FÜNFZEHNTES KAPITEL
Die Kommission aus Chabarowsk ließ nicht lange auf sich warten. Sie beschäftigte sich allerdings nicht mit den Ereignissen im Lager Sergejewka, sondern vielmehr mit der Person Igor Antonowitsch Pjetkins selbst. Was Pjetkin im Lager angestellt hatte, wurde zu den Akten genommen, mit Rotstift kommentiert und zur Seite gelegt. Viel wichtiger erschien der Bezirksstelle des KGB der Wunsch nach einer Heirat mit der Ärztin Dunja Dimitrowna.
Ein Beamter des KGB fuhr nach Issakowa und traf Dimitri Ferapontowitsch Sadowjew im Parteihaus. Sadowjew stellte Listen für die Ausgabe der Wintersaat zusammen, entdeckte, wie jedes Jahr, daß die Vorräte in den Silos nicht reichten und die Genossen das Saatgut zum Teil heimlich aufgefressen hatten.
»Sieh an, sieh an, wer kommt denn da?« sagte Sadowjew wütend, als der Mann vom KGB ohne anzuklopfen einfach in das Zimmer trat. »Ein Mensch, dem man die gute Erziehung in den Hintern gestopft hat statt ins Hirn. Kehrt marsch, Brüderchen, 'raus und angeklopft! Hier ist ein Parteihaus, kein Puff!«
Der Mann aus Chabarowsk setzte sich, warf seine Mütze auf den Tisch und streckte die Beine aus.
Sadowjew überlegte, ob man ihn ohrfeigen oder anspucken sollte. »Genosse –«, sagte Sadowjew mit gesenkter Stimme, »wir sind hier zwar am äußersten Ende von Rußland, aber wir sind deshalb keine Idioten. Außerdem bin ich der Dorfsowjet, und wenn ich Ihnen aufs Haupt schlage, ist das amtlich. Von Moskau sanktioniert. Was wollen Sie?«
»Mit Ihnen sprechen, Dimitri Ferapontowitsch.«
»Er kennt mich!« Sadowjew wurde unsicher. »Woher die Ehre?«
Der Mann aus Chabarowsk schob einen kleinen Ausweis über den Tisch, Sadowjew warf einen Blick darauf und kroch in sich zusammen. KGB. Der Himmel bleibe hell!
»Sie haben ein Anliegen, Genosse Oberleutnant?« fragte Sadowjew mit plötzlich schwerer Zunge. »Hängt es mit dem Verschwinden des Kapitäns Kasankow zusammen? Ein tragischer Fall. Rudert über den Amur zu den Chinesen! Was ein krankes Gehirn alles ersinnen kann …«
»Es geht um Dr. Pjetkin«, sagte der Mann aus Chabarowsk. »Sie kennen ihn?«
»Wie werde ich meinen Schwiegersohn nicht kennen?« Sadowjew spürte Unangenehmes. Hab' ich es nicht gesagt, dachte er im stillen. Es gibt Schwierigkeiten. Ein Lagerarzt! Vielleicht ist er selbst ein Deportierter und hat's bisher verschwiegen. Mein armes Vögelchen, meine bemitleidenswerte Dunjenka. Er beugte sich über den Tisch. »Was ist mit Igor Antonowitsch?«
»Er hat einen Heiratsantrag gestellt.«
»So ist es. Dunjenka näht schon am Brautkleid, und Annenka, das ist mein Weib, läuft herum wie ein verirrtes Huhn. Sie kennen das ja, Genosse Oberleutnant … die Weiber verlieren den Verstand, wenn es gilt, einen Mann für immer einzufangen. Haha!« Es sollte lustig klingen, aber das Lachen stak Sadowjew im Hals wie eine Gräte. Er beschloß, von nun an nur noch amtlich zu sein. Dokumente des KGB sind etwas Abscheuliches … er hatte das zwar noch nie erlebt, aber man erzählte sich Wunderdinge davon.
»Wir haben ein Interesse daran, daß diese Ehe nicht zustandekommt«, sagte Plumow mit der Gleichgültigkeit eines Pferdekäufers, der den Preis drücken will.
»Aber sie lieben sich«, rief Sadowjew. »Was soll man machen? Als Vater ist man da machtlos, und auch die Behörde wird zwei Herzen nicht um hundertachtzig Grad drehen können.«
»Sie kann es«, sagte Plumow orakelhaft. »Sie kann alles, die Behörde. Liebe ist eine emotionale Angelegenheit. Staatsinteresse ist etwas Reales. Was, Genosse, ist stärker?«
»Das ist ein schweres Rätsel.« Sadowjew kratzte sich den Kopf und zog die Bartspitzen durch die Finger. »Fragen Sie ein Weib danach, ist die Antwort klar. Aber wir sind Männer. Also, Genosse, was liegt gegen Igor Antonowitsch vor?«
Plumow tippte mit dem Zeigefinger auf eines der Papiere. Sadowjew sah, daß es mit vielen Stempeln bedeckt war und daher einen langen Laufweg hinter sich hatte. »Er ist ein guter Kommunist, ein vorzüglicher Arzt, ein ehrlicher Mensch, ein vorbildlicher Organisator, er ist genau das, was wir hier in Sibirien, im Neuen Land, brauchen.«
»Welch ein herrliches Bild! Man könnte es als neue Ikone an die Wand hängen!« rief Sadowjew begeistert. »Aber warum darf er dann meine Dunjenka nicht heiraten?«
»Pjetkin hat einen kleinen, aber entscheidenden Fehler, er ist Deutscher.«
Vor jedem Taifun treibt eine Windstille über das Land, ein Vakuum, in das dann der Sturm stößt. Ein Mensch spürt es kaum, aber die Tiere begreifen es und benehmen sich wie betrunken. Sadowjew, geboren und aufgewachsen in der Taiga und mit den Tieren fast brüderlich verbunden, zog den Kopf zwischen die Schultern, schloß die Augen bis auf einen Schlitz und legte beide Hände über den Kopf, als falle der Himmel auf ihn. »Ein Deutscher …«, sagte er dumpf. »Ein … Genosse Plumow, das muß ein Irrtum sein! Sein Vater ist der Kriegsheld Oberst Anton Wassiljewitsch Pjetkin, ich weiß das ganz genau. Träger der Tapferkeitsmedaille und des Ehrenzeichens der Partei. Sie müssen eine falsche Karteikarte herausgezogen haben. Igorenka ist Russe wie Sie und ich. Er ist sogar in einer Staatsschule erzogen worden.«
»Er ist Deutscher. Lesen Sie, Genosse Sadowjew. Es ist eine verworrene Geschichte. Man hat damals, 1945, eine Reihe von Fehlern gemacht und sie nicht berichtigt. Das Chaos des Krieges, vieles war da möglich. Heute haben wir die Pflicht, Überbleibsel aus diesen rechtlosen Tagen auszumerzen.«
Sadowjew vertiefte sich in die Papiere. Was er da las, war schwer zu begreifen, aber soviel begriff er doch, daß Igor Antonowitsch Pjetkin das Kind von deutschen Eltern war und von dem damaligen Kapitän Pjetkin gefunden und dann adoptiert wurde.
»Es ist nicht zu leugnen«, sagte Sadowjew und schob die Papiere zu Plumow zurück. Sein gelbliches Gesicht war noch dunkler geworden. Er spürte sein Herz hämmern, dachte an seine Tochter und hätte heulen können. »Weiß er das überhaupt selbst?«
»Mit sieben Jahren kann man sich erinnern«, sagte Plumow steif. »Er kann Königsberg nicht vergessen haben.«
»Er hat nie davon erzählt, nur von Kischinew, seinem Väterchen Anton Wassiljewitsch und seinem Mütterchen Irena Iwanowna. Bei Glatteis haben sie sie überfahren, weil die Stadtverwaltung das Geld für den Streusand versoffen hatte. Das hat er alles erzählt, aber von Königsberg … nie!« Sadowjew zerrte an seinem dünnen Bart und zog damit die Oberlippe herab. Es sah aus, als schluchze er schauerlich. »Was soll nun werden?«
»Ihre Tochter Dunja muß auf Pjetkin verzichten.«
»Betrachten Sie mich nicht als Konterrevolutionär, Genosse«, sagte Sadowjew und wog jedes Wort ab. Schließlich hatte Pjetkin zweimal das Leben Dunjas gerettet, so etwas ist nicht nur des Lobes, sondern auch der Toleranz wert. »Aber warum ist es nicht möglich, daß ein Deutscher, der Russe geworden ist, ein russisches Mädchen heiratet?«
»Fragen Sie Moskau«, antwortete Plumow steif. »Wir haben in Chabarowsk die Gesetze nicht gemacht, und der Befehl kam aus dem Kreml. Wir sind nur ausführendes Organ.«
Sadowjew nickte schwer. Moskau, natürlich Moskau. Fragen Sie Moskau – welch eine dämliche Rede. Wer fragt schon in Moskau an?
»Kennen Sie meine Tochter Dunja?« fragte Sadowjew vorsichtig.
»Nein.«
»Sie sollten sie kennenlernen, Genosse. Sie würden dann begreifen, daß es leichter ist, einen Walfisch zu dressieren, als Dunjenka einen anderen Willen aufzuzwingen. Gehen Sie zu ihr, sagen Sie ihr: ›Täubchen, aus der Heirat wird nichts, leg den Stoff fürs Brautkleid weg, verstecke den Schleier in der alten Truhe, und such dir in Ruhe einen anderen Mann, der in Rußland geboren ist. Es gibt sechzig Millionen Männer in der Sowjetunion … einer wird darunter wohl zu finden sein, der dir die Kinderchen macht.‹ Wissen Sie, was passiert? Anna, mein Weib, wird den großen Rührlöffel nehmen und Sie aus der Stube prügeln, und Dunjenka wird Ihnen mit einem Lederriemen nachlaufen und Sie über die Straße treiben. Gehen Sie hin, und erzählen Sie den Weibern die verzwickte Geschichte. Wenn Sie gesund zurück nach Chabarowsk kommen, sind Sie ein Held. Bei Gott, der abgeschafft ist … ich wage es nicht!«
Plumow erhob sich. Weniger seine Pflicht, als der bestialische Gestank aus Sadowjews Pfeife vertrieb ihn. »Sie begleiten mich, Genosse?« fragte er hustend.
»Bis vor den Zaun. Dann setze ich mich in den Stall und bekreuzige mich.«
»Gehen wir.«
Sadowjew grübelte den ganzen Weg darüber nach, wie ein Mensch Russe sein konnte, Lagerarzt sogar, und doch ein Deutscher. Die Gesetze sind verworren. Er drückte Plumow am Flechtzaun die Hand, blickte ihn lange an, als ginge der andere zum Schafott und verschwand dann in der Scheune.
Plumow betrat das Haus, er roch schon im Flur den Fisch-Borschtsch, was ihn angenehm berührte, und stieß die Tür zum Wohnraum auf.
Nach einer halben Stunde erschien er bei Sadowjew im Stall. »Sie leben und gehen noch, Genosse«, rief Sadowjew bewundernd. »Wie haben Sie das angestellt?«
»Kümmern Sie sich um Ihre Familie«, sagte Plumow ernst. »Sie braucht Beistand.«
»Und Dunjenka?«
»Sie ist ein kluges Mädchen. Sie verzichtet.«
»Unmöglich! Haben Sie sie hypnotisiert?«
»Der Staat hat ihre Ausbildung als Ärztin bezahlt, der Staat ist also ihr zweiter Vater. Vätern gehorcht man … oder man wird verstoßen.«
Sadowjew fühlte es kalt über seinen Rücken laufen. Das KGB … der Himmel verhindere einen Zusammenstoß mit diesen Menschen. Sie haben immer recht, denn hinter ihnen steht eine einsame Macht.
»Ich danke Ihnen, Genosse«, sagte Sadowjew höflich. »Und wie geht es jetzt weiter?«
»Ich fahre ins Lager und spreche mit Pjetkin. Dann ist das Problem gelöst.« Plumow gab Sadowjew die Hand. Er drückte ein schlaffes Fetzchen Fleisch. »Sie werden Pjetkin nicht wiedersehen … das ist Ihnen doch recht, nicht wahr?«
»Es entlastet mein Vaterherz«, antwortete Sadowjew dunkel.
Im Haus lag unheimliche Stille.
Anna und Dunja saßen am Ofen und weinten lautlos. Sie starrten Sadowjew aus ihren verquollenen Augen an, und diese Blicke waren so schmerzlich, daß Sadowjew die Mütze vom Kopf riß, auf den Boden schleuderte und darauf herumtrampelte.
»Ich bringe diesen Plumow um!« brüllte er. »Ich ersäufe ihn im Fluß! Aber was nützt es? Es wird ein anderer kommen. Die Gesetze kann man nicht ersäufen.«
»Ich liebe ihn …«, sagte Dunja und faltete die Hände. »Und wenn es Gesetze regnet … mich kann niemand von Igor trennen. Ich kämpfe auch gegen Moskau, wenn es sein muß!«
»Sie hat den Verstand verloren!« schrie Sadowjew und trat die Mütze wie einen Fußball gegen die Wand. »Sie bringt Unglück über uns alle! Gegen Moskau revoltieren! Willst du verbannt werden?«
»Wenn es mit Igorenka zusammen ist … so fort.«
»Einen Lappen!« heulte Sadowjew. »Annuschka, hol einen feuchten Lappen, und wickle ihn ihr um den Kopf! Ihr Gehirn brennt! Mein ganzes Leben ist umsonst gewesen!«
Er ließ sich auf die Bank fallen, schlug beide Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
*
Der KGB-Oberleutnant Plumow erschien im Lager Sergejewka, als Dr. Pjetkin gerade einen Blinddarm herausnahm. Die Dussowa fing ihn im Flur des Krankenhauses ab und schob ihn in ihr Zimmer.
»Bevor Sie Igor Antonowitsch Vorwürfe machen oder verhaften«, sagte sie, und ihr Gesicht war voller Kampfeslust, »hören Sie mich an. Was er getan hat, war eine Verzweiflungstat. Die Zustände im Lager sind menschenunwürdig, keiner kümmert sich darum, trotz Eingaben. Wenn Pjetkin zur Selbsthilfe greift, handelt er nach dem Wort Lenins, der sagte …«
»Lassen wir Lenin weg, Genossin Kapitän.« Plumow winkte gestenreich ab. »Diese Lagerrevolution – sie ist uns bekannt – gehört in eine andere Dienststelle. Wir haben uns um den Menschen Pjetkin zu kümmern, um sein Privatleben. Er beginnt, peinlich politisch zu werden.«
»Igor Antonowitsch? Daß ich nicht lache.«
»Er will heiraten.«
»Allerdings.« Die Dussowa bekam kleine böse Augen. »Bringt das KGB jetzt auch schon die Heiratspapiere? Welche Ehre! Er muß große Gönner an höchsten Stellen haben.«
»Die hat er!« Plumow lächelte schief. »Sie beschützen ihn wie ein Altarbild. Wo ist der Genosse?«
»Er operiert. Eine Appendektomie.«
»Das geht schnell. Führen Sie mich zu ihm.«
»Sie verstehen auch was von Medizin?«
»Das KGB versteht von allem etwas.« Plumow warf es lässig hin, aber die Dussowa verstand die versteckte Warnung.
Pjetkin zog sich nicht um. In der blutbespritzten Gummischürze kam er aus dem OP ins Zimmer, seine Haare klebten an der Stirn. Es war heute die dritte Operation, eine Fließbandarbeit. Er winkte Plumow zu. Die Dussowa war schnell wieder gegangen. Plumow blätterte in einem dünnen Schnellhefter mit einigen schreibmaschinenbeschriebenen Seiten, der auf dem Tisch gelegen hatte.
»Das ist noch nicht endgültig«, sagte Pjetkin. »Nur ein Entwurf.«
»Ich sehe es. Ein Lagebericht. Einige Genossen werden dabei rote Ohren bekommen. Ich heiße Iwan Ignatiewitsch Plumow. KGB. II. Büro.«
»Ich habe Sie erwartet.«
»Sie verfallen einem Irrtum. Ihr Lagerrummel geht mich nichts an. Ich will mit Ihnen über Ihre Hochzeit sprechen.«
»Sie bringen mir den Paß und die Papiere? Das KGB selbst?«
»Ihr Paß, Igor Antonowitsch, ist eingezogen.«
»Eingezogen?« Pjetkin lehnte sich an die Wand. Auf einmal begriff er, daß er ein programmierter Mensch war. »Erklären Sie mir das, Iwan Ignatiewitsch.«
»Die Ärztin Dunja Dimitrowna, die Sie heiraten wollen, ist in eine Planung eingegliedert worden, die es verbietet, sich fest zu binden.«
»Das ist doch Quatsch«, sagte Pjetkin grob. »Das ist billige Rhetorik. Sie tritt eine Stelle in Irkutsk an. Gut. Ich habe einen Antrag auf Versetzung nach Irkutsk eingereicht, überall braucht man Ärzte. Ich bin Chirurg, Mangelware also …«
»Wir brauchen Sie hier in Sergejewka, die Genossin Dunja aber in Irkutsk. Ein Hin- und Herschieben wäre planlos. Wir besetzen die Plätze nach höheren Gesichtspunkten, die der Mensch unten auf dem Boden nicht begreift.« Plumow warf den Schnellhefter auf das Bett und betrachtete Pjetkin kritisch. Er begegnete ihm zum erstenmal, und er war gespannt gewesen, wie ein Mensch aussieht, der ein Deutscher und doch ein Russe ist. Eigentlich war nichts Besonderes an ihm … die blonden Haare gab es auch in der Ukraine, das gutgeschnittene Gesicht konnte aus Leningrad stammen, die blauen Augen waren in Nowgorod heimisch. Ein völlig normaler Russe, dachte Plumow. Und doch kein richtiger, denn er wurde in einem deutschen Bett gezeugt.
»Seien Sie glücklich, daß Sie wie ein Adler über dem Land schweben«, sagte Pjetkin. Es war ein Sarkasmus, den Plumow für unangebracht hielt und der ihn persönlich traf. »Ich habe meinen Antrag direkt nach Moskau geschickt und hoffe auf eine zustimmende Antwort.«
»Die Antwort bin ich!« Plumow tippte auf seine Brust. »Aus Moskau ist ein Fernschreiben eingetroffen. Wir handeln also auf allerhöchste Initiative. Und die lautet: Wir verbieten Ihnen, Dunja Dimitrowna zu heiraten!«
»Sie sind verrückt!« Pjetkin lächelte schief. Aber dieses Lächeln war bereits Ausdruck eines Schmerzes, der sein Herz in Stücke riß. Da war ein Befehl, ein Befehl aus Moskau, und Pjetkin hatte es von seinem Vater oft genug gehört: Man muß gehorchen. Wer ausbricht aus der Front des Kollektivs, ist verloren. Ein Schaf ist nur in der Herde sicher … außerhalb schlägt es der Wolf. »Wie kann man mir befehlen, wen ich liebe?«
»Wir können es, Igor Antonowitsch! Nicht, weil wir etwas gegen Dunja Dimitrowna haben, schon gar nicht gegen Sie persönlich. Sie sind ein Arzt, in dessen Papieren man nur Lob vermerkt hat, wir haben Großes mit Ihnen vor, Versetzungen an berühmte Kliniken, eine Dozentur, sogar Professor sollen Sie einmal werden, man hat Ihre Arbeit über neue Methoden der Gastroenterostomie sehr aufmerksam gelesen … aber Ihre Heirat ist unmöglich.«
»Begründung!« sagte Pjetkin knapp. Der Lobgesang ließ ihn kalt … es war der Zuckerguß über eine bittere, vergiftete Pille.
»Begründung?« Plumow streckte die Beine vor. »Sie sind ein Deutscher.«
»Was bin ich?« Pjetkin hatte vieles erwartet … doch das machte ihn konzeptlos. Ein Deutscher? Dreht sich der Zeitenlauf zurück? Königsberg, der Friedhof, das Trommelfeuer auf den Gräbern, die Vernichtung der Stadt, der Sturm der Roten Armee, der Kapitän Pjetkin, der einen kleinen, weinenden, verängstigten Jungen hinter einem Grabstein findet … Wer denkt noch daran? Das Waisenhaus war seine neue Heimat geworden, dann Kischinew, er hieß Pjetkin, hatte eine Mutter, Irena Iwanowna, einen Vater, Anton Wassiljewitsch, er war sowjetischer Arzt … und da kam dieser fremde Mensch und sagte kalt: Sie sind ein Deutscher!
»Wo sind Sie geboren?« fragte Plumow ungerührt.
»In Königsberg. Aber …«
»Wie hießen Ihre leiblichen Eltern?«
»Peter Kramer und Elisabeth Kramer, geborene Reiners.«
»Und da fragen Sie: Ich bin ein Deutscher?«
»Oberst Pjetkin hat mich adoptiert. Ich bin in Rußland aufgewachsen, habe sowjetische Schulen besucht, die Universität, habe meinen Doktor gemacht, bin Lagerarzt und keiner hat bisher gefragt: Wo sind Sie geboren?«
»Aber die Akten haben es nicht vergessen. Sie sind Pjetkin, dem Namen nach, aber Sie sind Hans Kramer von Geburt. Wenn man ein Schaf schert und in eine Kalbshaut näht, was wird es dann?«
»Ich bin kein Schaf! Nie hat man mir gesagt, daß ich kein Russe bin! Ich fühle als Russe, ich denke als Russe, ich lebe als Russe, ich liebe dieses Land mit einem glühenden Patriotismus, wie es wenige Bürger tun, ich wäre bereit, für dieses Land zu sterben … warum soll ich Deutscher sein? Ich kenne Deutschland nicht, ich habe keine seelische Verbindung zu diesem Land, es ist mir fern wie der Mond, es kümmert mich gar nicht, ich wäre ein Fremder auf seinem Boden … warum will man mich zu etwas machen, was ich nicht sein kann?«
»Weil Sie dort geboren sind. Sie sind in unser Land integriert … aber es ist völlig ausgeschlossen, daß wir die Ehe mit einer echten Russin genehmigen.«
»Und das sagt Moskau?«
»Sie können es schriftlich haben, Igor Antonowitsch, wenn Sie wollen.«
»Und Sie glauben, ich beuge mich diesem Irrsinn der Behörden?«
»Da haben wir es. Die deutsche Eigenschaft der Kritik! Ein echter Russe beugt sich fragenlos dem Befehl aus Moskau.« Plumow erhob sich mit einem Ruck. »Ich war bereits in Issakowa. Dunja Dimitrowna ist vernünftiger als Sie, Pjetkin. Sie verzichtet …«
»Das ist nicht wahr!« schrie Pjetkin. »Das lügen Sie!« Er riß die blutbespritzte Schürze ab und warf sie gegen die Wand. »Sie haben Dunja unter Druck gesetzt. Warum schlage ich Ihnen nicht den Schädel ein? Erwarten Sie Ehrfurcht vor dem KGB? Angst? Kniefälle? Sie kennen mich nicht, Iwan Ignatiewitsch!«
»Ich weiß, daß Sie ein Revolutionär sind. Aber die Mauern um Sie herum sind dick. Meterdick. Kein Kopf hält das aus. Hirnschalen sind wie Glas. Seien Sie vernünftig, Pjetkin. Sie können Professor in Charkow oder Kiew werden. Sie sind ein Genie … man weiß das in Moskau.«
»Ich war noch nie so vernünftig wie jetzt«, sagte Pjetkin mit bebender Stimme. »Sie haben Ihren Auftrag angebracht, Genosse Plumow, und ich sage Ihnen offiziell, daß ich Ihren Befehl mißachte. Und nun gehen Sie aus dem Weg. Ich fahre zu Dunja, und wir werden heiraten.«
»Ohne Paß traut Sie sogar kein Blinder. Sie können Dunja ein Kind machen, das ist alles.« Plumow trat aus dem Weg und gab die Tür frei. »Rennen Sie los, Igor Antonowitsch … Moskau ist siebentausend Kilometer entfernt … Sie werden stabile Beine brauchen …«
In dieser Nacht kehrte Pjetkin nicht ins Lager zurück, aber auch die Dussowa wurde nicht tätig. Auch für sie war die Welt aus den Fugen geraten. Sie saß in ihrem Zimmer, wartete auf einen Rückruf aus Moskau und betrank sich mit billigem Knollenschnaps, als Moskau schwieg. Ihre einzige Verbindung versagte … Timofeij Alexandrowitsch, der Onkel, der Bruder ihrer Mutter, ein Mitglied des Obersten Sowjets, zog die Decke über den Kopf. Protektion macht das halbe Leben in Rußland aus … aber auch sie hat Grenzen in den Grundsätzlichkeiten.
Pjetkin, Dunja, Anna und Sadowjew saßen die ganze Nacht auf und berieten. Sie beschlossen, das Wahnwitzigste zu unternehmen: Den Kampf gegen das Gesetz.
»Der gesunde Menschenverstand muß siegen!« sagte Pjetkin. »Vertrauen wir darauf.«
In den nächsten Tagen entwickelte sich eine rege Tätigkeit. Das KGB in Chabarowsk schickte einen Bericht nach Moskau, daß der Genosse Pjetkin aufsässig sei und trotz eingehender Ermahnungen doch die Ärztin Dunja Dimitrowna heiraten wolle. Die Distriktverwaltung der Straflager legte einen Tatbericht vor über eine revolutionäre Bewegung, die der Arzt Dr. Pjetkin in Sergejewka angezettelt habe. Die Lagerärztin, Kapitän Dussowa, beschwerte sich über Mißstände, die schon seit zwanzig Jahren bekannt seien, die aber keiner bisher angeprangert hatte. Der Lagerarzt Dr. Pjetkin bombardierte gleich mehrmals die Behörden: Mit Berichten über die miserable ärztliche Versorgung des Lagers (siehe Dussowa), seine Gegenmaßnahmen (siehe Bericht der Lagerleitung) und über die Unfreiheit, nicht heiraten zu dürfen, wen er wolle. Und das in einem ›angeblich freien‹ Staat.
Solange es Briefe waren, konnte man sie wegwerfen und sich um anderes kümmern … aber die Lage wurde kritisch, als der Oberst Anton Wassiljewitsch Pjetkin, der Held des Großen Vaterländischen Krieges, Stalingradkämpfer und Berlineroberer, in Moskau auftauchte und durch die Dienstzimmer fegte wie ein Sandsturm.
Anton Wassiljewitsch hatte keine Stunde gezögert, als ihm sein Söhnchen aus dem fernen Sibirien sein Schicksal schilderte. Es war ein langer Brief, per Eilboten geschickt, Pjetkin hatte ihn mit wütenden Lauten gelesen, war dann aufgesprungen, hatte einen kleinen Koffer gepackt, beim Bahnhof angerufen, wie die beste Verbindung nach Moskau sei, und in der Nacht abgefahren.
Er hielt sich in Moskau nicht mit der Suche nach einem Hotelzimmer auf, zur Not konnte er im Offiziersheim der Militärakademie schlafen, sondern fuhr vom Bahnhof direkt in die Dienststelle des Marschalls Ronowskij. Ronowskij war ein Greis geworden, still, von einer fremden Aristokratie, die so fehl am Platze war wie Rotz auf einer Seidentapete. Er trug die Uniform mehr aus Tradition, denn aus Notwendigkeit, denn seine Funktionen waren mehr repräsentativer Art, er wurde ausgestellt bei Paraden, seine voller Orden glänzende Brust war ein Prachtstück bei Staatsempfängen, und damit er nicht ganz in der Ecke saß und auf einen Auftritt wartete, hatte man ihm das Amt der Schulungskontrolle gegeben. Es bestand darin, daß er ab und zu in der Akademie erschien, die Lehrgänge kontrollierte, hier und da sagte, man hätte dies und jenes anders ausdrücken können, und dann zurückfuhr in seine Dienststelle, Zeitungen las und Riesenportionen von Kaffee trank.
Ronowskij empfing Pjetkin wie einen Sohn, küßte ihn auf beide Wangen, ließ Wodka kommen und freute sich wie ein Kind, daß es seinem Lieblingsschüler so gut ging. Pjetkin hatte für diesen Besuch seine Uniform angezogen … sie war ihm ein wenig eng geworden um Bauch und Brust, aber sie zwang ihn dadurch, besonders stramm zu gehen und zu sitzen, ein Vorbild für die Kadetten, wenn welche in der Nähe gewesen wären.
»Antonenka, mein Kleiner …«, sagte Ronowskij zärtlich. Für ihn blieb Pjetkin immer noch der Kleine, obwohl er fünfundfünfzig war und weiße Haare hatte wie Ronowskij. »Daß du endlich den Weg nach Moskau gefunden hast! Morgen stelle ich dich dem Generalstab vor. Wie oft habe ich von dir gesprochen. Der Pjetkin, habe ich gesagt, und seine Kompanie von Scharfschützen und Nahkämpfern, das war eine Truppe, die man heute gar nicht mehr kennt. Sag, Söhnchen, was machst du in Moskau?«
»Ich führe einen neuen Nahkampf, Genosse Marschall!« Anton Wassiljewitsch entfaltete den Brief Igors.
Ronowskij setzte eine dicke Brille auf und blinzelte Pjetkin über den Rand zu.
»Man ist dabei, meinen Igor wie eine Wanze zu behandeln.«
»Igor. Das ist der Junge vom Friedhof? Dein Adoptivsohn? Er ist doch Arzt geworden.«
»Ein vorzüglicher Arzt. Jetzt will er heiraten … und plötzlich sagt man ihm, er sei nach wie vor Deutscher und dürfe nicht heiraten.« Pjetkin tippte gegen die Briefseite, die Ronowskij noch vor sich hielt, ohne zu lesen. »Lesen Sie, was er schreibt. Das Herz dreht sich einem um! Mein Sohn wird so behandelt! Nennt ihn einen Deutschen! Trägt er nicht meinen ehrlichen Namen, he? Ist er russischer Arzt? Väterchen, hat der Teufel allen Beamten ins Gehirn geschissen? Lesen Sie …«
Marschall Ronowskij las den Brief gründlich. Dann legte er ihn weg, klappte seine Brille zusammen und blickte über den Kopf Pjetkins an die Wand.
»Die Behörden haben recht, Söhnchen«, sagte er langsam. »Spring mir nicht ins Gesicht, aber Gesetze sind logische Gedanken, seelenlos, aber unwiderlegbar. Er ist in Königsberg geboren, hieß Hans Kramer, und das ist nicht wegzuwischen.«
»Dann hätte ich ihn nicht zu adoptieren brauchen!« schrie Pjetkin.
»Es hat dich auch keiner dazu gezwungen. Erinnere dich, was ich dir damals sagte. War's nicht vor Berlin?«
»In der Backstube einer Bäckerei, Genosse Marschall.«
»Richtig. Was habe ich gesagt: Sie mit Ihrem weichen Herzen! Sie werden die Quittung bekommen! Hier ist sie nun, Anton Wassiljewitsch … allerdings eine Rechnung des Gesetzes. Nun mußt du sie bezahlen. Igor Antonowitsch, dein Söhnchen, bleibt ein Deutscher. Du bist nur seine Amme gewesen. Willst du dagegen anstinken?«
»Eine Ausnahmegenehmigung, wenn es nicht anders geht.«
Oberst Pjetkin trank den Wodka, als sei es Fruchtsaft. Ebensowenig wie Igor begriff er die Gesetze und wehrte sich dagegen, fast ein Vierteljahrhundert für eine Illusion gelebt zu haben. Was nur möglich gewesen war, hatte er Igor zukommen lassen: Die beste Erziehung, die strengste Ausbildung, den reinsten Kommunismus. Wo gab es noch mehr Russen, die so vollkommen sowjetisch waren wie Igor Antonowitsch? Wenn noch etwas deutsch an ihm war, so das Geburtsdatum in den Akten. Ein paar Ziffern! Besteht der Mensch aus ein paar Ziffern?
»Versuchen wir es, Söhnchen«, sagte der alte Ronowskij. »Eine andere Generation regiert. Du hast es gesehen, als dein Igor nach Sibirien mußte. Nichts habe ich erreicht. Wir alten Frontkämpfer sind Fossile, weiter nichts. Aber bitte, versuchen wir es. Rennen wir herum. Zuerst zum Innenministerium. Das ist die wichtigste Stelle. Sie beharrt darauf, daß Igor ein Deutscher ist. Leider hat dieses Ministerium keinen Respekt vor einem Marschall!«
Ronowskijs dunkle Ahnung erfüllte sich … Das Innenministerium bewies Pjetkin, daß Igor Antonowitsch zwar sowjetischer Staatsbürger, aber dennoch ein Deutscher sei.
»Das ist ja schizophren!« schrie Pjetkin außer sich. Seit zwei Jahren hatte er Herzbeschwerden, nahm Tabletten und ließ sich jeden Monat den Blutdruck messen. Auch jetzt zuckte Pjetkins Herz, er schluckte eine Tablette und atmete tief durch. »Heiraten darf er nicht … aber sowjetische Bürger operieren, das darf er!«
Der Beamte, der Genosse Ministerialrat Scheremet, nickte zustimmend. »Das kann er. Vor einem Arzt ist jeder Mensch gleich. Das ist ja sein großer Vorteil, Genosse Oberst … als Arzt ist er international. Den Beruf eines Lehrers hätte er zum Beispiel nie ergreifen können … das hätten wir sofort unterbunden. Aber Medizin. Das ist die ganze Welt.«
»Große Worte! Phrasen!« brüllte Pjetkin. »Mein Sohn soll glücklich werden. In Rußland. Als Russe. Er liebt Dunja Dimitrowna, sie ist auch Ärztin, sie würden ein Team bilden, das dem sowjetischen Volke unendlichen Nutzen bringt. Genosse Scheremet … ein Federstrich nur, einmal kurz über das Papier gekratzt … machen Sie meinen Igor zu einem richtigen Russen!«
»Das haben wir sogar erwogen, Anton Wassiljewitsch.« Scheremet schlug ein Aktenstück auf, blätterte darin herum und fand die gesuchte Seite. Er räusperte sich. »Im Jahre 1953 waren wir bereit, Igor Antonowitsch in den Schoß unseres Volkes zu übernehmen. Da trafen bei uns die neuesten Suchlisten des Deutschen Roten Kreuzes ein. Unter dem Buchstaben K stand: Gesucht wird Hans Kramer. Jetzt 15 Jahre alt. Geboren in Königsberg. Seit der Eroberung der Stadt ist er verschollen. – Daneben war das Bild eines Jungen mit blonden Haaren. Ein süßes Kerlchen.«
In Pjetkin breitete sich eisige Kälte aus. Er lauschte nach innen, aber er hörte seinen Herzschlag nicht mehr. »Wer … wer hat die Anzeige aufgegeben?« fragte er tonlos.
»Seine Eltern. Peter Kramer und Elisabeth Kramer.«
»Sie haben überlebt?«
»Sie wohnen in Lemgo. Das liegt in Westfalen.«
»Man sollte Lemgo zerstören«, sagte Pjetkin dumpf. »Dem Erdboden gleichmachen. Warum haben Sie mir das nie mitgeteilt?«
»Wäre es Ihnen recht gewesen, Genosse?«
Pjetkin schüttelte müde den Kopf. Eine unendliche Traurigkeit saugte alle Kraft aus ihm. Er erhob sich, gab Scheremet die schlaffe Hand, sah Ronowskij an und ging hinaus, nach vorn gebeugt, ein uralter Mann, der die letzten Schritte zählt.
»Das hätten Sie sich sparen können«, sagte Ronowskij leise. »Ich wußte es seit Jahren und habe geschwiegen. Nun hat er seine Welt verloren. War das nötig?«
»Es schafft Klarheit, Genosse Marschall.« Scheremet klappte die Akte zu.
Ronowskij holte Pjetkin nicht mehr ein. Er war verschwunden, als der Marschall aus dem Zimmer kam.
»Wo ist er hin?« schrie Ronowskij. »Man darf ihn jetzt nicht allein lassen! Alarmiert die Kremlwache. Sie soll ihn festhalten, bis ich komme!«
So wenig Ronowskij noch in der Armee galt … dieses Wort wurde ausgeführt, die Kremlwachen an den öffentlichen Toren wurden verstärkt, der aus dem Kreml drängende Besucherstrom genau kontrolliert. Es gab keine Möglichkeit, daß Pjetkin ungesehen den Kreml verließ.
Er wollte es auch gar nicht. Mit gesenktem Kopf ging er durch die weiten Gartenanlagen, umkreiste die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale und die Blagowestschenski-Kathedrale, blickte hinauf zu der goldenen Zwiebel des Glockenturms Iwan Weliki und setzte sich dann ermattet auf den Betonsockel, auf den man die riesige Kanone ›Zar Puschka‹ montiert hatte. Hier saß er, ruhig und bescheiden, mit gesenktem Kopf, ließ die Besucher an sich vorüberströmen, hörte die Worte der Fremdenführer, erfuhr, daß die Kanone 39.000 kg wiegt und jede ihrer Kugeln 2.000 kg, daß Tschechow sie gegossen hatte im Jahre 1584 und daß nie ein Schuß aus ihr abgefeuert worden war, weil sie so schön und wertvoll war. Aber das interessierte ihn alles nicht, es waren Worte, die an ihm abglitten wie Wasser an einem gewachsten Tuch.
Sie leben, seine richtigen Eltern, dachte er nur. Sie suchen ihn, und eines Tages werden sie ihn mir wegnehmen, meinen Igorenka, mein Söhnchen, mein Herz, mein Leben. Ich werde ihn zur Bahn bringen müssen und nie mehr wiedersehen. Wer kann das ertragen? Habe ich nicht nur für ihn gelebt? Und nun sind sie aufgetaucht, aus dem Chaos des Unterganges, leben in dem fernen Lemgo und suchen ihn. Bleibst du bei mir, Igoruschka, wenn du das erfährst? Wirst du dein Väterchen verlassen? Es wird dich zerreißen, ich weiß es … aber auch mich zerreißt es und ich verblute … Weißt du denn, wie ich dich liebe, mein Söhnchen …?
Er stützte den Kopf in beide Hände und starrte auf den Boden.
Am Abend, als der Kreml geschlossen wurde, saß er noch immer da. Die Patrouille, ein Unteroffizier und zwei Mann, blieben stehen und zögerten den Genossen Oberst anzusprechen. Dann wagten sie es doch und bekamen keine Antwort. Er war schon steif, als sie ihn wegtrugen zur Wache.
*
Oberst Anton Wassiljewitsch Pjetkin wurde in Kischinew begraben, neben seiner Frau Irena Iwanowna. Es war ein Staatsbegräbnis mit Musik, Fahnen, einer Ehrenkompanie, Reden, Gewehrsalven, Kränzen und Blumengebinden. Igor küßte noch einmal seinen Vater und sagte: »Ich danke dir für alles, Väterchen«, ehe der Deckel zugeschraubt wurde. Dann sank der Sarg ins Grab, die Fahnen wehten über dem Erdloch, ein Stabstrompeter blies den alten Kosakengruß. Dunja und Sadowjew umarmten Igor und stützten ihn, als er ans Grab trat und die letzte Blume auf den Deckel warf. Anna Sadowjewa saß auf einem wackeligen Stuhl, weinte laut und konnte vor Ergriffenheit keinen Schritt mehr gehen.
Die größte Überraschung geschah, als die meisten Trauergäste schon gegangen waren. In ihrer Kapitänsuniform, einen Trauerflor um den Ärmel, trat Marianka Dussowa ans Grab. Keiner hatte sie bis dahin gesehen – sie tauchte plötzlich auf, stand allein vor dem Sarg und warf einen großen Zweig sibirischer Lärche hinein. Dann wandte sie sich um, sah Dunja lange an, es war das erstemal, daß sie sich gegenüberstanden, ging weiter zu Igor, nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände, küßte ihn auf die Stirn und verließ stumm den Friedhof.
»Hol sie zurück …«, sagte Dunja leise. »Lad sie zum Totenmahl ein. Wir werden uns nicht gegenseitig zerfleischen …«
Aber Marianka war schon wieder verschwunden.
»Ein wahres Teufelsweib!« rief Sadowjew. »Igorenka, du bist ein wahrer Held, daß du ihr widerstanden hast.«
»Sie hat ein Herz.« Pjetkin trat noch einmal an das Grab seines Vaters. »Sie hat ein Herz. Wer hätte das gedacht?«
Nach vier Tagen kehrten sie alle nach Issakowa zurück, mit einem Flugzeug bis Chabarowsk.
Am fünften Tag nach der Beerdigung traf der erwartete Brief aus Moskau ein.
»Wir freuen uns, Sie zum Leitenden Chirurgen des Krankenhauses von Chelinograd zu ernennen. Sie haben Ihre Stelle innerhalb der nächsten vierzehn Tage anzutreten. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg, Genosse …«
Pjetkin schlug die Karte Rußlands auf und suchte. Sadowjew und Dunja schauten ihm über die Schulter. Anna, das Mütterchen, weinte wieder.
»Wo ist es, dieses Saunest Chelinograd?« wollte Sadowjew wissen.
»Hier.« Pjetkin legte den Finger auf einen Fleck. »In Kasakstan. Mitten in der Steppe. Ich werde mit den Schakalen leben …«
Sadowjew grunzte tief, nahm die Karte vom Tisch, zerriß sie und warf sie ins Feuer.