DREIZEHNTES KAPITEL

Im Lager wartete man bereits auf Dr. Pjetkin und warf den ganzen Arbeitsplan durcheinander. Die Brigaden der Holzfäller, Straßenbauer und Sägewerkarbeiter waren wie jeden Morgen abgerückt, aber der Innendienst brach völlig zusammen. Die armseligen Gestalten, die sich krank gemeldet hatten und die normalerweise von der Dussowa mit Schimpfkanonaden wieder weggejagt wurden und dann als Lagerdienst einen halbwegs ruhigen Tag hatten, standen vor dem Krankenhaus, warteten und ballten sich zusammen wie eine Hammelherde, um die der Hund kreist. Die Natschalniks von Barackenaufsicht, Küche, Werkstatt, Magazin und Bäckerei brüllten herum. Die Hilfskräfte, eben die gewaltsam zu Gesunden umfunktionierten Kranken, fehlten. Der Lagerleiter, der fette Mensch mit dem Doppelkinn, der gegen Pjetkin gewettet hatte, erhöhte seinen Einsatz und sagte: »Fünfzig Rubel, Freunde. Ich setze fünfzig Rubel dagegen, daß Pjetkin keinen Monat länger im Lager bleibt.«

Auf der Quarantäne-Station hatte der zweite neue Arzt seine Arbeit aufgenommen und betrachtete sie als Tätigkeit eines korrekten Beamten. Er schickte einen Kurier zur Dussowa mit einer Meldung, daß fünfundsechzig Prozent der Stationsinsassen krank seien und die Zustände einem großen Saustall alle Ehre machten.

Marianka ließ sich nicht blicken. Sie lag im Bett, las eine Zeitung, rauchte und warf Russlan, der verzweifelt in ihr Zimmer drang, kopflos vor soviel Durcheinander und Herumschreien, eine alte Weckuhr an den Kopf.

»Selbst bin ich krank!« schrie sie und zerwühlte sich die Haare. »Igor Antonowitsch soll kommen.«

»Wie kann er das?« brüllte Russlan mit flackernden Augen. »Er ist noch nicht zurück von seinem nächtlichen Ausflug!«

»Dann warten wir!« Sie schob die Hände unter den Nacken und lächelte böse. »Die Verantwortung trägt er! Wer wollte die morgendlichen Selektionen machen? Wer drängte sich dazu, ein Wohltäter zu sein? Wer abends gegorene Gurken ißt, scheißt sich morgens in die Hose, das weiß jeder. Laß mich allein, du Idiot!«

Pjetkin lieferte sein Motorrad draußen bei der Wache ab, erfuhr, daß im Lager der Teufel los sei, traf auf den Kommandeur der Truppen und las aus seinem Blick, daß man ihn jetzt für einen toten Mann hielt.

Die Menge vor dem Krankenhaus teilte sich, als Pjetkin durchs Tor kam. Es wurde still wie bei einer Leichenprozession. Russlan, auf den Stufen der Treppe, verschwand sofort im Inneren der Baracke, rannte zur Tür der Dussowa, klopfte von draußen und rief: »Er kommt!«

»Zu mir! Sofort zu mir!« schrie die Dussowa zurück.

Pjetkin nickte nach allen Seiten, schritt aufrecht durch die Gasse der schweigenden Menschen und ging in sein Zimmer. Dort traf er Marko, der auf dem Bett saß. Der Zwerg war körperlich zerknittert, aber fröhlich im Herzen. Zum erstenmal hatte er ein Weib gehabt, das seinem Ansturm standgehalten hatte, das nicht nach dem ersten Rundlauf zusammenbrach, sondern ein ehrlicher Gegner gewesen war.

Pjetkin zog seinen weißen Kittel an. Auch das war etwas Neues im Lager, denn die Dussowa untersuchte in Zivil, manchmal sogar in ihrer Kapitänsuniform. Er tauchte den Kopf in das blecherne Waschbecken und rieb sich die Müdigkeit aus den Augen.

»Warum sagst du nichts?« fragte er dabei. »Ich weiß, es war ein Fehler, wegzubleiben … aber es ergab sich so.« Er zögerte, ob er Marko von dem Toten im Fluß erzählen sollte. Aber er verschob das auf später und nahm seinen Dienst auf. Marko folgte ihm schweigsam.

Im Untersuchungsraum wartete Russlan und hatte die erste Abteilung der Kranken bereits antreten lassen. Fünfzehn ausgemergelte Gestalten standen an der Wand, nackt, in strammer Haltung, eine Ausstellung knochiger Körper mit ledernen Häuten.

Russlan trat an Pjetkin heran. Er senkte die Stimme und grinste unverschämt. »Die Genossin Dussowa will, daß Sie sofort zu ihr kommen, Genosse Arzt. Sofort!«

»Meine Arbeitszeit bestimme ich.« Pjetkin schritt die Reihe der Nackten ab. Zum erstenmal durften sie von ihrem Leid erzählen. Knochenschmerzen. Brennen im Leib. Geschwollene Füße. Gedunsene Bäuche. Hunger, immer wieder Hunger. Totale Erschöpfung. Dystrophie. Furunkulose. Lungenödeme. Schwärende Wunden.

Pjetkin schickte sie alle in die Baracken zurück auf ihre Holzpritschen. Nur die schweren Fälle behielt er im Krankenhaus, bis Russlan nach der vierten Abteilung sagte: »Wir sind belegt, Genosse. Man müßte sie jetzt schon aufeinander legen, aber das ist keine gute Lösung.«

»Wir werden es anders machen, mein Lieber.« Pjetkin wusch sich die Hände. Noch eine Gruppe, dann war die Untersuchung beendet.

Im Lager verbreitete sich unterdessen die sagenhafte Kunde: Der neue Doktor ist ein Mensch! Ein guter Mensch. Ein Engel in Menschengestalt. Wir sollten für ihn beten, damit der Teufel von Dussowa ihn nicht verschlingt. Brüderchen, seid klug, unterstützt ihn, meldet euch nur krank, wenn ihr es wirklich seid. Verärgert es nicht, das junge Freundchen. Endlich haben wir einen Arzt. Endlich. Gelobt sei Gott!

Nach der Visite in den Krankenzimmern packte Pjetkin im Raum der Apotheke Marko plötzlich an dem Kragen, und er schüttelte ihn heftig wie einen leeren Sack, aus dem noch Körner fallen sollen.

»Warum redest du nicht«, fauchte er ihn an. »Hat man dir die Zunge herausgerissen?«

»Fast, Söhnchen, fast! Ich mußte sie mit beiden Händen festhalten.« Godunow setzte sich auf eine Kiste mit Verbandsmull. Sie war eines der kleinen Wunder gewesen, die jetzt laufend geschahen. Von Chabarowsk wurde Apothekenmaterial geschickt … Verbände, Penicillin, schmerzstillende Mittel, Medikamente gegen die verschiedenen internen Krankheiten, Narkosematerial, chirurgische Bestecke. Pjetkin rief zweimal täglich in Chabarowsk an, beschimpfte die einzelnen zuständigen Beamten im Gesundheitskommissariat, machte sich damit überall unbeliebt, aber er erreichte, daß seine Forderungen erfüllt wurden und mit den Materialzügen auch Kisten für das Lagerkrankenhaus Sergejewka eintrafen.

»Marianka war wie eine Furie!« sagte Marko und seufzte. Er war leergepumpt, aber wer erträgt nicht gern diese gewisse Schlaffheit? »Zuerst suchte sie ihr Wölfchen, dann tobte sie, am Ende legte sie sich ins Bett und schrie, sie sei krank. Und da liegt sie noch, das schwarze Teufelchen.« Mehr erzählte er nicht.

Mrianka lag flach in ihrem Bett und blickte aus halb geschlossenen Augen zur Tür. Pjetkin hatte höflich angeklopft und war eingetreten, ganz Arzt in seinem weißen Kittel, nach Desinfektion riechend. Die Schläuche des Stethoskopes baumelten aus seiner Tasche.

»Guten Morgen, Professor!« sagte die Dussowa gefährlich sanft. »Fühlen sich die Patienten wohl? Ist ihnen Ei mit Rotwein serviert worden?«

»Noch nicht. Sie bekommen zunächst Antibiotika gegen ihre Furunkulose. Das ist besser, als wenn sie sich die Geschwüre an den Baumrinden aufreißen.« Pjetkin blieb an der Tür stehen und musterte die Dussowa. »Welche Beschwerden haben Sie, Genossin?«

»Ich bin krank.«

»Erklären Sie das näher.«

»Überall bin ich krank. Durch den ganzen Körper zieht es. Schmerzen und Taubheit, dann ein Zucken wie elektrische Ströme und hinterher wie Lähmung. Ein Gefühl des Erstickens. Die Muskeln krampfen sich zusammen … Sie sollten mich massieren, Igor Antonowitsch.«

Die Dussowa dehnte sich unter der dünnen Decke. Dann warf sie mit einem wilden Tritt alles von sich und lag nackt in der Sonne. Pjetkin setzte sich auf die Bettkante, drückte die Stethoskopschläuche in die Ohren und hörte Marianka ab. Ihr Herz schlug rasend, ihre Atemzüge schnellten vor wie Rammstöße. Als er zum besseren Abhören ihre linke Brust höher schob, seufzte sie laut, griff nach seiner Hand und preßte sie auf die Brust. Er ließ sie dort liegen, während er weiter auf ihren Herzschlag lauschte.

»Hat das Vögelchen gepiepst?« fragte sie mit schwerer Zunge.

Pjetkin wußte, wen sie meinte. Welch ein Unterschied zwischen diesen Frauen. Dunja, ein Tropfen der Sonne, der auf die Erde geregnet war, zärtlich wie eine junge Katze und dann wieder heiß wie der Steppenwind. Marianka, ein betäubender Duft wie aus aufgebrochener Erde, verschwenderische Fülle eines Sommers, die Reife eines neuen, noch nicht entdeckten Landes.

»Wir waren glücklich«, sagte Pjetkin einfach. Ihr Leib bäumte sich auf, ein wilder Protest war's, lautlos, aber doch ein Schrei.

»Massiere mich!« sagte sie dumpf. »Sofort!«

»Es wäre besser, Ihnen eine Beruhigungsinjektion zu geben.«

»Zum Teufel, du sollst massieren! Von den Schultern bis zu den Zehen. Hörst du, mit langen, weichen Zügen, mit flachen Händen!«

»Warum sollen wir die Zeit vergeuden, Marianka?«

Sie warf den Kopf zurück und blies mit geschlossenen Augen zischend Luft durch die Nase. Die Nasenflügel blähten sich weit. Ihre wilde, dargebotene Schönheit machte Pjetkin fast traurig. Ein armes Tierchen war sie doch, bei all ihrer Grausamkeit.

»Ich habe einen Bericht geschrieben«, sagte die Dussowa leise und heiser. »Über dich, mein Doktorchen. Einen Bericht für Moskau. Weißt du, daß ich in Moskau ein großes Ohr habe? Ich brauche ihm nur zuzuflüstern, und es läßt die Erde beben, als habe man in einen Vulkan geblasen. Soll er Feuer speien, der Vulkan? Willst du in glühender Asche umkommen?«

»Es wird Ihnen nicht gelingen, einem Pjetkin Angst einzujagen, Marianka.«

»Auch Helden und Heilige empfinden Schmerzen.« Das waren keine Sprüche, Pjetkin wußte es genau. Seine Lage erschien ihm nicht gefährlich oder gar trostlos, aber er kannte genau die Gepflogenheiten der amtlichen Stellen, wenn eine Beschwerde, ein Bericht, eine Anzeige eingingen. Die Erinnerung an Kischinew war noch zu frisch. Er hatte aufgemuckt, die Beamten verärgert und war zur lästigen Laus geworden. Selbst ein Marschall Ronowskij hatte da versagt … Wer einen Beamten küßt, bekommt ein Bett im Paradies. Das ist ein altes, russisches Sprichwort.

»Sie werden Dunja und mich nie trennen können, Marianka«, sagte Pjetkin und steckte das Stethoskop ein. »Im übrigen weiß ich mich meiner Haut zu wehren.«

»Ist es so furchtbar, mit den Fingern über meine Haut zu streicheln?« schrie die Dussowa. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und preßte die Schenkel zusammen. Die Sonne lag auf ihrem glänzenden Körper. »Willst du, daß ich dir die Hände küsse und die Stiefel lecke wie die Leibeigenen? Verdammt, ich will es tun, vor dir herumkriechen wie ein getretener Hund!«

Sie wollte aus dem Bett springen, aber Pjetkin hielt sie fest, drückte sie zurück und warf sich über sie.

Mein Gott, bloß das nicht! Welch eine Frau könnte das verzeihen? Er wehrte sich nicht mehr, als Marianka seinen Kopf zwischen ihre Brüste zog, hinab in dieses schwellende Polster aus festem Fleisch, aus dem ihm der süßliche Geruch ihres Schweißes entgegenströmte. Es war in diesem Augenblick nur zu natürlich, daß die Erinnerung an die Nacht mit Marko in Marianka hochstieg. Sie knirschte mit den Zähnen, dachte an den rasenden Zwerg, an dieses widerliche Insekt, das über sie gekrochen war, und sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu schreien, empfand sich schmutzig und besudelt. Riecht er es nicht? Sieht er die Flecken, die seine Zähne auf meiner Haut hinterlassen haben? Sie schlug die Schenkel zusammen, und ebenso plötzlich, wie sie Pjetkin an sich gezogen hatte, stieß sie ihn weg. Er schlug mit dem Kopf gegen die Bettkante und blieb auf den Knien liegen.

»Abreiben sollst du mich!« knirschte sie zwischen den aufeinandergepreßten Zähnen. »O Gott, fang an! Ich will dich doch nicht umbringen.«

Und Pjetkin massierte sie.

Er strich über ihren Körper, drückte die Schultern, die Brüste, den sich wölbenden Leib, die Schenkel und die festen Beine, sie warf sich mit einem hellen Stöhnen herum und er streichelte den zuckenden Rücken, die runden Hüften, das von Krämpfen durchschüttelte Gesäß. Er rieb sie mit den flachen Händen vom Nacken bis zu den Fersen, bis sie bei jedem Strich aufschnellte, die Finger unter sich in die Strohmatratze krallte und helle, spitze Schreie ausstieß. Er war überwältigt von so viel Leidenschaft und gleichzeitig abgestoßen, erinnerte sich an Dunjas sanfte Zärtlichkeit, ihren ertrinkenden Kuß am Ufer des Amur und an ihre erschrockene Starrheit, als er sie auszog. Er empfand es deshalb nicht als Betrug, daß er die Dussowa jetzt mit seinen Händen bearbeitete … ein armer, seelisch kranker Mensch ist sie, dachte er, und ich bin ihr Arzt, ich helfe ihr, ohne etwas zu geben als ein bißchen Muskelkraft und die Ausdauer meiner Finger. Es wird sie befriedigen, aber nicht heilen. Doch wie wird es weitergehen? Das war seine einzige Angst.

Heftig schrak er zusammen, als sie sich wieder auf den Rücken warf, die Beine anzog, mit beiden Händen ihren Kopf umklammerte und sich dann mit einem dumpfen, unmenschlichen Schrei streckte, als sei das ihr letzter Atemzug gewesen. Pjetkin strich noch einmal über ihre harten Brüste. Dann erhob er sich, ging zum Waschbecken, wusch seine Hände und blickte in den Spiegel. Ein schweißüberströmtes Gesicht, fremd und zerflossen, starrte ihn an. Mit dem Handtuch rieb er seinen Schädel trocken und setzte sich ermattet auf den Stuhl neben dem Fenster.

»Geh hinaus!« sagte die Dussowa schwer atmend. »Geh mir aus den Augen.« Und als Pjetkin wirklich ging, auf Zehenspitzen, als verlasse er eine Schwerkranke, schleuderte sie sich wieder herum, drückte das Gesicht in die verstreuten Federn und weinte laut, mit langgezogenen, heulenden Tönen.

Den ganzen Tag, auch den nächsten und den dritten Tag, blieb Marianka im Bett und ließ sich von Pjetkin pflegen. Er mußte ihr Tee und das Essen bringen, Limonade und die Zeitungen von der Kommandantur, sie verlangte ein Stück geräucherten Fleisches, ein weichgekochtes Ei und einen Apfel. Geduldig brachte er ihr alles wie ein Sklave, der auf ein Händeklatschen in die Knie fällt.

Er tat es für Dunja. Er dachte ständig an sie und rief sie am dritten Tag an.

*

An Issakowa waren schwere Tage vorübergezogen. Sadowjews Parteihaus wurde zum Hauptquartier der Suchtrupps, jeder im Dorf wurde verhört, aber was sollte dabei herauskommen?

Niemand log, was äußerst selten war, aber hier gab es wirklich nichts zu lügen … von einem Offizier hatte keiner etwas gesehen. Das war wahr, so sicher, wie ein Stein im Fluß versinkt. Sadowjew fragte niemand. Als Dorfsowjet schien er über jedem Verdacht zu stehen, außerdem ließ er den Offizieren keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Der Fleißige ist immer angesehen – nach diesem Spruch entfachte er einen Wirbelwind in Issakowa. Er hißte auf dem Parteihaus die Fahne, ließ von Schmulnoff, einem schieläugigen Pferdehändler, der einmal als Kosak gedient hatte, zum Sammeln blasen, das berühmte Signal »Zur Attacke fällt die Lanzen!« was hier jeder verstand und sofort zum Parteibüro rannte, und hielt eine Rede wie zum Jahrestag der Oktoberrevolution.

»Ein Offizier ist in unserer Gegend verschwunden!« sagte er und blinzelte über die Köpfe seiner Dorfbewohner. »Ein guter, fleißiger, tapferer Offizier. Ich frage euch: Kann ein Mensch einfach verschwinden? So etwas gibt es nicht. Und weil es so etwas nicht gibt, suchen wir. Laßt keinen Winkel aus, Genossen! Es muß uns eine Ehre sein, den Offizier zu finden!« Ganz natürlich, daß kein Soldat den fleißigen Sadowjew verhörte.

Mit drei anderen Offizieren und vier Suchhunden – Gott verfluche sie, sie schnupperten an einem Handschuh des Toten, bellten, wedelten mit den Schwänzen und jaulten wie vor einem geschossenen Hasen – suchte er das Flußufer ab und erstarrte, als die Hunde an seinen Kahn liefen und ihn unruhig umkreisten. Ich habe ihn ausgewaschen, dachte Sadowjew. Sie können ihn nicht riechen. Kuhmist habe ich über die Bordwand geschmiert. Riecht ein sowjetischer Offizier nach Mist? Die Hunde rannten weiter, am Amur entlang, mit hechelndem Atem und lang heraushängender Zunge.

»Dumme Viecher sind sie!« schrie einer der Führsoldaten, als sie statt des Verschwundenen die Spur eines harmlosen Igels aufnahmen und davonsausten, bis sie ihn unter einem Holzstapel entdeckt hatten.

»Man sollte sie kastrieren, diese vierbeinigen Idioten!« Er schlug auf die heulenden Hunde ein, und Sadowjew brach die Suche am Ufer ab.

»Nichts«, sagte er mit großem Bedauern. »Ist es möglich, daß der Genosse hinüber nach China gerudert ist?«

»Ein Kapitän der Armee?« fragte ein Major konsterniert zurück.

»Es gibt Ausnahmen, Genosse. Der eine brät das Fleisch überm Feuer, der andere legt's unter den Sattel und reitet es gar. Die Ausnahme dagegen ißt nur rohe Gurken. Wer kennt die Menschen genau?«

Und siehe da … Nach der Mittagspause, in der Sadowjew im Parteihaus beraten hatte und alle um einen Kessel von Kascha saßen, den Anna und drei andere Frauen gekocht hatten, meldete sich Schmulnoff, der Schieler. Plötzlich ertönte abseits des Dorfes, vielleicht fünfhundert Meter entfernt, das Signal »Alles sammeln!«, Schmulnoff, das verbogene alte Signalhorn in beiden Händen, hüpfte den Zusammenströmenden entgegen und brüllte schon von weitem: »Mein Boot ist weg! Mein schönes Boot! Genossen, ihr habt es gekannt! Es war das schönste Boot! Gelb und grün war's gestrichen … und nun fehlt es. Der Strick ist durchgeschnitten. Der Satan drehe dem Dieb den Hals auf den Rücken!«

Die Lage bedurfte keiner weiteren Erklärungen … die Offiziere untersuchten genau den Strick und kamen zu keinem anderen Ergebnis als der wütend herumtanzende Schmulnoff.

»Mit meinem Boot nach China!« schrie Schmulnoff und schwankte vor Erschütterung. »Mit dem grün-gelb gestrichenen Boot eines guten Kommunisten und Patrioten nach China! Mein Herz, Freunde, mein Herz zerbricht!«

Die Suche wurde eingestellt, ein Bericht nach Chabarowsk zum Generalkommando geschrieben. Eine ungeheuerliche Sache: Kapitän Kasankow desertierte nach China. »Wir werden ihn für geisteskrank erklären«, sagte der General in Chabarowsk. Der Oberarzt und zwei andere Militärärzte standen ihm gegenüber und nickten im gleichen Rhythmus. »Das ist die einzige Entschuldigung, die Moskau annimmt.« So wurde Kapitän Kasankow zum Idioten erklärt. Zu einem Schwermütigen, den man schon seit langem beobachtet hatte. Die Akten wurden geschlossen.

Das alles erzählte Dunja am Telefon, und Pjetkin lauschte ihrer hellen Stimme mit der Verzückung aller Verliebten.

»Wann sehe ich dich wieder?« fragte sie. Ihre Stimme klang, als wenn sie sich dabei entkleidete. Über Pjetkins Rücken lief ein Schauer.

»So schnell ich kann, Dunjuschka. Jede Nacht ist ein Traum von dir.«

»Ich gehe durch den Wald und rufe den Bäumen deinen Namen zu, Igorenka.«

»Ich umarme die Kissen und küsse sie.«

»Komm … komm bald …«

»Ein Adler möchte ich sein, für den es keine Entfernungen gibt.«

»Ich kenne kein Leben mehr ohne dich, Igoruschka.«

»Wir sind wie Wolken, denen der Himmel gehört.«

Sie flüsterten sich verrückte Zärtlichkeiten zu und wunderten sich, daß der Hörer des Telefons in ihrer Hand nicht vor der Glut ihrer Worte schmolz.

*

Am fünften Tag lag die Dussowa noch immer in ihrem Bett und kümmerte sich nur darum, daß Dr. Pjetkin sie pflegte wie ein krankes Kind. Massiert wollte sie nicht mehr werden, im Gegenteil, sie zog ihre Decke bis zum Hals, wenn Pjetkin ihr alles heranschleppte, was sie verlangte. Und das hatte seinen bestimmten Grund.

Ihr Körper bedeckte sich immer mehr mit Bißwunden und Striemen, mit blauen Flecken und Kratzern, Nageleindrücken und Schrunden. Jede Nacht, wenn im Krankenhaus alles schlief, trottete Marko in einem Bademantel, der über den Boden schleifte, hinunter zum Zimmer der Dussowa, klinkte die unverschlossene Tür auf, schlüpfte herein, ließ den Bademantel von seinem Spinnenkörper fallen, reckte sich und sagte: »Mein Teufelchen, der liebe Marko ist da!«

Jeden Morgen, wenn Marko wieder davontrottete, stellte sich die Dussowa unter die Brause, wusch den Zwerg von sich ab, strich Salben über die neuen Wunden, spuckte ihr Spiegelbild an.

»Du Hure!« fauchte sie sich an. »Du Stück Dreck! Ich kotze, wenn ich dich sehe!«

»Warum stirbst du nicht?« stammelte sie. »Bring dich doch um … warum lebst du noch …? Du feiges, geiles Luder … mach ein Ende … mach ein Ende …«

Nach der Visite lag sie wieder in ihrem Bett. Wenn Pjetkin den Morgentee brachte, beobachtete sie ihn und vergewaltigte ihre Seele, indem sie sagte: Nicht Godunow war bei mir in der Nacht, sondern er … Igor, mein strahlender Liebling, mein Traum, mein Herz, meine Sehnsucht, mein Himmel, mein Gott. Du bist es, spürst du es nicht? Ich bete dich an. Hör zu, was ich dir vorschlage: Bleib eine Nacht bei mir, und ich töte mich! Ist das ein Angebot? Für eine Nacht …

Aber Pjetkin verstand nicht ihre Blicke, das stumme Rehen. Er wollte es nicht sehen, in der dumpfen Ahnung, daß sein Untergang in den Armen der Dussowa lag. Ging er dann aus dem Zimmer, weinte sie lautlos, krank vor Liebe, randvoll mit Ekel vor sich selbst. Und schon wieder schellte sie. Eine große, blanke Glocke aus Messing schwang sie in der Hand, und irgend jemand war immer auf dem Gang, der sie hörte und ehrfürchtig in das Zimmer der Dussowa blickte.

»Pjetkin soll mir ein Buch bringen!« schrie sie dann. Oder: »Die Krankenberichte von heute!«

»Wo bleibt die Zeitung?«

»Ein Glas Wasser! Soll ich verdursten?«

Am fünften Tag brachte Marko den Tee und das Brot mit Streichkäse. Marianka schrie leise auf und bedeckte mit beiden Händen die Augen.

»Muß ich dich auch noch am Tag sehen?« schrie sie.

»Das Doktorchen operiert, mein Teufelchen.« Marko stellte das Frühstück auf den Tisch. »Ich darf nicht assistieren, weil meine Hände zittern. Zum erstenmal zittern sie, seit dreißig Jahren. Ich werde dich eines Nachts umbringen müssen, meine Liebe. Du zehrst mich aus.« Er grinste sie grausam an, ließ seine faden Augenbrauen hüpfen, strich sich über die riesige Glatze und schlurfte hinaus.

Marianka sprang aus dem Bett, rannte an das Becken und erbrach sich.

*

Solange die Dussowa im Bett blieb – und dreitausend Häftlinge beteten jede Nacht, daß es noch lange so bliebe – war es Pjetkin unmöglich, nach Issakowa zu fahren und Dunja zu besuchen. Die Arbeit überwältigte ihn wie der Eissturm die Wälder: Das vollbelegte Krankenhaus, die Kranken in den Baracken, die er jeden Vormittag besuchte, die Quarantänestation, wo der neue, kleine Arzt aus Chabarowsk unterging wie in einem wütenden Meer, die Operationen und schließlich sein aussichtsloser Kampf gegen den Schmutz und für die Hygiene. Er verlangte mehr Paraschas – das sind Abortkübel – und ließ eine große Zentrallatrine bauen. Er versuchte, die Macht der Blatnyje, der Verbrecher, im Lager zu brechen und die wichtigsten Stellen mit den Kontriks, den Politischen, zu besetzen, und das war genau das, was man im Lager geahnt hatte und was ihm die Feindschaft aller Kriminellen einbrachte. Seinen aussichtslosesten Kampf führte er gegen die ›Ssuki‹, die ›Hündinnen‹, wie man die Vertrauensmänner des KGB nennt. Spione innerhalb der Sträflinge, Spitzel, die Ohren der Polizei. Pjetkin fand sie überall, wo es niedrige Posten zu besetzen gab. Er warf drei von ihnen aus der Schreibstube und ersetzte sie durch Politische. Er wußte nicht, daß an diesem Tag im Zimmer 2 des Gefängnisses beschlossen wurde, ihn der Einfachheit halber umzubringen. Der Straßenräuber Andrej Wissarinowitsch Kulkow wurde bestimmt, Dr. Pjetkin bei nächster Gelegenheit mit einem Hanfseil zu erwürgen.

»Vergraben wir ihn im Komposthaufen«, schlug der Sprecher der ›Hündinnen‹ vor. Er erntete viel Beifall für diese Idee …

Am zehnten Tag – die Dussowa war aus dem Bett gekommen, gesund wie eh und je, nachdem sie mit einer fast unirdischen Willenskraft den in der Nacht wieder heranschleichenden Marko mit der Peitsche aus ihrem Zimmer gedroschen hatte, rief man Pjetkin wieder ans Telefon der Verwaltung. Er dachte, es sei der für die Bettwäsche zuständige Beamte in Chabarowsk. Aber nicht Chabarowsk war in der Leitung, sondern das Parteihaus von Issakowa. Dunjas Stimme klang fern und bedrückt.

»Ein Brief ist gekommen, Igoruschka«, sagte sie. »Man weist mir eine Stelle als Ärztin zu. Im Krankenhaus von Irkutsk. Ich muß sie annehmen, ich kann mich nicht weigern. Das sowjetische Volk hat mein Studium bezahlt. Ich muß gehorchen.«

»Und wann … wann mußt du in Irkutsk sein?«

»In drei Wochen.«

»Wollen wir heiraten?« fragte er ohne Zögern.

»Oh, ich liebe dich, Igoruschka. Aber es ändert nichts. Ich muß nach Irkutsk.«

»Ich werde einen Antrag auf Versetzung stellen, und wir ziehen beide in die Stadt. Was sagt Väterchen?«

»Er rennt herum und verflucht die Beamten. In Chabarowsk hat er schon angerufen und den Distriktsekretär der Partei so beleidigt, daß dieser ihm Schläge angedroht hat. Man kann nicht mehr mit ihm reden.«

Pjetkin hörte, wie sie sich die Nase putzte. Sie weint, dachte er und spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Wir werden heiraten, Dunja. Ein Arztehepaar … das ist etwas, was sie suchen. Man wird uns überall gebrauchen können, auch in Irkutsk am Krankenhaus.

»Ich fahre morgen nach Blagowjeschtschensk«, rief er ins Telefon. »Weine nicht, Dunja. In einer Woche werden wir heiraten. Ich bespreche alles mit den Beamten. Sei ruhig, sei ganz ruhig, mein Vögelchen … drei Wochen sind eine lange Zeit.«

Nach diesem Gespräch rannte er zurück zur Krankenbaracke und zog seinen weißen Kittel aus. Die Dussowa, die herumlungerte und ihm ins Zimmer folgte, sah ihn erstaunt an. »Was ist los, Wölfchen?«

»Ich fahre in die Stadt«, sagte Pjetkin. »Eine dringende Angelegenheit. Darf ich Sie bitten, die Nachmittagsvisite zu übernehmen?«

Sie zog die dunklen Augenbrauen hoch und legte die Hände zwischen ihre gespreizten Schenkel. Sie trug eine enge Hose und hohe weiche Stiefel, die zwei Innendienstler mit Spucke geputzt hatten. Eine dunkelrote Seidenbluse mit großen goldenen Knöpfen umspannte die Brust. Erregend sah sie aus, gefährlich schön.

»Wieder eine massive Beschwerde, Igor Antonowitsch? Sie werden alle Beamten zu einem feindlichen Heer gegen sich vereinigen.«

»Diesmal nicht, Marianka.«

Pjetkin zog sich um. Vor der Dussowa Scham zu haben, war wie in die Wolken zu schießen, um sie zu vertreiben. Er streifte ein hellblaues Hemd über, schlüpfte in seinen Sonntagsanzug, den Vater Pjetkin in Kischinew nach langen Verhandlungen mit dem Kaufhausdirektor ergattert hatte. Er knotete die Bänder seiner Halbschuhe, und Marianka betrachtete ihn mit Mißtrauen.

»Du triffst dich mit dem blonden Hürchen?« fragte sie gepreßt.

»Nein, Genossin. Ich fahre zum Heiratspalast, um meine Hochzeit anzumelden.«

Wie auf einem Flammenstrahl fuhr die Dussowa vom Stuhl und stürzte an die Tür. Sie baute sich an ihr auf und hieb mit den Fäusten gegen den Rahmen.

»Du bleibst!« sagte sie schwer atmend. »Bei Gott, du bleibst, Igor. Ich lasse dich nicht heraus! Heiraten willst du sie? Das blasse Täubchen mit dem blöden Blick? Du kannst sie lieben, du hast es ja schon getan – wer sollte dich daran hindern, nicht wahr? Du kannst sie in dein Bett nehmen, so oft du willst, ich will euch das Tuch glattziehen und die Kissen schütteln, und wenn du Durst hast, ich bringe dir Wasser … aber heiraten? Nie! Vergiß nicht, wo du bist, Wölfchen, und wer ich bin! Vergiß das nicht!«

»Warum kämpfen Sie gegen Blitze, Marianka?« Pjetkin packte sie an den Schultern und schob sie von der Tür. Sie trat nach seinen Schienbeinen und hieb mit den Fäusten nach seinem Kopf. Er wehrte sie ab und verließ sein Zimmer. Mit einem Jeep der Kommandantur fuhr er nach Blagowjeschtschensk.

Im Lager aber herrschte das Grauen.

Die Dussowa machte, wie gewünscht, die Nachmittagsvisite. Sie räumte alle Krankenzimmer. Sie warf die Männer aus ihren Betten. Mit der Peitsche rannte sie von Zimmer zu Zimmer, riß die Decken von den Körpern, schlug einmal quer über die Leiber und schrie: »Arbeitsfähig! Hinaus!«

In kurzen Hemden, nackt, so, wie sie gerade waren, schwankten die Kranken hinaus und standen an der Wand der Steinbaracke in der roten Sonne. Selbst die Frischoperierten ließ die Dussowa hinausbringen, stellte die Tragen in den Sand und kämmte dann die Baracken durch, wo die Ambulanten auf den Holzpritschen hockten. Hier sagte sie gar nichts … wie ein eisiger Wind fegte sie durch die Bettreihen, drosch mit der Peitsche auf die Körper, trieb die Männer vor sich her wie junge Hunde und zeigte auf den großen Appellplatz. »Sammeln! Alle dorthin! Hurensöhne ihr alle!«

Nach ihrem Rundlauf durch das Lager kehrte sie zum Krankenhaus zurück und stampfte mit knarrenden Stiefeln durch die leeren Zimmer. Und dann lachte sie, ließ die Peitsche auf die leeren Betten klatschen, zerschlug die Glühbirnen in den einfachen Schirmlampen, und lachte, lachte mit einem so metallischen Ton, daß Russlan seine Abneigung gegen Marko überwand, zu ihm rannte und sich zitternd neben ihn setzte.

»Sie ist wahnsinnig geworden«, flüsterte er.