SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Wer die Weite der Taiga erkennen will, der fahre einmal von Kasakstan bis zum Eismeer. Oder vom Ural bis zum Kap Deschnew. Wenn er dann noch sagt, er habe irgendwo Gewaltigeres erlebt, den darf man ohne Reue einen Lügner nennen. Sibirien, das ist nicht erklärbar. Sibirien ist einfach Sibirien … eine Urgewalt an Schönheit und eine Urgewalt an Entsetzen.
Vier Wochen ratterte der lange Güterzug durch die Taiga. Oft hielt er zwei Tage, oder drei Tage, oder sogar fünf Tage irgendwo an einer einsamen Station, die Wagen wurden gesäubert, die Abflußröhrchen enteist, neues Holz in die Wagen geworfen, die Toten gezählt und in einen Sonderwagen umgeladen. Man mußte sie mitnehmen, damit die Transportlisten stimmten. Es mußten in Workuta soviel Menschen abgeliefert werden, wie man übernommen hatte. Ob Lebende oder Tote, das war nicht wichtig.
Auf jeder Station sahen sich Dunja und Igor, warfen sich heimliche Blicke zu und kamen im Wagen des Sekretärs Ulanow zusammen.
In der dritten Woche geschah es dann, daß Markos Katastrophenplan scheiterte … es gab wirklich einen Achsenbruch und vier Wagen sprangen aus den Schienen. Das Geschrei war groß, man klagte Marko an, er habe sein berühmtes Gehör verloren. Wie dem auch sei, es war ein Aufenthalt von vier Tagen – der Vorsteher der nächsten Station, der Flecken Marlinkowka war vierzig Werst entfernt, sollte einen Reparaturwagen schicken, was ihn zur Verzweiflung brachte, den auch dieser Wagen war nicht einsatzfähig. – In diesen vier Tagen zog Sadowjew auf die Jagd und erkundete Marko die Möglichkeiten einer Flucht. Die Idee war Sadowjew schon lange gekommen. Spätestens an dem Tag, an dem er zum fünftenmal einen wäßrigen Gerstenbrei als Mittagessen vom Küchenwagen erhielt, einen Brei, den man für die Begleitmannschaften sogar noch durch ein bißchen ausgelassenes Schmalz gewürzt hatte, während die Häftlinge ihn unveredelt herunterschlangen, war seine Geduld zu Ende.
»Welch ein Fraß!« schrie er auf seinem Kohlenwagen herum. »Wo soll man die Kraft hernehmen, die Schaufel ordentlich zu schwingen? Schluß, Brüder! Ich gehe auf die Jagd und hole uns einen Fetzen Fleisch!«
»Auf die Jagd will er gehen!« brüllte der Heizer und lachte dröhnend. »Womit denn? Glaubst du, ein Soldat leiht dir sein Gewehr? Willst du mit den Händen jagen, he?«
»Wir haben am Amur Erfahrung darin.« Sadowjew winkte stolz ab. »Wenn ihr mir etwas Draht besorgt, und wenn wir irgendwo zwei Tage Aufenthalt haben, dann lege ich euch einen Braten vor die Füße.«
Der Draht war schnell beschafft, und wenn er die Lok satt gefüttert hatte, setzte sich Sadowjew neben seine Kohlen auf eine Kiste und begann, Schlingen zu knüpfen. Das ist zwar nicht die feinste Art zu jagen, aber wir sind in Sibirien, Genossen, vergeßt das nicht, und Sadowjew war ein Mensch, dem die Eingeweide vor Hunger brannten.
Aber wo hat man zwei Tage Zeit, um die Schlingen auszulegen? Überall, wo der lange Gefangenenzug einige Tage stand, gab es kein Wild, denn diese Aufenthalte fanden in Güter- oder Verschiebebahnhöfen statt. Dann träumte der Zug abseits der anderen Gleise, umgeben von einem Militärkordon. Nachts erklang Gesang aus den verschlossenen Wagen, denn das war das Wunderbare: Trotz ihrer Fahrt in die Hölle sangen sie, denn ein Russe liebt Musik, und wenn ein Russe singt, holt er sich Kraft aus den Tönen.
Nun endlich hatte man Aufenthalt. Der Reparaturwagen aus Marlinkowka traf erst in zwei Tagen ein, und es war fraglich, ob man die gebrochene Achse überhaupt reparieren konnte. Ein Vorschlag wurde heftig diskutiert: Kippt den defekten Wagen in den Schnee und richtet einen Waggon aus Marlinkowka als neuen Transporter her. Auch das dauert zwei Tage und ist außerdem sicherer. Genossen, arbeitet rationell! Man nimmt einen Viehwagen, nagelt rundherum an die Wände Bohlen, auf diese Bohlen klopft ihr Bretter, und fertig sind zwei Etagen Liegeplätze. Eine Parascha, diesen berühmten Eimer, stellt ihr in die Mitte, denn um ein Loch zu bohren und auch noch ein Rohr einzusetzen, dazu bleibt keine Zeit mehr. Dann müssen die schmalen Schlitzfenster mit dickem Drahtgeflecht vernagelt werden, ein Ofen wird vom weggeworfenen Waggon umgebaut in den neuen … und schon kann's weitergehen. Bloß nichts komplizieren, Genossen.
Nach langem Schreien einigte man sich, diesen Vorschlag zu akzeptieren.
Um die Zeit auszufüllen, begann auf freier Strecke ein zackiges Exerzieren. Der Kommandant des Zuges ordnete an, daß die Verurteilten zum vielleicht zehntenmal gezählt werden müßten. Das bedeutete: Hinaus aus den Wagen, niedersetzen in den Schnee, Hammerschläge auf Nacken und Rücken, wenn es zu langsam ging, Geschrei und Tritte, Beleidigungen und Schikanen.
Marko benutzte diesen Aufenthalt, um die Gegend anzusehen. Er hatte Pjetkin und Dunja wieder zum Wagen des fetten Ulanow gebracht. Dort hockten sie zusammen wie die Turteltäubchen, aber es war eine wehmütige Liebe auf einem harten Pritschenbrett, über dem an einer Leine die Socken des Sekretärs Ulanow hingen, trockneten und stanken.
»Es ist sicher, wir kommen nach Workuta«, sagte Dunja. »Die Offiziere haben aus Swerdlowsk ihre Order bekommen. Das Frauenlager ist ganz in der Nähe der Männerlager. Wir werden uns sehen können, Igoruschka …«
»Das ist ungewiß, Dunjenka.« Er zog sie an sich und atmete den Duft ihres Leibes. »Jetzt sehen wir uns, und wir müssen diese Stunden zu Ewigkeiten machen …«
Nebenan, auf seinen Kisten, saß Ulanow und lauschte. Ab und zu schlich er zur Tür, preßte die Augen an eine Ritze und starrte auf sein Bett. Wenn er die nackten Körper sah und einen Schenkel oder eine Brust erkennen konnte, stöhnte er auf, ballte die Fäuste, biß sogar einmal in das Holz der Tür und hätte Pjetkin dafür erschlagen können, daß dieser ein Mann war und er nur ein halber.
Zu den Essenpausen kam er dann in das Zimmerchen, und Dunja und Pjetkin schämten sich nicht, nackt vor ihm zu sitzen. Sie lebten jetzt außerhalb der normalen Welt, sie waren auf dem Weg in die Hölle, sie waren ›Tote Seelen‹ … wer schämt sich da noch?
»Haben Sie Hoffnung, mich zu heilen, Genosse Doktor?« fragte Ulanow immer und schielte auf Dunjas volle Brüste. »Gibt es Medikamente dafür?«
»Ich werde es versuchen, Ulanow.« Pjetkin zeigte auf das Holztablett, das Ulanow hereingebracht hatte. Sein Magazinwagen war eine unerschöpfliche Quelle von Köstlichkeiten … Butter, Speck, Eier, Fleisch, Gurken, Zwiebeln, Kartoffeln, kandierte Früchte, weißes Mehl, Fisch, Marmelade … alles, wovon die Verurteilten bei ihrer dünnen Kascha oder dem Eimer Kipjatok, dem heißen Wasser, träumten. »Zunächst eine strenge Diät, Brüderchen. Weg mit allem Fett! Deine Drüsen sind zu bequem geworden …«
»Die Drüsen, ja, sie sind es.« Ulanow stellte das Tablett auf den Tisch. »Tun Sie was dagegen, Genosse Doktor.«
Pjetkin lebte seit dem Abkoppeln seines Wagens in Semipalatinsk in einem anderen Waggon, in dem nur Politische hausten. Hier herrschte eine strenge Ordnung und eine peinliche Sauberkeit. Das Kommando führte ein ehemaliger General. Man hatte ihn wegen ›zersetzender Reden‹ zu zehn Jahren verurteilt. Was er gesagt hatte, darüber sprach er nicht. Er war ein grauhaariger Mann, der im Großen Krieg als Major Leningrad verteidigt hatte und dann an der Kriegsakademie Lehrer war. Der Wagen lebte von Pjetkins Ausflügen in Ulanows Bett. Wenn er zu den täglichen Zählappellen zurückkehrte, hatte er alle Taschen voll Zucker und Brot, Wurst und Margarine, Salz und Trockenkartoffeln. Sie waren am wertvollsten. Man konnte die Schnitzel in dem Kipjatok aufquellen lassen und erhielt so eine herrliche Kartoffelsuppe, die den Magen füllte. Jeden Abend verteilte der General die Rationen. Zwei andere Verurteilte kontrollierten die Ausgabe und wogen jede Ration nach. Ein Feinmechaniker im Waggon hatte dazu aus Draht und zwei kleinen Steinen eine Waage konstruiert … sie gab zwar keine Gewichte an, aber die Gleichheit der Portionen.
Marko kehrte nach zwei Tagen zurück, zusammen mit dem neuen Wagen aus Marlinkowka. Er war eisverkrustet und knackte vor Frost in den Gelenken.
»Unmöglich, hier wegzukommen«, sagte er und setzte sich neben den glutausströmenden Ofen. »Wir sind zwischen Swerdlowsk und Perm, in der Nähe ist der Fluß Tschussowaja. Hügelland, Ausläufer des Ural, Wälder und Felsschluchten. Wenn wir hier flüchten, werden wir nach ein paar Tagen in die Zivilisation kommen. Das ist schlecht, denn da fallen wir auf. Es ist leichter, mitten in den Wäldern der Taiga zu flüchten, denn dort werden uns die Jäger weiterreichen. Sie haben ein Herz für Verbannte … die Städter nicht. Wo niemand ist, kann auch niemand suchen … ist das Logik?«
»Und wo nichts ist, werden auch wir umkommen«, sagte Pjetkin zweifelnd.
»Überall leben Tiere, Söhnchen. Wir werden von den Tieren lernen, die Natur als Mutter anzusehen. Man kann es, Igorenka … ein Russe kann alles …«
*
Sadowjew legte unterdessen seine Schlingen. Er war einen Tag herumgestrolcht. Nach alter sibirischer Art hatte er den Zug umkreist, erst eng, dann immer weiter in die Wälder und Schluchten hinein. Seine Kreise weiteten sich schließlich so aus, daß er am zweiten Tag Mühe hatte, den Weg zurückzufinden, denn der Wind wehte die Spuren schnell und gründlich zu.
»Wo ist der Braten?« schrie der Heizer lachend, als Sadowjew müde zurückkam. Und der Lokführer brüllte: »Er ist einem Kaninchen nachgejagt, man sieht es! Verdammt schwer ist es wirklich, Brüderchen, ihm Salz auf den Schwanz zu streuen, haha! Komm, iß deine Kascha … da weißt du, was du hast.«
»Warte es ab«, sagte Sadowjew und wärmte sich an dem Lokkessel. »Morgen bruzzelt es über dem Feuer. Sucht schon trockenes Holz zusammen und überlegt, wie man den Bratenduft geruchlos machen kann. Man wird uns erschlagen wegen des Fleisches. Ich habe die Fallen gelegt … und morgen räume ich sie aus.«
Am dritten Tag zog Sadowjew schon früh los. Mit einem Sack, einem dicken Knüppel, breiten geflochtenen Schneeschuhen, die ihm ein Bahnarbeiter aus Marlinkowka geliehen hatte, einem breiten Messer und viel Vertrauen auf seine Schlingen. Der Lokführer und der Heizer winkten ihm nach, ehe er im Wald neben den Gleisen verschwand.
Sadowjew hatte vor seinem Abmarsch zu seinen Schlingen noch ein paar Worte mit Dunja und Pjetkin gewechselt. Da es noch früher Tag war, lagen sie im Bett des dicken Ulanow und schliefen, als Sadowjew in den Materialwagen kletterte. Unter der dünnen Decke, denn der Ofen spie eine fast erstickende Wärme aus, sah er, daß beide Körper nackt waren, und sein Vaterherz begann wieder zu schmerzen.
Er seufzte, beugte sich über Dunja, küßte sie auf die Augen und rüttelte sie dann. Sie erwachte mit einem Ruck und starrte ihn erschrocken an, bis sie ihn erkannte. »Väterchen …«
»Psst … laß Igor schlafen. Ich gehe auf Jagd, Töchterchen. Bereite eine Pfanne vor … ich bringe dir das beste Stück. Wir werden noch mindestens drei Tage hier festliegen, sagt der Vorsteher von Marlinkowka. Bis dahin sammle ich ein. Ich habe schöne Fallen gelegt, wie in alten Zeiten …«
Draußen schnallte er sich die breiten, geflochtenen Schneeschuhe unter und tappte glücklich in den Wald.
Am Abend war er noch nicht zurück.
»Er schämt sich sicherlich«, lachte der Heizer. Mit dem Lokführer und dem dicken Ulanow saß er unter den Hebeln und Rädern der Lokomotive und spielte Karten. »Er steht am Waldrand und sinnt sich eine Entschuldigung aus.«
*
Die ersten Schlingen waren leer. Kein Tier hatte sich hierher verirrt, und Sadowjew hätte geschworen, daß hier mehr herumkroch, als man ahnte. Er fluchte und tappte weiter. Er kam in das Gebiet der Felsenschluchten und der hohen Kiefern und Lärchen. Hier war Wild … er hatte gestern die Spuren gesehen. Schneehasen, Rentiere und kleine Rehe. Auch Wölfe waren hier, und obgleich ein Mensch den Wolf haßt, waren sie jetzt Fleisch, weiter nichts.
Sadowjew jubelte, als er die fünfte Schlinge sah. Ein Hase hatte sich in ihr erwürgt, ein magerer Bursche, aber er reichte für ein gutes Essen. Sadowjew löste ihn aus dem Draht, stopfte ihn in den Sack und stapfte weiter. Den Weg hatte er sich gestern vorgezeichnet … mit dem Messer hatte er die Rinde abgeschlagen, und nun ging er an den gezeichneten Bäumen entlang, in einem großen Kreis um den haltenden Zug.
Gegen Mittag hörte Sadowjew seitlich von ihm das leise Klirren von Hufen auf gefrorenem Schnee. Er blieb stehen, seine Jägeraugen glänzten, er legte die Handschuhe über das von kleinen Eiszapfen behangene Gesicht und lauschte. Rehe. In der Nähe seiner beiden letzten Schlingen. Sei still, Dimitri Ferapontowitsch. Rühr dich nicht von der Stelle. Laß sie in deine Schlinge traben … hopp, hopp, ihr lieben Tierchen … wir Menschen haben leere Bäuche …
Sadowjew stand wie eine Eissäule. Dann hörte er irgendwo einen warnenden Laut und das Davonhetzen des Rudels. Zur Schlinge! Warum flüchten sie? Eines muß ich gefangen haben. Ihr werdet staunen, Brüderchen, wenn ich nachher meinen Sack aufmache. Einen Hasen und ein Reh … was sagst du nun, du Großschnauze von Heizer, he?
Sadowjew lief, so schnell ihn die breiten Schneeschuhe über den Boden trugen.
Von weitem schon sah er, daß sie leer waren, er ballte die Fäuste und brüllte in die froststarrende Einsamkeit: »Wer hat sie gewarnt? Ist der Teufel hier? Komm hervor aus deinem Versteck …«
Dann rannte er weiter. Der Zorn machte ihn blind. Mit einem Aufschrei trat er auf etwas Hartes, dann schlug etwas gegen sein linkes Bein, biß sich durch die Stiefel fest, spitze Zähne gruben sich in die Knochen und jagten den Schmerz wie eine Rakete bis ins Hirn.
Sadowjew wurde es einen Augenblick dunkel vor den Augen. Sein Mund riß auf, er stöhnte laut, schwankend umfaßte er mit beiden Händen seinen Kopf, denn der Schmerz wollte ihn zersprengen, dann fiel er in die Knie.
Als die kreisende Schwärze von seinen Augen wich, als er die Welt wieder erkannte … vereiste Bäume mit schweren Schneelasten, die Lichtung, die Felsenhänge, den blauen, frostigen Himmel … spürte er die eiserne Umklammerung seines linken Beines. Er brauchte gar nicht hinzusehen … er wußte, daß er in eine stählerne Klappfalle getreten war, daß sich die spitzen Dornen in sein Fleisch gegraben hatten und daß er gefangen war wie ein großes Wild.
Sadowjew tastete an seinem Bein hinunter. Das Blut sickerte durch die Stepphose, wenn er sich leicht bewegte, knirschten die Stahlzähne auf seinem Knochen und jagte der Schmerz wie Explosionen durch seinen Körper.
So also ist das, dachte Sadowjew und rührte sich nicht. Er hatte früher selbst diese eisernen Klappfallen gestellt und das gefangene Wild erschossen, einmal sogar einen Bären, der bereits sein Bein halb abgerissen hatte und unter dumpfem Brüllen immer wieder daran zerrte.
Sadowjew versuchte, sich etwas umzudrehen, um mit beiden Händen die eisernen Backen auseinanderzudrücken. Aber schon beim ersten Versuch gab er es auf … jede Bewegung im Eisen war wie ein Schlag mit einem Feuerstrahl. Sie werden die Falle nachsehen, dachte er. Die Jäger, die hier ihr Revier haben, werden bis zum Abend kommen und den Fang einsammeln. Es sind Menschen in der Nähe, das ist eine Beruhigung. Man muß nur darauf achten, daß der Frost sich nicht durch die zerrissene Hose frißt. Dann erfriert das Bein, wird erst rot, dann blau, dann schwarz, und zuletzt kann man es abbrechen wie einen dürren Ast. Aber das wird nicht sein … sie werden kommen und mich befreien.
Er leerte den Sack, warf den toten Hasen in den Schnee und wickelte den Sack um seinen gefangenen Unterschenkel. Auch das jagte wahnwitzige Schmerzen durch seinen ganzen Körper … er biß sich die Lippen blutig, brüllte einmal auf, um dem Druck in seiner Lunge Luft zu machen und erschrak vor seiner eigenen, unmenschlichen Stimme.
Am Abend wehte der Wind stärker, der Frost kroch durch Jacke und Hose, das Gesicht vereiste. Er legte beide Hände vor Nase und Mund, hauchte unentwegt dagegen und spürte, wie sein linkes Bein taub wurde.
Die Dunkelheit brach herein, und noch immer waren die Jäger nicht gekommen. Sadowjew atmete schneller, die Angst kroch mit der Nacht über ihn. Wenn sie morgen erst kommen, werde ich ein Eisklotz sein, dachte er.
Sadowjew zerrte an seinem Bein. Er schrie dabei, umklammerte die Eisenbacken und wollte sie auseinanderdrücken. Nach dreimaligem Versuch fiel er zurück in den Schnee, wimmerte und sah ein, daß seine Kräfte nicht mehr ausreichten. Ein paar Minuten badete er sich wie in glühendem Pech, der Schmerz war so groß, daß er das Gesicht in den Schnee hieb und in die weißen Kristalle biß. Dann ebbte die Glut ab, er starrte kniend in den Nachthimmel und hörte von weitem das Heranbrausen des Sturmes.
»Hilfe!« brüllte er da. Es war völlig sinnlos, seine Stimme drang nur bis zu den nächsten Bäumen, aber er schrie, um sich in diesen Laut einzuhüllen wie in einen wärmenden Pelz. »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
Die Todesangst ergriff ihn, er schluchzte in seine Hände hinein, rief nach Dunja und nach Anna, seinem Weibchen im fernen Issakowa, er betete sogar und erinnerte sich plötzlich der Gebete, die seine Mutter gesprochen hatte.
Nach drei Stunden war der Sturm weitergezogen, der Himmel wurde seltsam weit, sternenklar und von einer bedrückenden Schönheit … Sadowjew lag auf der Seite, starrte hinauf in die Unendlichkeit und wartete fast mit Spannung darauf, wie sein Körper sich in den nächsten Stunden verhalten würde, wie ein Mensch stirbt, wenn er bei vollem Bewußtsein ist, wie dieses Leben zu Ende gehen kann mit einem Herzen, das kräftig in der Brust schlug.
Die Frage wurde bald beantwortet. Zuerst war es ein einzelner Schatten, der durch die Baumreihen huschte und in sicherer Entfernung stehen blieb. Ein stummer, runder Schatten. Dann lief er weg und kam mit zwei anderen Schatten wieder. Sie bildeten einen Halbkreis um Sadowjew, duckten sich und krochen über den Schnee. Dann, wie auf ein Zeichen, platzten die Schatten auf, weit aufgerissene Mäuler mit spitzen Zahnreihen entstanden, und aus diesen Rachen quoll ein schauerliches, auf- und abschwellendes Geheul.
Sadowjew richtete sich wieder auf den Knien auf. Alle Angst war verflogen. Der Kampf zwischen Mensch und Wolf, dieser uralte Haß, der nur einen Überlebenden kennt, dieses gegenseitige Töten, solange es ein Sibirien gibt und in ihm Mensch und Wolf, dieser Wille der Vernichtung überdeckte alles. Sadowjew riß sein breites Messer aus dem Rock. Er umklammerte es, zog den Sack von seinem umkrallten Bein, wickelte ihn um die linke Hand und starrte die Wölfe an. Der große Leitwolf erhob sich als erster, kroch näher, heulte den Menschen an und hob witternd die Nase.
Blut! Das Signal zum Töten. Der Geruch des Sieges. Blut …
»Komm!« knirschte Sadowjew und schob die breite Klinge vor. »Setz dich in Bewegung, du schielender Satan! Den Bauch schlitze ich dir auf bis zum Kinn. Mein Messer ist gut und scharf. Siehst du es, graue Bestie? Warum funkeln deine Augen? Ich bin nicht wehrlos, und hätte ich das Fangeisen nicht am Bein, würdet ihr nichts zu heulen haben. Komm näher, du Gottverfluchter … komm schon … komm …«
Der Wolf pendelte mit dem Kopf. Er betrachtete den Menschen, roch wieder das Blut und knurrte dumpf. Seine Läufe stemmten sich in den Schnee, er bleckte die Zähne, und Sadowjew spürte die Hitze seines Atems. Dann sprang der Wolf, lautlos, geschmeidig, hing eine Sekunde langgestreckt in der Nachtluft und fiel dann auf Sadowjew herunter. Gleichzeitig zuckte das Messer hoch, traf das Tier in die Brust und riß sie auf. Der Wolf heulte schauerlich, rollte zur Seite in den Schnee und winselte.
»Hab' ich dich?!« schrie Sadowjew hell vor Triumph. »Ihr anderen, nur heran! Heran! Ihr habt Dimitri Ferapontowitsch vor euch … er hat schon mit sieben Jahren Wölfe gejagt! Heran, ziert euch nicht … ich hole euch die Eingeweide heraus!«
Der Leitwolf schwankte etwas, aber er stand wieder auf. Die beiden anderen Wölfe verteilten sich und schlichen jetzt von der Seite heran. Sadowjew spürte sein Blut in den Schläfen pochen. Das zerrissene Bein kümmerte ihn nicht … er hatte keine Zeit mehr, auf Schmerzen zu achten.
»Ihr Feiglinge«, knurrte Sadowjew. »Von drei Seiten … oh, ihr hinterhältige Brut!«
Er riß sein Messer hoch, als sie alle zur gleichen Zeit sprangen. Wen er traf, wußte er nicht … er wurde von drei wolligen Leibern in den Schnee gedrückt, spürte die Bisse in Schulter und Schenkel, spitze Zähne, die Stoff und Wattefüllung zerfetzten und dann in sein Fleisch drangen.
Sadowjew kämpfte bis zum letzten Atemzug. Er stieß sein Messer in die keuchenden, grunzenden, heulenden Leiber, rammte seine sackumwickelte Hand in die heißen aufgerissenen Rachen, Blut lief ihm über das Gesicht, und er wußte nicht, war es Wolfsblut oder sein eigenes … überall hackten die Zähne in ihn hinein, rissen Stücke aus ihm heraus, und er kämpfte weiter, wurde blind von dem Blut, das ihm in die Augen floß, hieb mit dem Messer um sich, krallte sich in das wollige Fell, das überall war und schrie noch einmal hell auf, als er sekundenschnell einen heißen Atem über sich spürte und spitze, nach Aas stinkende Zähne, die sich in seine Kehle gruben. Den Biß erlebte er noch, diesen Schmerz, der unter seiner Hirnschale explodierte … und mit diesem Blitz wurde sein Leben zerschnitten. Als die Wölfe sein Gesicht zerrissen, war Sadowjew schon tot.
Am nächsten Morgen fanden die Jäger nur ein paar Stoffetzen auf der Lichtung, einige Blutflecke und im zugeschlagenen Fangeisen einen Stiefel mit einem abgenagten Bein. Sie befreiten es schweigend aus der Falle, bekreuzigten sich und verschwanden dann wieder im Wald.
Wie gesagt … Sadowjew ging zum Jagen und kam nie wieder.
»Er hat sich aus dem Staub gemacht, der Halunke!« sagte der Heizer am nächsten Morgen, als seine Hilfskraft noch immer nicht erschienen war. »Wollte wohl billig durchs Land kommen, was? Seine Sache, wenn er sich in dieser lausigen Gegend wohler fühlt als bei uns. So verschieden ist der Geschmack, Genossen … ich fahre lieber warm in meinem Tender, als frierend im freien Wald laufen. War immer ein komischer Kerl, dieser Sadowjew …«
Einen ganzen Tag lang suchte man ihn. Das Militär schwärmte aus, aber nicht weit genug. Dann stellte man die Suche ein. Es lohnte sich nicht, und außerdem stand er nicht auf der Transportliste, die in Workuta auf den Mann genau stimmen mußte.
»Ein hinterhältiger Mensch!« schrie der Heizer. »Ein miserabler Lump!«
*
Fünf Tage später dampfte der Zug weiter. Der Waggon war ausgetauscht, zurechtgezimmert für den Sträflingstransport und sah nicht anders aus als die anderen Viehwagen. Wieder drängten sich sechzig Mann auf den Pritschen und nach einem Tag war der Parascha voll und der vertraute Gestank von Kot und Urin erfüllte auch diesen Waggon.
Dunja hatte sich erst gewehrt, abzufahren. Als ihr Vater im Wald verschwunden blieb, hatte sie den Kommandanten angefleht, ihn zu suchen und nicht eher das Signal zur Weiterfahrt zu geben, bis man ihn gefunden habe. Als dann die Suchtrupps zurückkehrten und die Lok neuen Dampf bekam, legte sich Dunja vor den Zug auf die Schienen.
»Ihr fahrt nicht!« schrie sie. »Habt ihr den Mut, über mich hinwegzurollen? Zerstückelt mich, dann erst ist die Strecke frei.«
»Sie hat den Verstand verloren«, sagte der Zugkommandant. »Was geht sie der Hilfsheizer an? Der Kerl will im Wald leben … was kümmert es die Genossin Sadowjewa? Seht nur, wie sie daliegt. Verdammt, und wenn hundert schöne Leiber auf den Schienen liegen … wir fahren! Räumt sie weg!«
Fünf Soldaten waren nötig, um die um sich schlagende und beißende Dunja von den Schienen zu heben. Man warf sie in Ulanows Wagen, wo Pjetkin sie auffing und aufs Bett zerrte.
»Väterchen!« schrie Dunja und war wie irr vor Kummer. »Sie lassen Väterchen in der Wildnis zurück! Verlaufen hat er sich, weiter nichts … wenn sie richtig suchen, finden sie ihn! Igorenka … sie lassen meinen Vater in der Wildnis umkommen!«
Sie schlug um sich, als Pjetkin und Marko sie aufs Bett drückten, und sie wehrte sich mit Beißen und Treten, als Pjetkin ihr eine Spritze zur Beruhigung gab.
»Sucht ihn doch!« wimmerte sie später, als die Injektion wirkte und Müdigkeit über ihre Erregung zog. »Sucht ihn … bitte … bitte … Ihr könnt ihn doch nicht allein zurücklassen …«
Es war eine traurige Zeit, diese letzte Woche der Fahrt in den Norden. Dunja war verwandelt, saß schweigend in ihrem Lazarettwagen, tat ihre Arbeit mit starrem Gesicht und sprach mit keinem mehr. Sie gab keine Antwort, und als der Kommandant sie etwas fragte, sah sie ihn mit starren Augen an und spuckte ihm mitten ins Gesicht.
»Ob Akademiker oder nicht«, sagte der Kommandant später im Offizierswagen und rang mit seinem Stolz. »Sie bleibt eine dreckige Bauerntochter vom Amur. Ich möchte wissen, welche Rolle dieser krummbeinige Sadowjew in ihrem Leben spielte. War er ihr Geliebter? Lachen Sie nicht, Genossen, bei Weibern ist alles möglich.«
Noch einen Aufenthalt gab es … kurz vor Workuta. Die Wagen wurden wieder gesäubert, man wollte halbwegs kultiviert in die Hölle einrücken.
Zum letztenmal schlich sich Dunja zu Igor in Ulanows Materialwagen. Sie wußten, daß es ein Abschied für lange Zeit, vielleicht für immer war. Ihre Liebe verbrannte sie bis zum nächsten Morgen, dann brachte Pjetkin sie zurück zum Lazarettwagen.
»Ich werde dich immer lieben«, sagte er und hielt ihre Hände fest. »Und ich werde zehn Jahre warten können. Wenn sie glauben, Stacheldraht könne uns trennen, dann sind es dumme Menschen.«
»Ich werde dir Nachricht geben, Igorenka. Wer weiß, was alles geschieht. Und wenn wir uns nie wiedersehen … ich bleibe deine Frau. Ich schwöre es dir. Leb wohl, mein Liebling.«
»Leb wohl, Dunjuscha …«
Sein Hals schnürte sich zu, als sie in den Wagen kletterte und die Tür hinter sich zuzog, ohne sich noch einmal umzudrehen. Dann wandte er sich ab und ging langsam zu seinem Wagen zurück.
Marko hielt ihn an. Er hatte neue Nachrichten. »Ich habe gehört, daß schon jetzt vom Zentralkrankenhaus der Lager in Workuta eine Anforderung vorliegt, dich als Arzt einzusetzen«, sagte er. »Die Offiziere sprachen darüber. Du wirst gleich vom Zug aus abgeholt. Das ist gut, Söhnchen. Ein Arzt hat mehr Freiheiten – ich werde mich um dich kümmern können. Von Workuta ist noch keine Flucht gelungen … aber sie kennen alle nicht das Organisationstalent eines Godunow! Wir finden einen Weg …«
»Kümmere dich um Dunja, Marko.« Pjetkin umfaßte die Schulter des Zwerges. »Versprich … bleib in ihrer Nähe. Keine Flucht, Marko … sorge dafür, daß die Verbindung zwischen mir und Dunja nicht abreißt. Damit haben wir schon die halbe Freiheit. Du bist unser einziger Lebensfaden.«
»Ihr werdet leben«, sagte Marko ernst und feierlich.
In der Nacht fuhr der Zug weiter, und am Morgen, bei einer kalten, trüben, durch Eiswolken gefilterten Sonne, erreichten sie Workuta.