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Das Wasser des Etang dit l'Impérial hatte genau die Temperatur, um sich nach so viel Liebe abzukühlen. Es prickelte auf der Haut, und Ludwig Zipka behauptete, es verdampfe sogar an seinem Körper. »Sieh dir das an!« rief er übermütig und tanzte durch das hüfthohe Wasser. »Eine Wolke ist um mich! Weiter darf ich nicht hinein, sonst verdunstet der ganze See!«
Kathinka hockte am Ufer im Schilf, nackt wie Zipka, und lachte über die Clownerien des Mannes. Doch zwischendurch wälzte sie sehr schwerwiegende Gedanken.
Da war zunächst die Generalfrage: Ist dieser Mann endlich, endlich der richtige, um ein ganzes Leben lang bei ihm zu bleiben? Eigentlich dürfte man so etwas nicht fragen, wenn man liebt. Liebe sollte keine Zweifel kennen … Da muß man klar fühlen, daß man für immer zueinander gehört. Aber Kathinka Braun verlor bei aller Seligkeit nicht den Blick für die Realität, und sicherlich war es das gewesen, was die anderen Männer nach ziemlich kurzer Zeit wieder vertrieben hatte. Sie spürten, daß Kathinka ihre Liebe – war es überhaupt jemals wirklich echte Liebe gewesen? – in einen Sack von Verstand steckte und sie darin erstickte. Hier, bei Ludwig Zipka, war das ganz anders. Hier war Kathinka bereit, an nichts anderes zu denken als an ihr Gefühl: Ich liebe ihn … Und jetzt, wo die Vernunft sich wieder meldete, kämpfte sie dagegen an. Zum erstenmal wehrte sich Kathinka gegen ihren Verstand.
Du bist verrückt, sagte dieser nüchterne Verstand. Wie lange kennst du ihn? Ein paar Tage nur! Und was ist er? Designer für Anglerfliegen! Verrückter geht es doch nicht! Du bist eine Star-Architektin, du besitzt einen Millionenbetrieb. Dein Name hat einen guten Klang in Fachkreisen. Und ausgerechnet du willst an einem Ludwig Zipka hängenbleiben, der schillernde Kunststoff-Fliegen erfindet? Kathinka, was ist aus dir geworden? Werde vernünftig, kehre in die Wirklichkeit zurück, nimm alles als eine der üblichen Urlaubsfreuden. In sechs Wochen ist es vorüber. Ein Händedruck, ein Lächeln, ein letzter streichelnder Blick – vorbei! Nach sechs Wochen hat man sowieso genug voneinander; da weiß man, daß nachts sein Bauch gluckert, und er weiß von dir, daß du dich mit Nährcreme einschmierst, um deine Haut jugendfrisch und faltenlos zu erhalten. Nach sechs Wochen bist du so ernüchtert wie ein trockengelegter Alkoholiker, dem sich die Nackenhaare kräuseln, wenn er Schnaps riecht. Bei dir wird es Ludwig Zipka sein … Nach sechs Wochen zucken dir die Mundwinkel vor Hysterie, wenn du ihn nur von weitem reden hörst!
Kathinka, nimm ihn jetzt, wie er ist, gönne dir die Lust des Liebens – aber denke nie daran: Bleib bei mir!
Was verstehst du davon? widersprach das Gefühl dem Verstand. Du wirst es nie begreifen können, daß man sich danach sehnt, in zwei starken Armen zu liegen und die ganze laute, schreckliche Welt hinter sich zu lassen. Man will nichts denken, nichts hören, nichts begreifen … Man will nur fühlen, nur glücklich sein. Man will nur sein wie – ein entblößter Nerv, der von den Zehen bis zu den Haarspitzen reicht und den man streichelt, bis der ganze Körper in einem unbeschreiblich wonnigen Brand explodiert! Du willst nur dem Hämmern seines Herzens lauschen, nur seinem Atem, du willst nur die Elektrizität in seinen Fingerspitzen fühlen, nur die Spannung seiner Muskeln, nur die kaum spürbare Schwere seines Körpers … Du möchtest in ihn hineinkriechen und mit ihm verschmelzen … Du willst nicht mehr ein eigenes Wesen sein. Du willst durch ihn leben, mit ihm, in ihm, so wie unser Atem verschmilzt … Verstand, das wirst du nie begreifen. Ich liebe ihn … Dafür werfe ich alles weg!
Sie lachte, als Zipka nackt durch den See sprang, einen Purzelbaum schlug und unter Wasser einen Handstand machte, daß nur noch seine Beine und sein glänzendes nacktes Hinterteil aus dem Etang ragten. Und sie lachte, als er zu ihr zurücklief, sie in das hohe Gras umriß und ihren gerade trocken gewordenen Körper wieder mit Nässe überzog.
»Verdammt! Das ist nicht mehr mitanzusehen!« sagte hinter einer kleinen Erhebung ein Mann und hielt sein Fernglas fest, als sein Nebenmann danach greifen wollte. »Für dich ist das schon gar nichts! Nimm die Finger weg! Dir fehlt die Bremse, um beim Zugucken ruhig zu bleiben!«
Er kroch etwas tiefer in Deckung und setzte sich dann. Vor ihnen, in einer Senke, stand der alte verbeulte VW. Der andere Mann rutschte nach und war sehr beleidigt.
»Du bist vielleicht ein Klugscheißer!« sagte er grob. »Wie konnte ich nur so dämlich sein und deinen Blödsinn mitmachen? Wie läuft denn das jetzt? Wir sind im tiefsten Frankreich, in einer ausgesprochenen Mistgegend mit Mücken und so, robben schwitzend durchs Gras, kriegen dauernd den schönsten Sex vorgeführt und können nicht mitmachen, müssen im Auto pennen, und immer sagst du nur das eine: Abwarten! Die Sache läuft! Die Million kriegen wir! Das haut schon hin! Was da hinhaut und was da läuft, das siehst du da unten! Die Sache ist doch total verfahren! Warum haben wir sie uns nicht in Deutschland gegriffen?«
»Wo denn, du Flasche?« Der ältere der beiden Männer steckte sich eine Zigarette an. Der andere griff einfach zu und nahm sich auch eine aus der Packung. »Auf der Autobahn? In der Nacht waren sie ja schon in Frankreich, da mußte ich sowieso umdenken.«
»Ich höre immer denken«, spottete der Jüngere.
»Keiner konnte wissen, daß sie sich einen Kerl mitnimmt. Auch wenn's nur ein Würstchen ist – er stört. Unsere Warnung hat ihn nicht abgeschreckt, also muß er zuerst dran! Dann greifen wir uns die Frau, und alles läuft nach Plan! Es kann gar nichts schiefgehen, wenn der Typ erst mal ausgeschaltet ist. Mensch, ich habe doch theoretisch alles durchgespielt! Die Sache ist völlig wasserdicht!«
»Das Ding mit dem Hubschrauber ist wie im Film!«
»Völlig normal ist das! Du kannst heute überall Hubschrauber mieten und dir die Welt von oben betrachten. Mensch, wenn gesuchte Terroristen unter den Augen der Polizei so etwas fertigbringen, soll's bei uns schiefgehen?«
Er rauchte hastig, blies den Qualm fort und scharrte mit den Schuhspitzen im weichen Boden. »Die Mühle ist genau richtig, da kommt so schnell keiner hin. Die beiden haben sich ihre Falle selbst ausgesucht …«
»Und was machen wir mit Lulu?« fragte Kathinka. Sie lag mit ausgebreiteten Armen im Schilf, Zipka kauerte zu ihren Füßen, mit dem halben Körper im flachen Wasser. Er hatte gerade wieder behauptet, er könne spüren, wie der See unter ihm austrockne. Dieses Stückchen Wiese war wie eine Insel in dem Rohrurwald.
»Wie kannst du jetzt von Lulu sprechen?« fragte Ludwig und seufzte. »Ich möchte dir lieber erzählen, wie ich in München lebe. Alles, was du von mir weißt, ist nämlich falsch.«
»Das habe ich vom ersten Tag an geahnt. Wie kann man Designer von Anglerfliegen sein?«
»Das ist das einzige, was stimmt.«
»Na also! Du bist kein Problem – aber Lulu ist eines! Wig, wir können sie doch nicht behalten.«
»Natürlich nicht.«
»Du mußt sie also für die Öffentlichkeit wieder auftauchen lassen.« Kathinka hob den Kopf und sah Zipka an. Er lag auf dem Bauch und spielte mit ihren Zehen. »Sollen wir sie nach Arles bringen?«
»Und sie dort wie ein lästiges Hündchen aussetzen? Das können wir doch nicht, Tinka.«
»Wenn wir sie einem Arzt anvertrauen, können wir das sehr wohl.«
»Dann kommt sie in eine Anstalt.« Er rutschte näher an Kathinka heran, küßte ihre Schienbeine, die Knie und die Innenseite ihrer Schenkel. Sie preßte die Beine zusammen und krallte beide Hände in seine Haare. »Laß das!« wehrte sie mit belegter Stimme ab. »Fang nicht schon wieder an! Entpuppe dich nicht als medizinisches Wunder! Ich weiß es ja, du bist der stärkste aller Männer – zufrieden?«
»Irgendwo muß Lulu ja herkommen«, kam Zipka zum Thema zurück und legte seinen Kopf in Kathinkas Schoß. Es war ein warmes samtiges Bett. »Sehen wir von dem Unsinn ab, daß sie aus Oberpfaffenhofen auf Korsika stammen will – irgendwo auf der Welt muß doch jemand sein, der sie vermißt. Ein Mädchen wie sie hat Verwandte, Bekannte, Freunde – meinetwegen auch Liebhaber. Letztere sogar bestimmt, denn sie sieht nicht gerade unschuldig aus. Einen von diesen Menschen müssen wir einfach finden. Dann wissen wir auch, wer sie ist.«
»Und wie willst du das anstellen?«
»Ich setze ihr Bild in die Zeitung. Dazu den flotten Text: ›Wer mich kennt, mag mir mal schreiben!‹ – Toll, was? Ist das eine Idee? So etwas fällt nur dem genialen Ludwig Zipka ein.«
»Allerdings! Gestern hätte ich dir dafür noch einen Tritt gegen das Schienbein gegeben …«
»Und heute?« Er hob den Kopf.
Sie faßte nach ihm und drückte ihn zurück in ihren Schoß. »Bleib liegen, du Scheusal!«
»Wir werden sehen, wer sich dann meldet.«
»Oberpfaffenhofen.«
»Das wäre zu schön! Aber ich bin ganz sicher, daß es eine Reaktion geben würde. Die wenigsten Menschen sind völlig allein, sie glauben das bloß. Man macht sich nur nicht die Mühe, ihr Leben aufzudecken. Doch genau das werden wir bei Lulu tun.«
»Von der Moulin St. Jacques aus?«
»Warum nicht? Ich werde sie fotografieren, die Bilder an verschiedene deutsche und französische Zeitungen schicken und dann abwarten.«
»Du wirst dich wundern, was da an Zuschriften eintrudeln wird.« Kathinka lachte leise. »Jeder wird glauben: Aha, das ist eine neue Call-Girl-Masche! Du wirst dich durch nichts als Schweinereien wühlen müssen – ich habe das kennengelernt.«
»Deine Anzeige damals! Dame mit eigenem Wagen …«
Sie nickte und streichelte sein Gesicht. »Ich kam mir vor, als läge ich nackt auf dem Kröpcke von Hannover, das ist so was ähnliches wie bei euch der Stachus … Aber daran will ich nicht mehr denken.«
Zipka dehnte sich, hob den Kopf und küßte Kathinkas Brust.
»Sortieren wir also einmal die potenten Herren, die sich melden, aus. Dann bleibt noch jemand hängen, der sie bei ihrem Namen nennt, der sie also kennt! Und dann haben wir's! Dann ist auch eine gezielte Therapie möglich. Man kann ihr dann das vergessene Leben so lange einhämmern, bis sie sich wieder daran erinnert.«
»Mit anderen Worten: Wir haben die schöne Lulu noch lange am Hals …«
»Ich würde das nicht so bitter ausdrücken, Tinka. Das Mädchen braucht uns jetzt! Wenn wir uns nicht um die Kleine kümmern, verschwindet sie in der Anonymität irgendeiner Klinik.« Er hob die Arme und zog Kathinka erneut an sich. »Ich verspreche dir, Liebling, daß ich sofort mit den Nachforschungen beginne.«
Kathinka seufzte, küßte seine Augen und kniff ihn in die Bauchfalte. »Man kann dir ja nichts abschlagen«, sagte sie leise. »Jetzt nimm deine Hände weg, sei brav, zieh dich an und denk daran, daß wir noch zurückfahren müssen.«
Sie kamen erst bei Einbruch der Dunkelheit zurück.
Mit größter Mühe hatte Zipka den Wagen in Ordnung gebracht. Nicht nur die Zündkerzen waren, wie er vermutet hatte, grauenhaft verrußt, auch der Zündverteiler funkte nur in Abständen. Zipka rüttelte an Leitungen und Schnüren, hantierte mit Isolierband und einer kleinen Stahlbürste, putzte, schabte, umwickelte und probierte, bis der Motor unwillig ansprang und sie die Heimfahrt antreten konnten.
»Du bist ja ein Künstler!« rief Kathinka und küßte Zipka fröhlich. »Was war denn kaputt?«
»Keine Ahnung. Ich habe auf gut Glück da gewickelt und gebürstet, wo etwas sein könnte. Schnell ins Auto – damit es sich die Sache nicht anders überlegt!«
Die Fahrt zur Mühle erfolgte in Etappen. Neunmal blieb der Wagen stehen, neunmal baute Zipka die Zündkerzen aus und stellte fest, daß sie wieder total verrußt waren.
»Du bist zu fett!« sagte er. Es war bei der fünften Etappe.
Kathinka fuhr herum. »Was hast du gesagt?«
»Dein Superauto! Die Benzinzufuhr klappt nicht. Es bekommt zuviel Sprit, oder das Luftgemisch stimmt nicht – was weiß ich? Ich habe keine Ahnung! Auf jeden Fall verrußen die Kerzen dauernd und verrecken dann! Immerhin – wir arbeiten uns in Sprüngen vorwärts! Auch so kommt man um die Welt …«
Schon von weitem sahen sie, daß rund um die Mühle alles hell erleuchtet war. Die Scheinwerfer eines Feuerwehrautos brannten, drei weitere Standscheinwerfer erhellten das Etang-Ufer, auf dem Wasser schwammen drei Boote, in denen Männer saßen, die die Seeoberfläche ableuchteten, auf dem Mühlenvorplatz waren einige Wagen aufgefahren, als wollten sie eine Wagenburg bilden.
»Du meine Güte!« sagte Zipka und wischte sich die Augen aus. Er fuhr jetzt Kathinkas Wagen und verschwieg ihr, daß er ihr eigentlich Abbitte leisten mußte. Die kleine Rakete lag verdammt gut in der Hand und führte einen dauernd in Versuchung, das Gaspedal voll durchzutreten. Außerdem, so fand er, saß man hinter dem Steuer bequemer als auf dem Nebensitz.
»Andratte läuft zur Hochform auf! Welch ein Glück …«
»Wieso?«
»Ich meine Lulu. So irre ist sie wieder nicht, daß sie oben am Fenster erscheint und ruft: ›Huhu, hier bin ich!‹«
»Und was machen wir jetzt?« fragte Kathinka ziemlich hilflos.
»Wir greifen in das Geschehen ein und lenken es in andere Bahnen! Mein Schatz, habe nur Vertrauen zu Zipkas Ideen.«
Vertrauen allein nützt nichts, wenn die äußeren Umstände dagegen sind. Zipka ahnte es, als sie die Mühle erreicht hatten. Der Vorplatz sah aus wie ein Jahrmarkt. Dupécheur war mit einem Kombiwagen gekommen und hatte eine Art kaltes Büffet aufgebaut ein Fäßchen Rotwein angezapft und saß nun auf einem Klappstuhl neben seiner Freiluft-Bar, gestikulierte mit beiden Armen und schrie sofort, als er Zipka erblickte: »Monsieur! O, pardon, Madame. Endlich kommen Sie! Ein Glas Pinot? Dazu frischen Ziegenkäse? Messieurs, er ist endlich da! Sehen Sie da drüben den Herrn mit der Glatze? Das ist Kommissar Flacon aus Arles. Dr. Bombette kennen Sie ja. Und da hinten kommt gerade Alain aus dem Wasser. Jawohl, der Froschmann. Er ist der Chauffeur des Marquis de Formentiére. Ein mutiger Bursche! Hat schon allerhand aus dem Etang geholt: ein verrostetes Fahrrad, drei Gummischläuche, eine vergessene Reuse und eine große Puppe! Als er damit auftauchte, haben wir alle ›Ha!‹ geschrien und geglaubt, jetzt hat er sie gefunden. Nicht doch einen Pinot, Madame? Riechen Sie mal … Na, Sie riechen nichts? So frisch ist der Ziegenkäse! Gleich wird ganz Mas d Agon hier sein und an dem großen Tag teilnehmen!«
Zipka und Kathinka lehnten dankend ab und begrüßten Dr. Bombette. Er hockte auf dem Trittbrett des alten Feuerwehrwagens und kaute an einem Stück Hartkäse. Sein Weinglas balancierte er auf dem linken Knie.
»Gleich ist es soweit«, rief er mit glänzenden Augen. »Das Boot haben sie gefunden. Liegt vier Meter tief auf Grund. Alain wird sie im nächsten Versuch heraufholen.«
»Wen?« fragte Zipka verblüfft.
»Unsere arme Irre!« Dr. Bombette trank sein Glas aus und stellte es an einen zusammengerollten Schlauch. »An dieser Stelle ist kaum Strömung. Sie kann nicht weit abgetrieben sein. Ekelhaft!«
»Das kann man wohl sagen«, meinte Zipka. »So zu sterben …«
»Nicht die Tote, der ganze Rummel hier! Die Leute machen daraus ein Volksfest! Sehen Sie diesen Dupécheur an: Schamlos! Eine Sauf- und Freßtheke wie beim Nationalfeiertag! Nur die Fahne fehlt noch. Und seine vielen Orden hat Dupécheur nicht angelegt. Oder nehmen Sie Andratte: Bisher hat er sich zwölf mal für die Presse fotografieren lassen! Zwölf mal! Neben dem Froschmann Alain, Arm in Arm mit ihm, einmal sogar bis zu den Knien im Wasser, dann neben Kommissar Flacon, der diesen Blödsinn auch noch mitmacht, viermal mit der langen Suchstange in der Hand, zweimal im Schlauchboot mit Duallier, eine Fackel schwingend und vorhin sogar mit einem Suchhund, der gar keiner ist! Es ist der taube Köter von Wanourit, dem Schuster. Andratte will der berühmteste Polizist von Frankreich werden. Aber meine Stunde kommt auch noch! Wenn sie erst die Arme aus dem Wasser gezogen haben und ich trete heran, beuge mich über sie und sage mitten in die Blitzlichter der Kameras hinein: ›Sie ist tot. Ertrunken!‹ – das wird alles übertreffen!« Bombette zuckte plötzlich zusammen. »Ha! Jetzt geht Alain wieder ins Wasser! Monsieur, Madame – in wenigen Minuten vollendet sich das Drama …«
Zunächst aber trat der Pressefotograf von neuem in Aktion. Er war der einzige Fotograf, den Sergeant Andratte in Arles benachrichtigt hatte. Diese Exklusivität der Berichterstattung verdankte der Fotograf dem Zufall, daß er mit einem Mädchen in einem eheähnlichen Verhältnis zusammenlebte, das die Tochter von Andrattes Schwester, also die Nichte des Sergeanten war.
Dementsprechend stellte der Kameramann den Onkel nun heraus und garantierte eine Reportage, die den Namen des Sergeanten Andratte in aller Munde legte.
Der Froschmann Alain posierte am Boot, ehe er einstieg und in den Etang hinausruderte. Das Blitzlicht zuckte mehrmals auf, Kommissar Flacon massierte mit beiden Händen seine Glatze. In seiner Begleitung befanden sich drei Herren, die vorsorglich einen reichlich engen Zinksarg mitgebracht hatten. Alle rauchten hastig.
Die Luft war mit Dramatik geladen. Zipka zuckte unwillkürlich zusammen, als er hinter sich lautes Schluchzen hörte. Es war Madame Florence Dupécheur, die ihre Erschütterung nicht länger verbergen konnte. Während sie unentwegt Weißbrotschnitten mit Ziegenkäse belegte, weinte sie hemmungslos.
Dr. Bombette sprang vom Trittbrett des Feuerwehrwagens und griff nach seiner Arzttasche. »Kommen Sie mit, Monsieur?« fragte er Ludwig Zipka.
Kathinka, die bisher geschwiegen hatte, stieß Zipka in die Seite. »Müssen wir nicht ins Haus?« fragte sie, und ihre Stimme verriet Besorgnis.
»Warum?«
»Ich denke – du weißt schon …«
»Keine Sorge!« Er lächelte verschmitzt. »Im Haus brennt uns nichts an. Aber eines interessiert mich brennend: Wer hat den morschen Kahn in den See hinausgefahren und dort versenkt?«
»Vielleicht der Wind …«
»Unmöglich. Das Boot war so fest im Schilf verklemmt, daß es ohne fremde Hilfe nicht freikommen konnte. Schatz, davon verstehe ich als Angler etwas. Irgend jemand muß den Kahn hinausgeschoben haben. Lulu war es auf gar keinen Fall.«
»Du meinst, daß …« Kathinkas Augen wurden groß. »Das würde bedeuten, daß …«
»Keine Vermutungen zunächst, bitte. Auf jeden Fall sehe ich mir den Kahn an, wenn sie ihn bergen.«
»Alain ist über der fraglichen Stelle!« rief neben ihnen Dr. Bombette aufgeregt. »Der verdammte Zeitungsmensch! Dauernd fotografiert er nur Alain und Andratte! Ich muß hin. Pardon, Madame …«
Er nahm seine Tasche unter den Arm und lief zum Ufer hinunter.
Der Fotograf knipste durch ein Teleobjektiv und ließ, um bessere Beleuchtung zu haben, den Froschmann von zwei Scheinwerfern zusätzlich anstrahlen. Ein imposantes Bild, das sogar einen leicht künstlerischen Einschlag hatte. Jetzt begrüßte Kommissar Flacon den Arzt – obwohl sie schon seit Stunden zusammen waren – und rief dem Pressemann entsprechende Anweisungen zu.
Die nächsten drei Fotos waren der Kriminalergruppe vorbehalten. Dr. Bombette stellte sich in Positur, attraktiv neben dem geöffneten Zinksarg der Polizei, die Arzttasche deutlich in der rechten Hand, im Gesicht sowohl verhaltene Trauer als auch die Überlegenheit eines durch nichts zu erschütternden Mediziners zur Schau tragend. Etwas abseits, bisher nicht fotografiert, stand ein großer, schlanker eleganter Herr und unterhielt sich mit Sergeant Andratte. Er trug einfache blaue Jeans und hohe Gummistiefel, wie sie Angler in Wildbächen tragen, die auf Lachse stehen. Die Stiefel gingen über in eine weite Gummihose und einen Gummilatz, ein durch und durch wasserdichter Anzug, wenn man nicht gerade im See umfiel. Auf dem Kopf trug der Herr eine verbeulte ausgeblichene Mütze.
Zipka musterte ihn und fand ihn, aus der Anglerperspektive gesehen, irgendwie sympathisch. Ein Mann in einer solchen zünftigen Aufmachung beanspruchte wohl freundliche Aufmerksamkeit. Angler besitzen so etwas wie Familiensinn. Es war offensichtlich, daß der Herr ins Wasser waten wollte, um bei der Bergung der Leiche behilflich zu sein. Zipka legte den Arm um Kathinka und zog sie mit sich fort. Alain stürzte sich kopfüber ins Wasser. In dem Scheinwerferlicht sah er wie ein riesiger schwarzer Fisch aus, was natürlich auch fotografiert wurde.
Langsam füllte sich nun auch der Vorplatz der Mühle, und es trat ein, was Dupécheur vorausgesagt hatte: Ganz Mas d'Agon war auf den Beinen und rückte mit Mopeds, Fahrrädern, Kombiwagen und sogar zu Pferde an. Man umlagerte das Büffet von François, trank den Pinot noir und diskutierte über die Tragik, die so plötzlich über ihren Etang gekommen war.
Als letzter erschien mit einem Meßdiener der Pfarrer des Ortes, der ehrwürdige, dicke, seit Jahrzehnten infarktgefährdete Valérie Ortège, der behauptete, das Wunder seines Weiterlebens sei allein einem Landwein zu verdanken, den er aus der Provence bezog. Ein frischer hellgelber Wein, der sein Herz jubeln ließ.
Pfarrer Ortège rollte auf seinen kurzen Beinen zum Ufer, begrüßte den Kommissar Flacon, drückte Dr. Bombette die Hand – jedenfalls so lange, bis auch dieses Foto geblitzt war – und faltete seine Hände über dem gewaltigen Bauch.
Sergeant Andratte stellte nach einem kurzen Rundblick fest: Was man tun konnte, war getan! Feuerwehr, Froschmann, Kriminalpolizei, Arzt und Pfarrer. Solches Organisationstalent mußte selbst in Arles gelobt werden.
Der Herr in Gummihose und Anglerhut zog den letzteren, als er Zipka und Kathinka auf sich zukommen sah. Sergeant Andratte breitete die Arme aus wie eine Mutter, der die Kinder entgegenlaufen. »Da sind Sie ja endlich, Madame, Monsieur!« rief er dröhnend. »Sie kommen im richtigen Augenblick. Gleich haben wir die Tote!«
»Zipka!« sagte Zipka und deutete eine Verbeugung an. »Louis Zipka. Das ist meine Frau Catherine …«
Der elegante Herr hob Kathinkas Hand bis einen Millimeter vor seine Lippen, hauchte kurz darüber und antwortete in der unnachahmlichen Art eines französischen Kavaliers: »Ich bin entzückt, Madame! So traurig der Anlaß ist – mit Ihnen fällt ein wenig Sonne auf die tragische Stunde. – De Formentiére. Raoul de Formentiére!«
»Marquis de Formentiére«, verbesserte Andratte stolz. Die Deutschen sollten ruhig wissen, in welchem gesegneten Landstrich sie Urlaub machten. Hier wohnte sogar ein Marquis … Zipka revidierte insgeheim nach dieser Begrüßung sein familiäres Anglerurteil. Ein gelackter Affe, dachte er. Billige, tönende Komplimente! Reinste Show!
Aber Kathinka schien es zu gefallen. Sie warf dem Marquis ein Lächeln zu, das jeden Mann bis in die Kniekehlen kitzeln mußte. Raoul fing dieses Lächeln auf und behielt Kathinkas Hand in der seinen. »Ich hörte, Sie haben die Mühle gemietet«, sagte er. Er nickte dabei Zipka zu, um ihm das Gefühl, übersehen zu werden, zu nehmen. »Dazu gehört zweifellos Mut.«
»Nur etwas Phantasie!« antwortete Zipka.
»Ich bitte Sie!« Aber Raoul ließ endlich Kathinkas Hand los, legte dafür seine andere Hand dramatisch aufs Herz. »Jeder hier weiß, daß es in der Moulin St. Jacques spukt. Seit Generationen macht man einen großen Bogen um sie. Selbst die Herren vom Denkmalschutz haben ihr Interesse verloren und die Mühle zum Verfall freigegeben, nachdem sie zwei Nächte dort verbracht hatten. Aus allen Ritzen drang helles Stöhnen …«
»Stimmt!« Zipka zeigte seine Zähne. »Wir haben es auch erlebt. Der Wind pfeift einfach überall durch.«
»Und der Kopf, der durch das Zimmer rollt?«
»Der ist uns noch vorenthalten worden. Dafür bekamen wir ein Mädchen mit einer Bewußtseinsspaltung beschert.«
»Sehen Sie!« Raoul de Formentiére sah Kathinka mit echter Besorgnis an. »Es setzt sich fort. Nur die Mittel werden moderner.«
»Ja, es ist tatsächlich erstaunlich, wie sich die Geister dem jeweiligen Trend anpassen.« Ludwig Zipka legte seinen Arm um Kathinka. Halt, Herr Marquis, sollte das heißen, der Besitzer dieses Wunders von Frau bin ich! Sie können Ihren Charme hektoliterweise versprühen – ich stehe immer dazwischen und fange die Dusche aus Süßholzraspelei auf! »Es ist nur so, Marquis, daß wir gar keine Angst haben. Sollte der Kopf wieder einmal durchs Zimmer rollen, werde ich das als Aufforderung zum Fußballspielen betrachten.«
»Man sollte aber doch Madame solche Aufregungen ersparen.« Der Marquis warf einen Blick über den See, wo Alain, sein Chauffeur, gerade auftauchte und erregt mit der rechten Hand wedelte. Nichts, hieß das. Dann tauchte er wieder unter. Pfarrer Ortège schien ein Gebet zu sprechen, denn Kommissar Flacon, die drei Begleiter und sogar Dr. Bombette machten sonntägliche Gesichter. Vor der Mühle wurde es jetzt volksfesthaft laut – der Wein zeigte erste Wirkungen, Dupécheur zapfte ein zweites Fäßchen an.
»Madame ist ebenso mutig«, sagte Zipka mit höhnischem Unterton. »Uns gefällt die Mühle. Wem gehört sie?«
»Warum?«
»Wenn wir uns daran gewöhnt haben, würden wir sie vielleicht kaufen.«
»Die Mühle gehört dem Staat!« erklärte Andratte wichtig. »Die Verwaltung liegt bei der Gemeinde Mas d'Agon. Das Ehepaar Dupécheur pflegt sie. Die Mühle kaufen? Unmöglich!«
»Ich habe es auch schon versucht. Völlig unmöglich«, warf Raoul de Formentiére ein. »Ich hatte sogar einmal die Idee, die Mühle zu einem Hotel umzubauen. Sie werden kein Glück haben, Monsieur.«
Der Froschmann tauchte von neuem auf, wedelte verzweifelt mit der Hand und verschwand wieder im See. Ein neuer Scheinwerfer wurde in Stellung gebracht und erhellte das Suchgebiet mit gleißendem Licht.
»Es scheint Schwierigkeiten zu geben«, stellte Zipka scheinheilig fest. »Vielleicht hat sich die Unglückliche irgendwo verfangen. Gibt es hier so etwas wie Algenwälder?«
Der Marquis überhörte diese sarkastische Frage. Er strahlte Kathinka an, sie strahlte zurück und schüttelte sogar Zipkas Arm ab, was ihm geradezu körperlich weh tat. Das fängt ja gut an, dachte er verbittert. Nur ein paar Stunden ist es her, da gehörten uns der Himmel und alle Unendlichkeiten … Und jetzt säuselt dieser banale Lackaffe Sprüche in die Gegend, die Kathinka schluckt wie die feinsten Nougatpralinen! Man sehe sich nur diese Gummiaufmachung an! An ihm wirkt sie doch wie eine Maskerade, wie ein Karnevalskostüm – geradezu lächerlich! Eine komische Figur, über die jeder ernsthafte Angler nur lachen kann. Wetten, daß er nicht weiß, womit man Karpfen fängt? Und erst auf einen Hecht ansitzen … Da beißt keiner an, verehrter Herr, und wenn Sie noch so blöde die Augen verdrehen!
»Ich schlage vor«, sagte jetzt Raoul de Formentiére, »daß wir diesen Ort der Traurigkeit verlassen. Es wäre mir eine große Ehre, wenn Madame – und natürlich auch Monsieur – meine Gäste sein könnten. Wir fahren keine zehn Minuten bis zu meinem bescheidenen Dach. Ich kann mir denken, daß Sie, Madame, durch die tragischen Ereignisse doch sehr aufgewühlt sind. Es dürfte eine zu starke Nervenbelastung darstellen, wenn Sie jetzt auch noch eine Nacht in der Mühle verbringen wollten. Vor allem – diese Nacht! Madame, mein Haus steht zu Ihrer Verfügung! Bestimmen Sie darüber, als sei es das Ihre!«
Zipka biß sich leicht auf die Unterlippe. »Das ist völlig ausgeschlossen«, sagte er entschieden.
Kathinka blickte ihn verwundert an. »Wieso denn, Schatz?«
»Wieso denn!« schnaubte Zipka wütend. »Wir können die Mühle doch nicht allein lassen! Oder – können wir das vielleicht?«
Mit stiller Freude verfolgte der Marquis Zipkas Anstrengungen, unverfänglich an das Mädchen Lulu zu erinnern. Kathinka begriff es sofort, aber sie betrachtete das Problem von einer praktischen Seite. Wenn sie das Angebot des Marquis annähmen und seine Gäste sein würden, müßte Lulu, allein gelassen, über kurz oder lang zwangsläufig einen neuen Weg in die Zukunft finden. So, wie sie aufgetaucht war aus dem Nichts, so würde sie auch wieder verschwinden müssen. Das war zwar nicht ausgesprochen human gedacht, aber in ihrer Lage doch die undramatischste Lösung.
»Ich glaube, der Herr Marquis hat recht«, meinte Kathinka vorsichtig. Zum erstenmal, seit diese Liebe begonnen hatte, dachte Zipka ernsthaft daran, jeden anderen Mann aus Kathinkas Nähe einfach fortzuprügeln. »Die Mühle ist einfach unheimlich«, fuhr sie fort, »gib es zu, Liebling! Dazu Lulus schreckliches Schicksal – ich könnte wirklich keine Nacht mehr schlafen. Immer hätte ich das furchtbare Bild vor Augen, wie sie hilflos ertrinken mußte …«
»Warum zögern Sie, Monsieur?« Der Marquis setzte seinen verbeulten Anglerhut auf. Alain, der Froschmann, schoß zum drittenmal aus dem Wasser, fuchtelte mit beiden Armen wild durch die Luft und tauchte sofort wieder unter. In der Menge bildeten sich zwei Gruppen, die diese Zeichengebung unterschiedlich werteten. Kommissar Flacon deutete es als Fehlschlag, Dr. Bombette plädierte für ein Fundsignal. Der Mann neben dem Zinksarg zog seine Gummihandschuhe an. Er sympathisierte mit der Haltung des Arztes.
»Sehen Sie denn nicht, wie blaß Madame ist?« argumentierte der Marquis hinterlistig. »Sie müssen meine Einladung annehmen! Solch ein Erlebnis kann zu einem unheilbaren Schock führen – zu einem tiefenpsychologischen Trauma! Madame wird erst in meinem Haus aufatmen können …«
»Wir werden es uns überlegen, Marquis«, sagte Zipka, innerlich vor Zorn knirschend. »Wir müßten ja auch noch die Koffer packen.«
»Das werden Sie doch wohl allein schaffen, Monsieur.«
»Sicherlich, aber Kofferpacken ist nun einmal eine Spezialität meiner Frau. Keiner kann die Hemden falten wie sie, keiner die Anzüge so knitterfrei zusammenlegen. Und erst im Ausfüllen von leeren Ecken im Koffer – darin hat sie eine Meisterschaft entwickelt, die einfach unschlagbar ist! Sie packt in einen Koffer ein Drittel mehr hinein, als der optimistischste Hersteller es in der Werbung verkündet. Provozieren Sie das nicht, Marquis! Ich müßte mit der Hälfte des Gepäcks auf dem Arm zu Ihnen kommen, wenn ich allein die Koffer packen würde.«
»Alain kann Ihnen helfen.«
»Danke, einigen wir uns darauf, daß wir morgen umziehen!«
»Aber die kommende schreckliche Nacht …«
»Ich werde ein Schlafmittel nehmen«, sagte Kathinka und strahlte den Marquis wieder an. Er ergriff spontan ihre Hand und küßte sie inbrünstig. Diese adeligen Manieren!
»Und ich werde mich besaufen!« verkündete Zipka grob. »Und dann möchte ich keinem abgeschlagenen Kopf raten, durch das Zimmer zu kollern! Aha, der Froschmann kommt von neuem …«
Alain war wieder einmal aufgetaucht, kletterte aber diesmal nicht in sein Boot, sondern schwamm mit klatschenden Flossenschlägen ans Ufer. Im seichten Wasser angekommen, stand er auf und tapste an Land.
Dr. Bombette, der seinen Arztkoffer schon aufgeklappt hatte, schloß ihn wieder mit einem Knall. Kommissar Flacon und Sergeant Andratte rannten zum Seeufer; der Pressefotograf knipste den dramatischen Dauerlauf.
»Nichts!« schrie Alain, noch bevor er ganz an Land war. »Nur das Boot. Mit einem Loch in der linken Seite. Sonst nichts!«
»Die Strömung …«, keuchte Flacon und wich zurück, weil Alain seine Gummikappe vom Kopf riß und das Wasser umherspritzte. »Ich habe es gleich gesagt – die Strömung!«
»Da unten ist überhaupt keine Strömung!« Alain entledigte sich der Preßluftflaschen auf dem Rücken. »Da unten ist es ruhig wie im Sarg. Nichts bewegt sich. Da kann man hinpinkeln, und es bleibt stehen wie ein Fettfleck …«
Andratte lachte meckernd und etwas hysterisch; Flacon runzelte die Stirn, denn er war trotz seines Berufes ein Ästhet. Ihm dämmerte jetzt, daß der so harmlos scheinende Fall eines geistesgestörten Mädchens, das ins Wasser gegangen war, sich zu einem kriminalistischen Preisrätsel auswuchs. Verschwundene Leichen sind von jeher der Alptraum aller Kriminalisten und führen dann ein Dauerdasein als unerledigte Akte. Jeder ›offene Fall‹ aber ist wie eine häßliche Warze im Gesicht eines Kriminalisten.
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte der Kommissar laut, um die Betroffenheit, die um sich griff, zu verscheuchen. »Und sonst nichts: Entweder sie ist doch abgetrieben worden – oder sie ist gar nicht ins Wasser gegangen!«
»Und der Kahn?« rief Zipka aus dem Hintergrund.
Kommissar Flacon fuhr herum, als habe man ihm ins Gesäß gestochen. »Wer sind Sie denn?« brüllte er los.
»Louis Zipka aus Munich.«
»Aha! Warum melden Sie sich erst jetzt? Sie sind der letzte gewesen, der das Mädchen gesehen hat! Kommen Sie sofort her. Auf Ihre Aussage warte ich! Protokollführer! Bonaparte, wo stecken Sie? Immer wenn man den Kerl braucht, ist er woanders. Wie sein kaiserlicher Namensvetter!«
Bonaparte Esmouchard, Kriminalsekretär seines Zeichens, kam von Dupécheurs Weinverkaufsstand gerannt und kaute noch an einem Käsebrot. Er bremste vor Flacon und riß Stenogrammblock und Bleistift aus der Rocktasche. Zipka mußte mit großem Mißfallen feststellen, daß Kathinka ihn nicht zu dem Verhör begleitete, sondern bei dem Marquis stehenblieb und sogar mit gurrender Stimme – so kam es Zipka wenigstens vor – über einen sicherlich saublöden Witz lachte.
Zipka berichtete in knappen Worten, was er mit Lulu erlebt hatte. Flacon starrte ihn an, der dicke Pfarrer Ortège schnaufte daneben ergriffen, und Dr. Bombette steuerte eine Diagnose bei. Er verkündete mit erhobener Stimme: »Eine klare totale Absence, aber keine epileptische! Es handelt sich um eine Absence traumatischer Natur. Ein hochinteressanter Fall! Wir müssen die Kranke unbedingt finden, Herr Kommissar.«
»Gott wird sie schützen!« sagte Pfarrer Ortège sanft, aber bestimmt.
»Warum haben Sie die Kranke allein weggehen lassen?« schnaubte Flacon.
»Was sollte ich tun?«
»Sie festhalten!«
»Das wäre Freiheitsberaubung gewesen. Ich werde mich hüten.«
»Sie war doch eine Schwerkranke! In diesem Fall wäre es sogar Ihre Pflicht gewesen.«
»Hinterher ist man immer klüger! Hinterher wundert sich auch das Huhn, daß es ein so dickes Ei herausdrücken konnte. Darum gackert es auch so …«
»Monsieur!« Flacon holte tief Luft. »Ich bitte doch um den nötigen Ernst. Sie hatten, als Sie das Mädchen aufnahmen und seine Krankheit erkannten, die Verantwortung für alles übernommen!«
»Wollen Sie mir jetzt die Schuld zuschieben, Herr Kommissar?«
»Sie hatten eine Aufsichtspflicht! Sie hätten nicht wegfahren dürfen.«
»Meine Frau befahl es …«
»Madame!« Flacon blickte hinüber zu Kathinka und dem Marquis. Die beiden unterhielten sich anscheinend blendend. »Madame befahl? Wie soll ich das verstehen?«
»Das Mädchen war sehr hübsch. Besser gesagt, sie war ausgesprochen sexy …« Pfarrer Ortège schnaufte, sagte aber nichts. »Ein süßes Gesichtchen«, fuhr Zipka fort. »Ein Körper wie ein Reh – und dazu die Brüstchen …«
»Zur Sache!« knurrte Flacon und bekam rote Ohren.
»Ich bin ja mittendrin!« Zipka hob bedauernd beide Hände. »Madame war eifersüchtig. Madame flimmerte es vor den Augen vor Eifersucht. Und wenn Madame in einem solchen Zustand ist, muß man ihren Befehlen gehorchen.«
»Das ist ein hundertprozentig entlastendes Motiv!« erklärte Dr. Bombette sachverständig. Kommissar Flacon nickte stumm. Er mußte an seine eigene Frau denken und empfand brüderliche Gefühle mit dem Deutschen. Der Spielraum unseres Lebens ist begrenzt, philosophierte er in Gedanken. Es gibt Schicksale, denen man nicht ausweichen kann …
»Gut! Erkennen wir das an!« sagte er streng. »Aber Sie hätten die Kranke doch begleiten oder beobachten können …«
»Auf die Gefahr hin, in eine männlich prekäre Situation zu kommen?«
Flacon seufzte, nickte schwer und zuckte zusammen, als der Sekretär fragte: »Was soll ich jetzt protokollieren?«
»Nichts! Sie können wieder zu Ihrem Wein gehen, Bonaparte!« Er wartete, bis Esmouchard außer Hörweite war. Dann sagte er: »Und so etwas will einmal Kommissar werden! Und ich wette, er wird es! Wie gut, daß ich dann pensioniert bin. Mir ist um die Polizei der späteren Generationen angst und bange. Die Welt wird ein Chaos sein!«
»Gott sieht alles!« ließ sich Pfarrer Ortège vernehmen.
Flacon nickte wild. »Er sieht's! Mir wäre lieber, wir sähen etwas! Nur einen Zipfel der Kranken!« Er blickte sich im Kreis um. »Was meinen Sie, Messieurs? Brechen wir die Suche ab?«
Sergeant Andratte schwitzte heftig vor innerer Erschütterung. Sein schöner Fall drohte sich in Luft aufzulösen. Die Feuerwehr von Mas d'Agon schien das schon länger erkannt zu haben: Die wackeren Männer standen an Dupécheurs Theke und tranken wie Wüstenpilger.
Dr. Bombette kratzte sich an der Nase. Auch er nahm Abschied von seinem die Öffentlichkeit bewegenden Totenschein. »Ich möchte sagen – ja!« erklärte er. »Wir haben aber noch eine Chance …«
»Und welche, Dr. Bombette?« rief Flacon eifrig.
»Warten, bis die Tote von allein hochkommt. Wenn ich das einmal medizinisch erklären darf: Bei einer Wasserleiche bilden sich …«
»Danke!« unterbrach Flacon grob. »Der Fall bleibt also bis auf weiteres unaufgeklärt. Sergeant, die Leute können abrücken.«
Emile Andratte nickte zu dem Vorplatz der Mühle hin. Dort herrschte ein Treiben wie an einem Markttag. »Sie feiern!« sagte der Sergeant dumpf. »Es wird keinem mehr gelingen, sie nach Hause zu treiben.«
»Es gibt aber doch gar keine Leiche!« brüllte Flacon hysterisch.
»Das ist denen jetzt egal.« Andratte hob resignierend die Schultern. »Wenn sie feiern, dann feiern sie …«
Gegen drei Uhr morgens, als Andratte, von Zipka getröstet, die Mühle als letzter verließ, trat endlich Ruhe ein.
Der Marquis de Formentiére war schon vor einer Stunde abgefahren, von dem Froschmann Alain chauffiert, der seinen Taucheranzug gegen eine diskrete blaue Livree mit einem Wappen auf der linken Brustseite vertauscht hatte. Der Marquis hatte versprochen – und kein Widerspruch wurde laut –, daß Alain gegen Mittag des nächsten Tages Madame und Monsieur auf das Landgut holen würde. »Sie werden wie eine Herrscherin empfangen werden!« hatte Raoul verkündet, was Zipka ausgesprochen blöde fand. Dann hatte er Kathinka angestrahlt, ihr unverschämt lange die Hand geküßt und sich von ihr losgerissen, als gehe er auf eine Weltreise.
»Er übertreibt schamlos«, sagte Zipka böse, als Kathinka dem Wagen nachwinkte. »Findest du nicht auch?«
»Nicht mehr als du bei dieser Lulu«, erwiderte Kathinka. »Er ist in jeder Faser ein Mann von Kultur.«
»Und angelt Meeresfische mit Würmern!«
»Wer sagt das?«
»Ich habe ihn gefragt.«
»Das konnte ich mir denken. Dein einziges Wertmaß für Menschen sind Anglerfliegen.«
»Ich angle Meeresfische nur mit kleingehackten Langoustinos.«
»Zipka, der Anglerpapst!« Sie zeigte auf die Mühle. »Hast du dir überlegt, was nun aus Lulu wird?«
Nachdem auch Andratte auf dem knatternden Motorrad abgefahren war, konnte nun diese Frage beantwortet werden. Sie warteten, bis die Rücklichter des Sergeanten in der Ferne vom fahlen Dunkel aufgesaugt worden waren, schlossen dann die Mühlentür auf, und Zipka zündete die Petroleumlampe neben dem Eingang an.
Lulu lag auf der Couch, mit einer Wolldecke zugedeckt, und schlief. Im Schlaf hatte sie die Lippen wie ein trotziges Kind vorgestülpt. Ihre Bluse stand offen und gab ihre volle Brust frei.
»Süß«, flüsterte Zipka, in den Anblick vertieft.
»Geh hin und berausche dich!« zischte Kathinka wütend.
»Tinka! Bei aller weiblichen Bosheit, du mußt aber zugeben, daß sie entzückend aussieht und daß es ein Jammer wäre, so etwas verkommen zu lassen.«
»Wüstling! Willst du sie etwa mit zu dem Marquis nehmen?«
Kathinka zündete auch die anderen Lampen an und zog entschlossen eine Decke über Lulus nackten Oberkörper. Ihre Lippen öffneten sich leicht, sie schlief aber weiter.
»Diese Einladung anzunehmen war das Dümmste, was du je in deinem Leben getan hast! Aber ich ahne deine Hintergedanken!« Zipka setzte sich in einen Sessel und blickte das schlafende Mädchen an. »Sie soll mit sich allein fertig werden …«
»Sie ist eine Gefahr.«
»Aha!«
»Ich spüre es, Wig.«
»Was du spürst, ist billigste Eifersucht.«
»Nicht so wie bei dir, wenn du nur an den Marquis denkst. Du konntest sie ja nicht mehr verbergen.«
»Das ist auch etwas völlig anderes!«
»Oho! Und wieso?«
»Ich wüßte nicht, daß der Marquis sein Gedächtnis verloren hat.«
»Das ist doch kein Argument.«
»Wieso nicht? Das ist wohl eines! Auf Lulu eifersüchtig zu sein ist billig. Sie ist eine arme Kranke! Aber der Marquis? Ich halte ihm als einziges zugute, daß er nur wenig Verstand zu verlieren hat!«
Kathinka kam aus der Küchenecke. Sie brachte eine Flasche Wein und zwei Gläser mit. »Laß uns endlich vernünftig reden, Schatz«, sagte sie einlenkend. »Sie ist wirklich gefährlich!«
»Und das soll vernünftig sein?« Zipka goß ein und schob Kathinka ein Glas über den Tisch.
»Ich kann es dir nicht erklären, Wig. Es liegt was in der Luft!«
»Hier gibt es meines Wissens keinen Föhn.«
»Vernünftig bleiben, Liebling«, wiederholte sie sanft. »Es ist manchmal unheimlich mit mir – aber ich fühle oft Dinge voraus. Ich habe einmal ein Gerüst räumen lassen, obgleich alle beteuerten, es sei stabil wie kein zweites. Am nächsten Tag wehte der Wind es um. Oder kürzlich! Ich sah im Traum einen riesigen dunklen Vogel über mein Dach fliegen. Zwei Tage später stürzte in der Nähe ein Sportflugzeug ab.«
»Auch das noch!« Zipka trank einen Schluck Wein. »Welche Vorahnungen hattest du, als du mich kennenlerntest?«
»Dich liebe ich …«
»Das überzeugt mich. Irgend etwas Wahres muß an deinen inneren Warnungen sein. Und was ist mit Lulu?«
»Ich kann es nicht konkret erklären. Ich spüre einfach Unheil. Ich sehe sie an, ich sage wie du: ›Ach, wie ist sie süß!‹, und gleich meldet sich eine andere Stimme in mir und warnt: ›Sei vorsichtig! Paß auf! Da lauert etwas …‹ Man kann dieses Mißtrauen nicht greifen. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja und nein. Ich frage mich: Wie kann so ein Mädchen uns gefährlich werden?«
»Nicht sie. Vielleicht – ihre Umgebung?«
»Sie hat doch keine.«
»Irgendwo kommt sie doch her.«
»Das eben will ich feststellen. Mein Gott, Tinka – hast du etwa plötzlich Angst?«
»Ja.« Sie nickte gleich mehrmals. »Ich werde viel ruhiger sein, wenn wir bei dem Marquis wohnen.«
»Im Gegensatz zu mir«, meinte Zipka sarkastisch. »Ob der Marquis Shakespeares gesammelte Werke besitzt? Ich werde noch mal den Othello lesen müssen. Aber wir schweifen wieder ab. Wir wissen immer noch nicht, wohin mit Lulu.«
»Ich bleibe hier«, sagte Lulu mit geschlossenen Augen.
Kathinka und Ludwig zuckten zusammen, als rolle tatsächlich ein Kopf durchs Zimmer.
»Das Luder ist wach!« meinte Zipka verblüfft.
»Und versteht deutsch!« rief Kathinka. »Antwortet aber französisch.«
Zipka wedelte sich mit der Hand Luft zu. Die Petroleumlampen stanken. »Da haben wir wieder das Rätsel der Bewußtseinsspaltung!« Er beugte sich vor und klopfte gegen die Couch. »Lulu, mach die Augen auf«, sagte er auf französisch. »Es geht um dich. Hast du nachgedacht? Weißt du jetzt, wo du vorher warst? Hast du eine ganz kleine, dunkle Ahnung? Kannst du dich an irgend etwas erinnern? An einen Hund? An eine Katze – vielleicht?«
»Wurstl …«, sagte da Lulu glücklich.
Zipka war froh, die Fangfrage hatte geklappt. Bei dem Begriff ›Hund‹ schaltete sich die Erinnerung wieder ein! Wurstl – das konnte nur ein Dackel sein, auch wenn Lulu behauptete, es sei ein großer, zotteliger korsischer Hirtenhund gewesen. Kein Korse auf ganz Korsika taufte seinen Hund Wurstl. Aber auch keine Korsin bringt Wurstl über ihre Lippen. Man war also wieder soweit wie am Morgen. »Kam Wurstl auch ins Haus?«
»Ja.«
»Wie sah das Haus aus?«
Lulu dachte sichtlich angestrengt nach, dann antwortete sie traurig: »Ich weiß nicht. Helfen Sie mir, Monsieur Louis.«
Zipka blickte Kathinka an. Sie sah an ihm vorbei in eine Ecke, weil sie ihm jetzt nicht helfen konnte. Es war eine Situation, aus der auch sie keinen Ausweg wußte.
»Sie wollen weggehen?« fragte Lulu leise.
»Nicht direkt …«, wich Zipka aus. »Wir sind – eingeladen worden.«
»Und da darf ich nicht mit?«
»Ausgeschlossen! Nicht, nachdem Sie sich hier versteckt haben, man Sie draußen gesucht hat und für tot hält.«
»Tot?« sagte sie dumpf. Es klang vorzüglich. Ein echtes Schauspieltalent. »Mich gibt es gar nicht mehr?«
»Im Augenblick nicht.«
»Warum kümmern Sie sich dann noch um eine Tote?«
Zipka schlug sich klatschend auf die Schenkel. »Da haben wir's! Das Gedächtnis verloren – aber eine um die Ecken zielende weibliche Logik ging nicht verloren! – Lulu, Sie haben eben gesagt: Ich bleibe hier! – Das wäre eine Möglichkeit. Wir sagen unserem Freund, daß wir die Mühle weiterhin bewohnen wollen und noch einige Sachen hierlassen. Dann können wir immer nach Ihnen sehen, können Ihnen Verpflegung bringen … Sie dürfen sich nur nicht am Tag draußen vor der Mühle zeigen. Vielleicht gelingt es uns, herauszufinden, wer Sie sind. Wir brauchen eben Zeit dafür …«
»Ich habe viel Zeit, Monsieur Louis.« Sie richtete sich auf, die Decke rutschte herunter, und ihre Brüste lagen wieder frei. Kathinka schielte zu ihr hin und dachte: Ein raffiniertes Luder! Sie weiß genau, trotz aller Lücken im Hirn, wie man einen Mann weichkocht. Wie muß das erst sein, wenn sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist? Dann müssen die Männer an ihr kleben wie an einem Fliegenfänger.
»Wann ziehen Sie um?«
»Morgen mittag!« antwortete Kathinka betont laut. »Das heißt – heute! Die Morgendämmerung ist ja schon da.«
Vor dem Fenster begann tatsächlich ein roter Himmel zu glühen. Der See vergoldete sich. Ein Reiherschwarm glitt über das Wasser wie brennende Nebelfetzen.
Kathinka schwieg. Vor so viel Schönheit sind Worte eine Beleidigung.
»Sie sind so gut zu mir«, flüsterte Lulu und meinte es diesmal sogar ehrlich. Eine aufgehende Sonne machte sie immer weich, melancholisch und weckte ihr Gewissen. »Ich habe das gar nicht verdient …«
Kathinka Braun starrte das Mädchen erstaunt und forschend an. Und wieder meldete sich in ihr dieses dunkle unerklärbare Gefühl einer drohenden Gefahr.
Zunächst aber galt es, den ›technischen Teil‹, wie Zipka es nannte, abzuschließen. Es war fast sicher, daß der Gastwirt Dupécheur und seine Frau Florence die Mühle putzen und dafür sorgen würden, daß in der Abwesenheit von Madame und Monsieur alles seine Richtigkeit hatte. Wie man Sergeant Andratte kannte, würde er die Schlappe mit der nicht gefundenen Leiche so rasch nicht vergessen und jede freie Minute am Seeufer verbringen, um vielleicht doch noch irgendwelche Spuren zu finden.
Kommissar Flacon hatte ja auch angedeutet, daß man eventuell mit einer Motorbarkasse und einem Schleppnetz noch einmal den See absuchen würde, wenn dieser ›Fall‹ eine solche Kostensteigerung zulasse. Das aber müsse man erst in Arles prüfen. Tragisch war auch, daß der Tod des Mädchens mit dem Gedächtnisschwund nicht schlagkräftig genug war, um die Präfektur in Arles zu überzeugen, daß Sergeant Andratte einen Dienstwagen benötigte. Seine Argumentation, er hätte durch die Beschaffung eines schnelleren Transportmittels – eben des Motorrades von Dupécheur – viel Zeit verloren und mit einem Fahrrad sei überhaupt nichts zu machen, wurde entkräftet durch die unwiderlegbare Logik, daß er mit einem Auto den Selbstmord nicht hätte verhindern können, denn er sei ja erst nach dem Verschwinden des Mädchens alarmiert worden. Da spielen dann Zeitdifferenzen keine gewichtige Rolle mehr.
»Ich werde sofort nach oben laufen«, sagte Lulu, »wenn ich jemanden an der Tür höre. Die Falltür zu den Zahnrädern der Windflügel macht niemand auf.«
»Und wenn doch?« fragte Zipka.
»Warum sollte er?« Lulu hatte Kathinkas mißbilligende Blicke aufgefangen und zog die Decke von neuem über ihre Brüste. »Ich werde den Riegel von innen vorschieben, und jeder wird denken, die Tür klemme vor Altersschwäche und Rost. Ich wette, keiner wird sich die Mühe machen, sie aufzubrechen.«
»Für einen Menschen, der sein Gedächtnis verloren hat, spricht sie eigentlich recht logisch!« warf Kathinka ein. »Woher kennen Sie diese Details der Mühle?«
»Ich hatte doch Zeit genug, mich umzusehen und zu verstecken …«
»Die hatte sie wirklich«, meinte Zipka. »Aber angenommen, man findet Sie wirklich – man überrascht Sie …«
»Unmöglich!«
»Wieso ist das unmöglich?« hakte Kathinka sofort ein. »Wenn Sie auf dieser Couch ganz fest schlafen, hören Sie nicht, wenn Dupécheur hereinkommen sollte.«
»Ich werde oben schlafen. Im Bett von Monsieur …«, sagte Lulu und lächelte verführerisch.
»Der richtige Platz für Sie …«, fauchte Kathinka zurück.
»Das ist er!« Lulus Gesicht strahlte holde Unschuld aus. »Dort hört man zuerst, wenn hier unten jemand umhergeht. Ihr Zimmer, Madame, liegt zu weit von der Treppe entfernt.«
»Halten wir uns jetzt nicht damit auf, in welchem Bett Lulu schläft.« Zipka lehnte sich zurück und blickte die hohe, alte rohe Holzdecke der Mühle an. »Spielen wir lieber den gefährlichsten Fall durch: Man erwischt Sie, Lulu, was dann?«
»Dann sage ich, ich wäre nur herumgelaufen und sei nun zurückgekommen. Wer will etwas anderes beweisen?«
»Niemand. Aber man wird Sie sofort nach Mas d'Agon bringen, und Sergeant Andratte wird mit Ihnen nach Arles fahren. Und dort kommen Sie in eine Klinik, wo die Türen keine Klinke haben.«
»Es kommt aber darauf an, Monsieur«, sagte Lulu und räkelte sich wohlig, »wer mich entdeckt.«
Durch die Fensterläden und ihre Ritzen drang in langen glitzernden Streifen die Morgensonne.
»Wie soll ich das verstehen?« fragte Zipka.
»Ahnungsloser Engel! Sie meint«, erklärte Kathinka giftig, »daß ein männlicher Entdecker kaum eine Gefahr darstellt! Sie würde einfach lästige Textilien fallen lassen …«
»Oh, Madame verstehen mich!« Lulu blinzelte Kathinka wie einer Komplizin zu. »Sie würden es genauso machen, nicht wahr? Ich glaube nicht, daß Monsieur Dupécheur mich wie einen gefangenen Reiher wegbringen kann, wenn er mir allein gegenübersteht und ich zu ihm sage: ›Welch ein kräftiger Mann! Ich mag Männer wie Sie …‹ Dann wird er mich bestimmt nicht in Fesseln legen.«
»Das – das könnten Sie tun?« meinte Zipka und war etwas enttäuscht, was man ihm anmerkte. »Sie könnten mit einem wildfremden Mann …«
»Wenn es um meine Freiheit geht? Ich will doch nicht in eine Anstalt! Ich bin gesund.« Sie sprang plötzlich von der Couch, die Decke glitt herunter, und Lulu trug nichts als ihre schöne, glatte, glänzende Haut, die sich über wohlgeformte Rundungen spannte.
So ein Aas, dachte Kathinka und blickte Zipka an. So ein hinterhältiges Miststück! Auf diesen großen Auftritt hat sie ja nur gewartet. Jetzt ist das Stichwort gefallen, und nun kommt ihre große Szene. »Ich bin doch gesund!« wiederholte sie. »Monsieur, sehen Sie mich an: Bin ich krank? Sagen Sie doch endlich, daß ich gesund bin …«
»Monsieur Louis ist nicht Monsieur Dupécheur!« sagte Kathinka hart. »Ziehen Sie sich etwas über! Monsieur Louis brauchen Sie nicht zu überzeugen, daß Ihr Körper für Männer aller Altersgruppen maßgeschneidert ist.«
»Danke für das Kompliment, Madame.«
»Nehmen wir an«, sagte Zipka mit etwas belegter Stimme, während sich Lulu wieder in die Decke rollte, »daß sich Dupécheur nicht einfangen läßt!«
»Das ist völlig unmöglich!« warf Lulu selbstgefällig ein.
»Oder es kommt Sergeant Andratte?«
»Ich habe ihn beobachtet.« Lulu schnippte mit den Fingern. »Der Sergeant wäre überhaupt kein Problem.«
»Oder Dr. Bombette?«
»Ein Mann in seinem Alter brennt wie Stroh …«
»Gib es auf, mein armer Liebling«, meinte Kathinka spöttisch. »Sie zwingt jeden Mann auf die Matte! Finde dich damit ab. Nicht jede, die wie ein Engel aussieht, ist auch einer.«
»Wir drehen uns wie ein Kreisel!« Ludwig Zipka schlug die Hände gegeneinander. »Das Problem bleibt doch immer das gleiche: Was wird aus Ihnen, Lulu?«
»Das überlasse ich ganz Monsieur …«
»Mir?« rief Zipka und war halb erfreut, halb betroffen.
»Ja!«
»Sauber!« Kathinka lachte etwas hohl. »Rechnen Sie bitte nicht damit, daß wir Sie adoptieren.«
»Aber ich hoffe, daß Sie herausfinden, woher ich komme.« Lulus Gesicht bekam einen Schimmer kindlicher Traurigkeit. »Ich möchte so gern wieder dort sein, wo ich hingehöre. Ich kann mich an nichts erinnern, an nichts. Ich war plötzlich hier … Ich will alles tun, was Sie mir sagen – nur, helfen Sie mir!«
Nach diesem Ausbruch war Zipka überzeugt, eine wirklich große Aufgabe übernommen zu haben. Kathinka sah es zwar anders – und ihr Gefühl schlug dauernd Alarm –, aber es war unmöglich, mit Zipka darüber zu sprechen.
Unter Sicherungsmaßnahmen – Zipka und Kathinka überwachten die Zufahrt zur Moulin St. Jacques und stritten sich dabei über die Schamlosigkeit ihres Gastes – badete Lulu im See und hüpfte dann nackt und tropfend ins Haus zurück. Dort zog sie sich an und erbot sich sogleich, wieder das Frühstück zu bereiten.
Ludwig und Kathinka schwammen ebenfalls ohne lästige Bekleidung weit in den Etang hinaus, dorthin, wo das Wasser kühler wurde, herrlich erfrischte und die Müdigkeit aus den Körpern vertrieb. An der Schilfinsel gingen sie an Land, küßten sich im Schutz der dichten Halme und waren glücklich, sich zu fühlen.
»Soweit ist es mit uns gekommen«, sagte Kathinka seufzend. »Wenn wir uns lieben, müssen wir uns verstecken.«
»Beim Marquis werden wir ein schönes Zimmer bekommen.«
»Er betrachtet uns als ein altes Ehepaar. Wir werden nie allein sein.«
»Von wem stammt denn die Idee, zu dem Playboy zu ziehen?«
»Wer sagt dir denn, daß er ein Playboy ist?«
»Er sieht so aus! Ich habe keine Erfahrung mit dieser Spezies Männer, ich verkehre nicht in Schickeriakreisen – aber so stelle ich mir einen Playboy vor! Auch wenn dieser Marquis Raoul de Formentiére schon angegraut ist – das sind die wildesten! Die rennen ewig ihrer Jugend nach und wollen nie alt werden. Jeder gelüftete Mädchenrock ist ihnen eine neue Selbstbestätigung! – Tinka, blasen wir den Umzug ab.«
»Nein!« rief sie und platschte zurück in den See.
Er folgte ihr, bis sie bis zur Brust im Wasser stand. »Was versprichst du dir davon?«
»Gar nichts, wenn es um den Marquis geht. Aber sehr viel, wenn ich dich nicht mit Lulu zusammen …«
»O Wind, wohin treibst du mich!« Er grinste breit. »Eifersüchtig, Tinka?«
»Ja!« sagte sie ehrlich und ohne Zögern. »Zum erstenmal.«
»Das ist gelogen.«
»Ich bin nie eifersüchtig gewesen. Manchmal ein bißchen enttäuscht, wenn ich wieder einmal allein war, aber immer überwog die Erleichterung, wenn ich mir sagte: Das war der vernünftigere Weg. Jetzt ist es anders, völlig anders.«
»Warum?«
»Weil ich dich verdammtes Scheusal liebe. Deshalb! Ich weiß, daß es eine Riesendummheit ist, aber ich kann nicht dagegen an.«
Sie machte plötzlich einen Sprung, hechtete nach vorn, tauchte unter und schwamm unter Wasser eine ganze Strecke von Zipka weg. Er folgte ihr, holte sie ein und riß sie an sich. Das Wasser unter sich wegtretend, schwammen sie auf der Stelle und küßten sich verzweifelt, als müßten sie für immer versinken.
»Du hast gewonnen«, sagte dann Zipka prustend, als sie an Land stiegen und sich in ihre Bademäntel hüllten. »Wir werden uns von dem Marquis verwöhnen lassen. Und morgen geben wir in Arles eine Reihe von Anzeigen auf. Es ist doch völlig ausgeschlossen, daß kein Mensch unsere Lulu vermißt.«