ZWEIUNDVIERZIGSTES KAPITEL
Der Weggang Pjetkins aus Workuta war erschütternd. Trotz des Brüllens der Kapos, trotz Hammerschläge und Fußtritte füllte sich der Appellplatz mit den Innendienstlern, kamen die gehfähigen Kranken aus den Zimmern und stellten sich draußen dazu. Aus den Magazinen und Werkstätten quollen sie, aus Küche und Fleischerei, sogar eine Abordnung der Quarantänestation hatte es erreicht, daß sie sich abgesondert, aber auf den Platz stellen konnte.
Als Pjetkin aus dem Haus trat, begleitet von Oberst Baranurian, nahmen alle die Mütze ab. Ein Spalier des Elends war's, aber auch ein Spalier unaussprechlichen Dankes.
»Zerreißt es nicht dein Herz?« fragte Baranurian leise. »Sie sind jetzt verwaist. Du warst ihnen das Leben. Sie brauchten dich mehr als Essen und Trinken.«
»Ich bin leer, völlig leer.« Pjetkin ging die Reihen entlang. Jeden sah er an, blickte in tränende Augen, auf zuckende Münder, auf zaghaft erhobene, grüßende Hände.
»Gott segne dich«, hörte er mehrmals. »Gott sei mit dir.« Und er nickte, die Kehle war ihm zugeschnürt, er schleppte an seinem Reisebündel wie an einem Felsblock. Das ist das Fegefeuer, dachte er. Wenn ich hindurch bin, müßte ich saubergebrannt sein.
Vor dem großen Tor stand in Paradeformation die Kompanie II und präsentierte. Leutnant Zablinsky hielt die Tür des Wagens auf. Pjetkin blickte sich mehrmals um … von Marko war nichts zu sehen, seit einer Stunde war er verschwunden. Der Bulle Jewronek hing aus dem Fenster der Fleischerei und grinste.
»Steig ein –«, sagte Baranurian und stieß Pjetkin leicht in den Rücken. »Jetzt bist du aus dem Lager. Ein freier Mensch. Blick nicht mehr zurück –«
Sie fuhren langsam über die noch vereiste Straße zum Stadtbahnhof, wo der Kurswagen nach Moskau wartete. Er wurde auf der langen Fahrt mehrmals umgekoppelt, denn eine direkte Verbindung nach Workuta gab es nicht. Pjetkin und Baranurian blieben auf dem Bahnsteig stehen, während ein Bahnbeamter das armselige Gepäck in den Wagen schaffte. Vor und hinter dem Kurswagen standen Güterwaggons … es gab wenig Menschen, die von Workuta abreisten. Um so mehr kamen an, nicht hier auf dem Bahnhof, sondern auf der Rampe des eigenen Lagerbahnhofs.
»Ein merkwürdiges Gefühl«, sagte Baranurian und ging mit Pjetkin hin und her. »Du bist der Sohn meines Freundes und Kriegskameraden – ich darf doch du zu dir sagen? – heißt Pjetkin und bist trotzdem ein Deutscher. Du verläßt jetzt Rußland, in dem du groß geworden bist, das dich zum Mann machte, zum Arzt, zum Liebenden. Du denkst, wenn du an Anton Wassiljewitsch Pjetkin denkst, an deinen Vater, und trotzdem darfst du kein Russe sein. Wie kompliziert diese Welt ist. Sie wird noch komplizierter sein, mein Junge, wenn du erst in Deutschland bist. Alles ist dort anders als hier. Fast ein anderer Stern. Weißt du das?«
»Ich habe mich, ehrlich gesagt, nie um Deutschland gekümmert. Was ich so gelesen habe, in Zeitungen, Büchern, Zeitschriften …«
»Immer durch die gleiche Brille, Igor Antonowitsch. Was sieht sie: Imperialisten, Revanchisten, Ausbeuter der Arbeiter, Klassenfeinde, Kriegstreiber, Feinde des Sozialismus, degenerierte Fettwänste, Schmierfinken, Lügner, Verleumder … das alles mag stimmen. Aber du wirst auch Menschen darunter finden. Wertvolle Menschen. Sie gibt es überall, auch im Westen. Dann beginnen die Schwierigkeiten. Dann stürzen die Fragen auf dich ein: Wohin gehöre ich? Wozu entscheide ich mich? Bin ich noch Pjetkin oder Hans Kramer? Mein Junge, ich beneide dich nicht, daß du in den Westen fahren darfst. Die Konflikte hören jetzt nicht auf … sie beginnen erst. Du mußt viel Kraft haben, Igor Antonowitsch.«
»Ich weiß es, Genosse Oberst.« Pjetkin stand auf den Stufen des Sonderwagens, die Hände tief in den Taschen des neuen, gebrauchten Pelzmantels, den ihm Baranurian in Workuta besorgt hatte. »Ich werde sie haben!«
Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Allein nach Moskau, ohne Begleitung, in einem richtigen komfortablen Personenwagen, ein freier Mensch, der gleich sich immer weiter von Workuta entfernen würde, Workuta, das sein Ende hatte sein sollen. Vor ihm lag das große Unbekannte wie eine gähnende drohende Öffnung, wie ein Riesenmaul, in das er hineinspringen mußte: Der Westen. Deutschland. Die Möglichkeit, Dunja herüberzuholen, wenn er die andere, neue Welt aufmerksam machen würde auf dieses System, aus dem er kam. Er wollte ein schiefes Bild geraderücken. Er wollte sagen: Was wißt ihr vom Russen? Der Russe ist anders als so, wie ihr ihn im Westen seht. Das Bild vom Sowjetmenschen ist falsch! Was hört, seht, lest ihr denn von Rußland? Ein Russe ist ein Mensch wie ihr, wie wir alle, er ist unser Bruder, ein Mensch voll glühender Sehnsucht nach Freiheit und Frieden und Gerechtigkeit … nur darf er im eigenen Land diese Worte nur flüstern, und darum sollte er euer aller Bruder sein!
Nehmt Dunja als Mahnmal, kämpft mit mir um sie, erzwingt Menschlichkeit …
Er stand auf den Stufen des Waggons, blickte über den Kopf Baranurians in die Weite und meinte, am Himmel die Dampfwolken aus der Wäscherei des Frauenlagers zu sehen. Hinter den Häusern der Stadt begann die Einsamkeit, die Straße zu den Lagern, der Lagerkomplex, die eingezäunte Welt, über die eine riesige unsichtbare Dunstglocke aus gefrorenem Stöhnen lag.
Er sah hinauf zur Bahnhofsuhr. Jetzt stand Dunja am OP-Tisch oder machte Visite, und sie dachte an ihn und wußte, daß in wenigen Minuten der Zug abfuhr aus Workuta. Dunja. Ihre letzten Worte trug er in dem Lederbeutel auf dem Herzen.
»Gott mit Dir, mein Liebling. Ich warte … warte … warte …« Keine Unterschrift. Nur ein nasser Fleck. Eine Träne.
»Bitte kümmern Sie sich um Dunja –« sagte Pjetkin leise.
Baranurian riß die Augen auf. An seinen Lidern und auf den Brauen hing Eis. »Wenn ich sie finde –«
»Sie ist Oberärztin nebenan im Frauenlager I.«
»Igor Antonowitsch, du verdammter Hund … du hast mich die ganze Zeit betrogen!« Baranurian schlug die Hände zusammen. Diese Eröffnung in der letzten Minute stieß ihn fast um. »Wie lange schon?«
»Wir kamen mit dem gleichen Transport.«
»Die Hölle soll aufbrechen! Ihr habt euch gesehen?«
»Nie. Aber geschrieben.«
»Wie kamen die Briefe hin und her?«
»Erwarten Sie darauf eine Antwort?«
Baranurian umarmte Pjetkin und küßte ihn auf beide Wangen. Der Stationsvorsteher pfiff.
»Der Sohn des alten Pjetkin, daran erkennt man ihn! Leb wohl, mein Junge.«
»Vergessen Sie Dunja nicht, bitte –«
»Ich werde mein Bestes tun. Das Frauenlager hat einen idiotischen Kommandanten, und der Chefarzt Dr. Dobronin ist eine Sau. Aber ich will alles Mögliche versuchen, um Dunja zu sehen. Ob du ihr als freier Mensch im Westen schreiben kannst?«
»Dürfen ja. Aber ob jemals ein Brief ankommt?«
»Schick sie an mich.«
»Auch sie werden zensiert werden.«
»Dein merkwürdiger Freund Marko –«
»Völlig ungewiß. Marko ist verschwunden. Er ist nicht zum Abschied gekommen, er ist ein Wunder, das immer dann erscheint, wenn man es braucht. Nur jetzt ist er untergetaucht. Er wollte nicht, daß ich Rußland verlasse.«
Die Lok zischte und pfiff. Türen wurden zugeschlagen, ein Bahnbeamter brüllte auf dem Bahnsteig, wie alle Bahnbeamte dieser Welt: »Einsteigen! Die Türen schließen! Zurücktreten!« Nur war es hier absurd, denn keiner stieg mehr ein, und nur Baranurian stand am Zug. Pjetkin ließ den Türriegel zufallen, zog das Fenster des Wagenflures herunter und beugte sich hinaus.
»Leb wohl, Igoruschka«, sagte Baranurian und drückte Pjetkins Hände. Es war das erstemal, daß er den Kosenamen gebrauchte. »Willst du zum Schluß einen Rat? Den Rat eines Alten, Verbrauchten?«
»Ja, Lew Dementijewitsch.«
»Vergiß Rußland nicht.«
»Nie … nie!«
Der Zug ruckte an, setzte sich in Bewegung, quietschte in den Rädern und Bremsen. Pjetkin winkte durch das heruntergezogene Fenster zurück. Oberst Baranurian grüßte militärisch, in strammer Haltung, die Hand an der Mütze. Pjetkin durchrann es eiskalt. Er erinnerte sich an seinen Vater, der auch auf dem Bahnhof militärisch grüßend von ihm Abschied genommen hatte, damals in Kischinew, als sein Sohn Igor nach Sibirien, an den Amur fuhr. Es war das letzte, was er von seinem Vater gesehen hatte.
Pjetkin zog den Kopf zurück und schob das Fenster hoch. Er suchte sein Abteil, öffnete die Tür und blieb stehen. Seinem Platz am Fenster gegenüber hockte Marko Borissowitsch Godunow, umgeben von Gläsern und Büchsen, einem Riesenkloß gebratenen Fleisches und einem Spankorb voller Eier. Er saß da inmitten seiner Herrlichkeiten und biß genußvoll in eine große, saftige Salzgurke. Ein rundes Gurkenglas balancierte auf seinen spitzen Knien.
»Marko –«, sagte Pjetkin. In seiner Brust zuckte es. Du darfst jetzt nicht heulen, dachte er. »Ich denke, du bleibst bei Dunja?«
»Man muß mit dem Kopf denken, Söhnchen. Zwischen Deutschland und Workuta liegt eine große Strecke. Es ist besser, man hat auf diesem Wege in der Mitte eine Station. Habe ich dir nicht von Finnland erzählt? Ich bin ein Tourist nach Helsinki. Für Jewronek kehre ich zurück nach Moskau – er wird sich jetzt vor Freude besaufen.« Der Zwerg grinste und klopfte auf den Sitz ihm gegenüber. »Komm, setz dich, Igorenka. Nimm ein Gürkchen, ein Brot mit Dauerwurst und ein Schlückchen Birkenwein. Soll uns bis Moskau der Magen sausen? Greif zu, Söhnchen … du wirst nicht mehr lange russisch essen können …«