, bitte …« Kathinka sah ihn flehend an. »Laß uns morgen fahren. Am besten gleich nach Hause. Ich habe keine Urlaubsstimmung mehr.«
»Madame haben den richtigen Weg erkannt«, sagte der Marquis galant und küßte Kathinkas kalte Hand. »Ich schlage vor, Sie fahren noch in dieser Nacht! Sie fahren, bevor Dr. Bombette irgendwelche Anzeichen eines endgültigen Todes bei Bondeau entdeckt. Alles Weitere vertrauen Sie mir an – ich werde alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen!«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Kathinka leise.
»Wenn Sie sich nur ab und zu freundlichst meiner erinnern, Madame, so ist das Dank – mehr als genug!«
»Sie sind so lieb, Marquis.«
»Ich wünschte, ich könnte es als Ihr echter Freund immer sein.«
Zipka verzog das Gesicht. Das galante Geschwafel gerade in dieser Situation empfand er als aufdringlich und dumm. Er stand auf, ging zum großen Fenster und blickte in den Garten hinaus, wo wieder die drei Bluthunde herumhechelten. Entschlossen stellte er fest: »Ich bleibe hier!«
»Nein!« rief Kathinka betroffen. »Wig! Bitte nicht!«
»Hier kann ich Sie nicht schützen, Monsieur.« Der Marquis war auch konsterniert. »Sie müssen außer Landes sein! Vollendete Tatsachen schaffen! Und denken Sie bitte auch an mich! Sie sind meine Gäste …«
Zipka nickte zufrieden. Der Ton des Marquis wurde jetzt etwas direkter, fast gröber. Das gefiel ihm. Die Süßholzraspelei hatte aufgehört. So sprach es sich leichter. »Ich habe keine Angst.«
»Ausweichen, Monsieur, ist doch keine Angst! Warum wollen Sie unbedingt den germanischen Helden spielen, der sich im Drachenblut badet?«
»Ich bin dafür, daß jeder zu seinen Taten steht – was nichts mit Siegfried zu tun hat. Auch mag es unmodern sein; auf keinen Fall ist es politische Klugheit, denn wenn es Gesetz würde, daß jeder Politiker für seine Handlungen voll verantwortlich gemacht werden könnte, so gäbe es kaum noch jemanden, der sich auf einen Ministersessel setzte. Sehen Sie, Marquis, ich denke da anders. Ich habe diesen Bondeau – aus gutem Grund – zu Boden geschlagen, nun renne ich nicht vor den Folgen davon.«
»Bitte, überlegen Sie sich das genau!« Raoul de Formentiére hob die Schultern. »Ich möchte Ihnen wirklich nur behilflich sein, schon um Madame zu beruhigen …«
Später in ihrem Zimmer sagte Kathinka böse: »Ich weiß, warum du nicht weg willst! Warum du an diesem Flecken Erde klebst: Lulu!«
»An die habe ich überhaupt nicht mehr gedacht! Aber gut, daß du sie erwähnst. Richtig, was soll jetzt aus Lulu werden? Wir können sie nicht einfach in der Mühle zurücklassen.«
»Es geht jetzt um dich, Wig, nicht um diese Lulu! Für sie wird immer gesorgt werden, in jedem Heim.«
»Für mich auch – in jedem Zuchthaus. Wo könnte ich hinkommen? Haben Arles und Avignon Langzeitgefängnisse? Oder ist Marseille zuständig?«
»Das ist keine Situation, um Witze zu reißen!« rief Kathinka wütend. Sie spürte, wie ihre Nerven nachließen. »Du hast einen Franzosen erschlagen!«
»Das muß erst der medizinische Befund ergeben. Dein Marquis hat mir da einen Funken ins Gehirn gesetzt, der immer heller leuchtet. Ein einziger Schlag gegen das Kinn kann unmöglich einen gesunden Menschen in Sekundenschnelle töten. Selbst wenn er eine Hirnblutung bekäme, würde es Tage oder Wochen dauern! Die tragischen Boxunfälle sind meine Zeugen. Wenn Bondeau blitzartig umfiel und starb, dann hatte das eine andere Ursache.«
»Aber du hast doch geschlagen, Wig!«
»Nimm einmal ein Beispiel aus deinem Beruf, Tinka. Du hast eine Brücke gebaut. Über diese Brücke fährt ein Lastauto – und krrr, die Brücke bricht zusammen. Ist das Lastauto schuld? Nie! Die Brücke wird ja gebaut, damit man darüberfahren kann. Man wird sich also an die Konstrukteure halten …«
»Ein schlechtes Beispiel! Bondeaus Kinn war nicht dazu da, damit du draufschlagen kannst. Wig, wir sollten heute nacht noch fahren.« Sie atmete tief auf. »Damit du siehst, wie groß meine Angst um dich ist: Wir können sogar Lulu mitnehmen, wenn du es willst!«
Zipka schüttelte den Kopf. »Ich habe es schon einmal gesagt, ich flüchte nicht! Ich bin für klare Verhältnisse.« Er lehnte sich gegen die Wand und sah Kathinka, die in einem Sessel saß und die Hände verkrampfte, lange an. »Für ganz klare Verhältnisse!« wiederholte er. »Tinka, willst du meine Frau werden?«
»Mein Gott, laß doch jetzt diesen Blödsinn, Wig!« sagte sie gequält.
»Das ist kein Blödsinn, sondern ein offizieller Heiratsantrag.«
»Jetzt? Hier? In dieser verzweifelten Lage denkst du ans Heiraten?«
»Das ist genau der richtige Augenblick, Tinka. Ich muß wissen, ob du mich wirklich liebst …«
»Wenn du das noch nicht gemerkt hast …«
»Wollen wir heiraten?«
»Ja …« Sie legte den Kopf zurück, drückte beide Hände auf die Augen und begann zu weinen. »O Wig, Wig … Das soll nun unsere glücklichste Stunde sein! Wie habe ich mir diesen Augenblick ausgemalt …«
»Es ist auch ein besonderer Augenblick, Tinka. Wir zwei werden uns von nun an durch diesen Urlaub durchnagen wie die Biber, denen kein Baumstamm zu dick ist – sie fällen ihn doch mit ihren Zähnen! Wir bleiben in Mas d'Agon! Man soll nie sagen, daß sich ein Ludwig Zipka aus dem Staub macht, wenn mal ein scharfer Wind weht! Ich werde den Marquis bitten, die Staatsanwaltschaft in Aries anzurufen. O Tinka, wie liebe ich dich …«