10
Am Abend ging das Mädchen Lulu hinter der Mühle spazieren.
Sie hatte sich nach allen Seiten gesichert. Das Land lag in lähmender Stille unter dem Nachthimmel. Wenn ein Auto kommen würde, sah man von weitem seine Scheinwerfer. Jedes Licht fiel hier in der Weite auf – auch ein Motorrad, auch ein Mensch, der sich mit einer Taschenlampe zu dem Etang tasten würde.
Die beiden Männer, die regungslos und kaum atmend im Schilf lagen, waren ohne Licht gekommen. Ihr verbeulter alter VW stand oben an der Straße in einer Tamariskengruppe. Sie waren, wie gesagt, ohne Scheinwerfer gefahren, und so hatte Lulu auch von ihrem Ausguck nicht sehen können, wie zwei Schatten auf die Moulin St. Jacques zuglitten und dann vom Erdboden aufgesaugt wurden. Den ganzen Tag über war Lulu brav in der Mühle geblieben, aber jetzt, in der Dunkelheit, wollte sie am Ufer entlanggehen und die frische Salzluft einatmen.
Neugierig wie sie war, hatte Lulu die beiden zurückgelassenen Koffer Kathinkas durchschnüffelt und hatte ein Kleid entdeckt, das sie herrlich fand. Sie hatte es angezogen, sich vor dem Spiegel betrachtet und daraufhin beschlossen, heute abend dieses Kleid zu tragen. Sie warf auch noch Kathinkas hellen sportlichen Trenchcoat über, band ein Tuch um ihr Haar und ging dann hinaus zum See.
»Das ist sie«, flüsterte der eine Mann und stieß seinen Nachbarn an. »Junge, haben wir ein Schwein. Sie latscht allein herum …«
»Und wo ist der Kerl?«
»Der sitzt drinnen und säuft sich einen an. Wetten? So viel Glück auf einen Schlag! Ehe der merkt, was passiert ist, sind wir längst weg.« Er hob den Kopf, zog ihn aber sofort wieder ein. »Sie geht spazieren, Junge! Es darf jetzt nichts schiefgehen. Alles lautlos! Denk immer daran: eine Million! Achtung – sie kommt zurück!«
Die beiden Männer duckten sich, durch hohe Schilfrohre geschützt, und bereiteten sich auf ihren Sprung vor.
Ahnungslos kam Lulu vom Etang herauf, schlug mit einem Ast um sich und pfiff leise vor sich hin. Irgendwann in der Nacht mußte Raoul kommen, oder er schickte den Chauffeur, um nachzusehen, ob bei ihr alles in Ordnung war. Die dumme Sache mit den Fotos mußte noch erledigt werden, aber für Raoul würde das kein Problem sein. Er kannte und beherrschte tausend Tricks – was ist da schon ein Kleinbildfilm in der Kamera eines so ahnungslosen Mannes wie Ludwig Zipka.
Als ob sie es den beiden Schatten links und rechts neben sich leicht machen wollte, blieb Lulu stehen und blickte zum Etang zurück.
Die Männer, die sie sehen konnten, hoben signalisierend ihre Hände.
Dann vollzog sich wirklich alles lautlos und schnell. Zwei Körper fielen gegen das Mädchen, eine Art Sack wurde über ihren Kopf gestülpt, gleichzeitig hielt eine Hand ihre Kehle zu, bis sie keine Luft mehr bekam und in Ohnmacht fiel. Sie wurde hochgehoben, wie eine Puppe über eine breite Schulter geworfen, und dann rannte der Mann mit seiner Last durch das hohe harte Gras, der Straße zu, gefolgt von dem anderen Mann, der ab und zu stehenblieb, zur Mühle starrte und den Rückzug sicherte. Oben, in dem Tamariskenhain, warfen sie die Besinnungslose auf den Rücksitz des alten VW, gaben Gas und rasten ohne Licht davon, in Richtung Albaron, um dann in einen schmalen Weg abzubiegen, der mitten hinein in die Sümpfe von Marais de la Grand Mar führte.
Als sich Lulu auf dem Hintersitz zu bewegen begann, beugte sich der Beifahrer über die Lehne seines Vordersitzes und schlug ihr mit einem dick umwickelten Hammer leicht auf den Kopf. Sofort verebbte jegliche Bewegung.
»Hast du auch aufgepaßt?« fragte der Fahrer. Es war nicht einfach, in diesem Gelände ohne Scheinwerfer zu fahren. Der Wagen hüpfte.
»Ich war ganz zärtlich!« versetzte der Beifahrer grinsend und rutschte auf seinen Sitz zurück, »'ne Beule wird sie wohl haben. Ich werde sie ihr nachher kühlen.«
»Junge, ist das ein Gefühl«, sagte der Fahrer fröhlich und leckte sich die Lippen.
»Was?«
»Wir fahren mit einer Million durch die Gegend! Ist das etwa nichts? Karl, du hast aber auch gar kein Gefühl! So etwas erlebt man nur einmal!«
Diese Feststellung traf in diesem Falle wörtlich zu. Johann Kranz und Kai Lubizek hatten Kathinka Brauns Entführung so gründlich vorbereitet, wie es in kürzester Zeit möglich war. Der Plan wurde sozusagen spontan geboren, als Johann Kranz, der Kraftfahrzeugmechaniker in der Autowerkstatt war, in der Kathinka Braun ihren Sportwagen warten ließ, von seinem Meister gesagt bekam: »Der Wagen muß topfit sein, Johann. Frau Braun will damit in den Süden.« Weiter erfuhr Kranz bei dieser Gelegenheit, daß die Dame allein reisen würde – und das löste bei ihm eine Art von Glockenspiel im Gehirn aus. Die Glöckchen läuteten: »Frau Braun ist Millionärin, das weiß jedermann in Hannover. Eine Entführung wäre eine echte Sensation, die Beschaffung von Lösegeld böte keine Schwierigkeit. Wenn man es geschickt anfinge, könnte gar nichts schiefgehen. Sie fährt allein in den Süden – irgendwo auf dieser Fahrt verschwindet sie. Gelegenheiten würden sich genug ergeben … Eine ganz einfache Sache …«
Karl Lubizek, mit dem Johann abends bei einem Bier zusammensaß, sah es allerdings anders, komplizierter. Zuerst sagte er nur: »Du hast 'ne Macke, Johann!« Dann, nachdem Kranz Details seines simplen Plans entwickelte: »Das geht bestimmt voll in die Hose! Das ist bisher nie in Deutschland so richtig gelungen. Die haben alle erwischt, früher oder später!«
»Weil es alle so kompliziert gemacht haben!« versetzte Johann eindringlich. »Den einen haben sie in einer Düsseldorfer Wohnung versteckt, den anderen im Hohlraum einer Autobahnbrücke, den dritten gar in einer Kiste … Das mußte doch einfach schiefgehen!«
»Und wie willst du das nun machen?«
»Ganz modern. Beim Camping.«
»Idiot!«
»Danke. Hör doch zu, darum sollst du mitmachen! Ich kassiere das Geld, und du paßt auf die Gnädige auf. Niemand wird auf die Idee kommen, daß man einen Goldkäfer in einem Zelt festhält.«
»Bis sie Alarm schlägt, schreit, das Zelt anzündet oder sonst was unternimmt! Glaubst du, die bleibt brav auf der Matte sitzen und trinkt Tee?«
»Ich habe an alles gedacht«, sagte Johann Kranz zuversichtlich. »Machst du nun mit oder nicht? Junge – für jeden 'ne halbe Million!«
Später zeigte es sich, daß Johann Kranz doch nicht an alles gedacht hatte, aber da war er nicht mehr bereit, das Unternehmen aufzugeben. Wie konnte man auch ahnen, daß Kathinka Braun plötzlich doch nicht allein fuhr, sondern einen völlig unbekannten Mann mitnahm? Wie konnte man im voraus berechnen, daß sie nicht – wie sie dem Meisterin der Autowerkstatt gesagt hatte – an die Riviera fuhr, sondern in diese langweilige Camargue, in dieses – frei nach Karl Lubizek – ›Scheißland‹? Und wer hätte je daran gedacht, daß Frau Braun samt Begleitung sich in eine alte Mühle verkroch, die dadurch zum Mittelpunkt des dazugehörigen Dorfes wurde?
Johann Kranz dachte intensiv über die neuen Situationen nach, während Karl Lubizek eindringlich vorschlug, lieber Lottoscheine auszufüllen und auf einen Millionengewinn zu warten, als so ein verrücktes Ding zu drehen.
»An unserem Plan ändert sich nichts«, gab Johann Kranz an dem Nachmittag von sich, an dem sie Kathinka und Zipka höchst neidvoll beim Liebesspiel am Ufer des Etang beobachtet hatten. »Hier ist die richtige Gegend für Camping. Wir suchen uns jetzt eine schöne Stelle und bauen das Zelt auf.«
»Und der Kerl?« fragte Lubizek.
»Das muß man abwarten. Das ergibt sich dann schon von allein! Im Notfall bekommt er eine auf die Nuß! Karl, man muß improvisieren können! Zufälle ausnützen! Beweglich sein!«
»Du redest wie'n Professor!« sagte Lubizek mißmutig. »Aber das eine verspreche ich dir: Wenn dies Ding schiefgeht und ich komme nach ein paar Jahren aus dem Knast, dann kannste zum Südpol flüchten! Ich schlage dir sonst den Schädel ein! Ist das klar?«
»Ganz klar!« Kranz lächelte siegessicher. »Und jetzt suchen wir uns ein passendes Fleckchen für das Zelt …«
Sie fanden einen idealen Platz, wie er für ihr Vorhaben gar nicht besser sein konnte. Landeinwärts, im Marais de la Grand Mar, hatten die Hirten der schwarzen Stierherden, die sich Gardians nannten, vor Jahren eine niedrige Vorratshütte gemauert und sie mit Erde abgedeckt. Gras und Blumen waren mittlerweile darauf gewachsen, wie ein winziger Hügel im Steppenland sah es aus. Allein eine dicke Holztür, die noch Spuren von hellblauer Farbe zeigte, wies den Weg ins Innere der Hütte. Dieser ›Bunker‹, wie Johann Kranz die Hütte getauft hatte, war umgeben von dichten Wacholderbüschen und hohen, blau blühenden Disteln – ein wildes, vergessenes Stückchen Erde unter einem unendlich weiten Himmel.
Das Innere der Hütte zeigte keine Spuren von Bewohnbarkeit mehr. Die getünchten Wände waren kahl, die Farbe blätterte überall ab, und der festgestampfte Boden roch stark nach Fäulnis. Kein Tisch mehr, keine Hocker, keine Regale – nur leerer, vermodernder Raum.
»Phantastisch!« hatte Johann Kranz ausgerufen, als er aus der Hütte herauskam. »Vor die Tür stellen wir das Zelt und decken es mit Zweigen ab. Dann sind wir unsichtbar, auch aus der Luft! Karl, Mensch – und haben wir die gnädige Frau erst einmal, kann uns nichts mehr passieren. Hier sucht uns keiner!«
Lubizek hatte wie ein Hund, der einen unerreichbaren Knochen wittert, geknurrt; dann hatten sie das Zelt aufgebaut und getarnt.
Selbst Lubizek, der auf das Dach der Erdhütte geklettert war, mußte zugeben: »Das ist gut. Da sieht man wirklich nichts.«
Und nun hatten sie auch noch Kathinka Braun geradezu geschenkt bekommen und rasten mit Standlicht durch die Camargue zu ihrem Versteck. Die erste Panne war bereits überstanden: Johann hatte den kleinen Abzweigweg verfehlt, mußte umkehren und suchen, bis er die richtige Abbiegung erreicht hatte und von da tiefer in die Einsamkeit eindringen konnte. Als sie endlich die Buschgruppen und den kleinen Hügel in der Dunkelheit auftauchen sahen, pfiff Karl Lubizek erleichtert durch die Zähne.
Sie versteckten den Wagen in den hohen Wacholderbüschen, zerrten den schlaffen Körper der vermeintlichen Kathinka Braun vom Rücksitz und trugen die Bewußtlose durch das Zelt in die alte Steinhütte.
Dort legten sie die Entführte auf den Boden, zogen ihr den Sack vom Kopf – aber bevor Karl Lubizek sie mit seiner Taschenlampe anleuchten konnte, hörten sie eine helle Stimme sagen: »Ihr seid vielleicht Vollidioten! Was soll denn das? Wenn ihr für mich eine Million bekommt, male ich euch den Himmel grün an!«
»Licht!« brüllte Johann Kranz. Seine Stimme klang rauh und schien irgendwie aus den Fugen geraten zu sein. »Licht, Karl, verdammt noch mal!«
Die Taschenlampe klickte, und der Lichtstrahl fiel auf einen Frauenkopf, der nicht braune Haare im Kastanienton trug, sondern weißblonde Locken. Auch das Gesicht ähnelte in keiner Weise der aristokratischen Schönheit von Kathinka Braun, sondern glich eher einem Puppenkopf, dessen Lippen- und Augenbemalung jetzt verwischt war. Die fremde junge Dame, die so wenig damenhafte Ausdrücke von sich gab, hatte sich aufgesetzt, stemmte die Fäuste seitlich gegen den Boden und starrte blinzelnd in den Lichtstrahl.
»Was steht ihr denn so saublöd da rum?« sagte das Herzchen, dessen Deutsch einen deutlich bayerischen Tonfall besaß. »Bei mir habt ihr mit Tomaten gehandelt!«
»Wer sind denn Sie?« fragte Kranz mit rostiger Stimme.
Lubizek leuchtete ihn an, erkannte sein entsetztes Gesicht und trat gegen die nächste Steinwand.
»Mist, verfluchter!« brüllte er und trat noch einmal gegen die unschuldige Wand. »Mist! Jetzt haben wir auch noch die Falsche geklaut! Du bist denn doch ein dämlicher Hund!«
»Wie kommen Sie in die Kleider von Frau Braun?« schrie Kranz.
»Geliehen!« Lulu tippte sich an die Stirn. »Sagt bloß, ihr wolltet mit so viel Idiotie die großen Kidnapper spielen! Ich zerfließe gleich vor Lachen …«
»Und wieso wohnen Sie in der Mühle?« brüllte Kranz, immer mehr außer sich.
»Ich bin zu Besuch bei Frau Braun.«
»Und die hat erlaubt, daß Sie in ihren Klamotten Spazierengehen?«
»Nein. Sie weiß davon nichts. Sie ist ja nicht da.«
»Wo ist sie denn?«
»Zu Besuch bei dem Marquis de Formentiére …«
»Bei einem Marquis!« röhrte Lubizek. »Haha! Unsere Millionenbraut trinkt Champagner bei einem Herrn Marquis! Wie in 'ner Operette! Und wir klauen die Falsche …«
»Auch wie in der Operette!« sagte Lulu und zog die Knie an. »In jeder Operette gibt es ja ein paar Deppen, über die sich alles schieflacht. So seht ihr aus …«
»Irrtum, mein Püppchen!« Kranz beugte sich zu ihr hinunter. »Eine Operette ist lustig und hat ein Happy-End, es gibt kaum eine mit einem Toten. Hier liegt der Unterschied. Und bei uns gibt es schon gar kein Happy-End, und ob du lebend hier herauskommst, das ist unsicher.«
»Quaßle keinen Mist!« antwortete Lulu ungerührt, aber ihre Kulleraugen bekamen einen lauernden Ausdruck und beobachteten genau jede Bewegung der Männer. »Bis spätestens morgen früh ist mein Verschwinden bekannt, dann habt ihr keine ruhige Minute mehr! An Kathinka Braun kommt ihr nicht mehr ran! Zweimal 'ne Entführung – das hat's noch nie gegeben. Packt eure Sache und fahrt nach Hause, Jungs!«
»Wer bist du?« Kranz riß Lulu vom Boden hoch und schleuderte sie in seinem Zorn gegen die Wand. Karl Lubizek grunzte verhalten. Er stellte sich neben das Mädchen und zog das Kinn an. »Sie kann nichts dafür, daß du ein Rindvieh bist!« sagte er drohend.
»Ich heiße Emmi Schmidt«, sagte Lulu und massierte ihre linke Schulter, mit der sie gegen die Steinwand geprallt war. »Aber das weiß hier niemand. Hier heiße ich Lulu. Einfach Lulu …«
»Auch das noch!« schrie Kranz außer sich, »'ne Nutte!«
»Ich bin die Verlobte des Marquis de Formentiére …«
»Die Verlobte des Herrn Marquis!« Kranz quietschte. »Nennt man das in vornehmen Kreisen jetzt so?« Dann wurde er plötzlich ernst und musterte das Mädchen, als sei es zu verkaufen. Dann rieb er sich den Nasenrücken. »Das große Geschäft ist versaut, das gebe ich zu. Aber wenigstens unsere Spesen mit ein paar Zinsen müßten doch dabei herauskommen. Was würde denn dein Herr Marquis für dich ausspucken?«
»Nichts!« antwortete Lulu sofort.
»Und das nennt man große Liebe?«
»Raoul läßt sich nicht erpressen. Jungs, den kennt ihr nicht! Ein Telefonanruf – und man jagt euch, bis euch das Wasser im Hintern kocht.«
»Die Kleine ist gut!« Lubizek grinste breit. »Die hat den richtigen Ton! Mit der kannst du keinen Pfennig verdienen, Johann!«
»Vielleicht doch.« Lulu ordnete mit gespreizten Händen ihre Haare. »Wenn ihr euch überwinden könntet mich nicht mehr als Geisel, sondern als Freundin anzusehen und vernünftig mit mir zu sprechen – vor allem nicht hier – dann könnte ich euch vielleicht einen Tip geben.«
»Den Trick Nummer vier kennen wir!« knurrte Kranz. »Du bleibst hier.«
»Dummerchen!« Lulu lächelte süß. »Wo sollte ich denn mitten in der Nacht hin? Weiß ich denn, wo ich bin? Und dann zu Fuß?«
»Da hat sie recht!« rief Lubizek. »Sie kann nicht weglaufen.«
Johann Kranz nickte. Sie verließen die Erdhütte, setzten sich in das Zelt auf segeltuchbezogene Klapphocker, und Lubizek holte aus einer Kühltasche drei Dosen Bier. Er riß die Verschlüsse auf, reichte die Dosen herum, und dann tranken sie erst einmal stumm.
Sie stierten vor sich hin, Lubizek mußte rülpsen, sagte sogar »Tschuldigung!« und trommelte gegen seine Bierdose.
»Ich höre!« sagte Kranz endlich betont. »Wo bleibt der Tip?«
»Es könnten bei euch vielleicht 100.000 Francs hängenbleiben.«
»Das ist nicht viel. Der Franc steht 46 Pfennig!«
»Und dann noch fifty-fifty … Das ist ja 'n Butterbrot!« knurrte Lubizek.
»Immerhin etwas.« Lulu trank noch einen langen Schluck Bier. »Für mich gibt der Marquis keinen Sou her. Aber wenn ihr die Mühle erwähnt …«
»Die Mühle?« Kranz wurde hellhörig. »Was ist denn mit dem alten Kasten?«
»Keine Einzelheiten, Jungs! Ihr meldet euch bei dem Marquis und sagt einfach: ›Wir haben Lulu kassiert. Und wir wissen, was mit der Mühle los ist! 100.000 Francs – und du bekommst das Mädchen zurück, und wir vergessen, was die Mühle so wertvoll macht …‹«
»500.000 Francs!« rief Kranz, als säße er in einer Versteigerung.
»Das ist nicht drin!« Lulu schüttelte ihr Köpfchen.
»Wenn die Mühle so wertvoll ist …?«
»Trotzdem! Bei 500.000 wird der Marquis stur und hetzt euch wie die Hasen!«
»Und bei 100.000 nicht?«
»Da lohnt der Aufwand nicht. Jungs, ich kann euch nicht mehr sagen, aber wenn Raoul für 100.000 Francs seine Ruhe haben kann, dann zahlt er sie. Bei einer halben Million schlägt er zurück.«
»Mir kommt die Sache faul vor.« Johann Kranz warf seine leere Bierdose in eine Ecke des Zeltes. »Wir sollen aufs Kreuz gelegt werden.«
»Im Gegenteil! Ich will jedem von euch 50.000 Francs kassieren.« Lulu sagte das so überzeugend, daß Lubizek, der bei Lulus appetitlichem Anblick bereit war, alles zu glauben, beifällig nickte. »Ich werde für euch eine herrliche Geisel spielen.«
»Und wieso bist du zu Besuch bei Frau Braun?«
»Im Auftrag des Marquis. Ich soll sie aus der Mühle vertreiben. Das ist gelungen – die Deutschen wohnen jetzt auf dem Gut des Marquis. Wer hat denn auch mit euch gerechnet?«
»Du spielst wohl auf allen Klavieren?« fragte Kranz abfällig.
»Wenn der Klang gut ist – warum nicht?« Sie lächelte wieder umwerfend. »Das Leben ist voller Überraschungen! Man muß nur ab und zu nachhelfen, um nicht abgehängt zu werden.« Lulu klopfte sich auf die Oberschenkel und streckte die schönen langen Beine von sich. »Also, wie haben wir es? Jungs, ihr müßt fixer sein, wenn ihr an die große Kasse wollt! Ich weiß, daß der Marquis nachher zur Mühle kommt, um mit mir zu sprechen. Da muß euer Ding schon laufen!«
»Unsere schöne Million!« Karl Lubizek starrte traurig vor sich hin. »Ich hab's geahnt! Wir hätten in Hannover bleiben sollen, als dieser Kerl in den Wagen stieg. Wo kommt der überhaupt her?«
»Keine Ahnung.« Lulu trank den Rest Bier aus ihrer Dose. »Ludwig Zipka heißt er. Ein toller Mann! In den könnte ich mich glatt verlieben …«
Johann Kranz argumentierte, daß sich für 100.000 Francs kein großer Aufwand lohne. Er schrieb also auf einen Zettel die Nachricht für den Marquis de Formentiére, die Lulu ins Französische übersetzte:
»Wir haben Lulu in unserer Hand und wissen, was in der Mühle verborgen liegt und wozu sie dient. – Beides können Sie wiederhaben: Lulu und unser Schweigen. Es kostet lächerliche 100.000 Francs! Legen Sie das Geld in kleinen Scheinen hinter die Kapelle an der D 37, direkt an die Mauer unter die Gedenktafel. – Keine Polizei, keine Beobachtung! Wir kommen erst, wenn wirklich alles sauber ist. Vorher sehen Sie Lulu nicht wieder. Werden wir belästigt, so gibt es Lulu nicht mehr, und die Polizei wird die Mühle räumen. – Vertrauen gegen Vertrauen – wir sind ehrliche Partner …«
»Humor habt ihr trotzdem!« sagte Lulu, als sie mit der Übersetzung fertig war und Kranz den Text sauber abschrieb. »Ehrliche Partner – das ist zum Kugeln. – Wie spät ist es?«
Karl Lubizek blickte auf die Armbanduhr. »Gleich elf.«
»Dann wird's langsam Zeit! Nach Mitternacht kommt Raoul zur Mühle …«