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Es dauerte eine Weile, bis Pete die Polizei davon überzeugen konnte, dass seine Vorgeschichte als Autoknacker und Rebell ihn nicht automatisch zum Serienmörder machte. Wenn er nicht noch ein paar andere Argumente parat gehabt hätte, wäre er vielleicht niemals freigekommen.
Das erste dieser Argumente bezog sich auf etwas, das Francesco ihm eines Abend in dem besetzten Haus erzählt hatte. Alle anderen hatten entweder verkatert vor dem Fernseher gesessen oder waren unterwegs gewesen. Bronny und Hamish machten »die große London-Tour«, was gerade mal drei Stunden dauerte.
»Ich musste eben unsere Zimmerauslastung überprüfen«, hatte Francesco in der Küche zu Pete gesagt. »Also habe ich die Tür zum Internetcafé aufgeschlossen und einen der Computer benutzt. Hamish hatte seinen Rechner nicht abgeschaltet; er konnte ja nicht annehmen, dass während seiner Abwesenheit jemand reinkommen würde. Außerdem bin ich der einzige Mensch außer ihm, der noch einen Schlüssel hat. Na ja, jedenfalls habe ich die Zimmerpreise angepasst, und dann habe ich in einem Anfall von Neugier das getan, was jeder normale Mensch tun würde … Ich vermute, es ist nichts Ungewöhnliches, wenn man ein paar Tage lang nichts als Pornoseiten aufruft, aber als ich die Bilder angeklickt habe, die er gespeichert hat, sah ich, dass das keine normalen Sachen sind. Ziemlich gewalttätig, und sehr speziell. Muss eine Weile gedauert haben, bis er die alle beisammenhatte.«
Francesco beschrieb einige Bilder aus dem Ordner: »Eine Joggerin, die auf einer Rennbahn vergewaltigt wird, eine unglücklich aussehende Schwimmerin mit Schutzbrille auf den Augen und zwei Penissen im Mund …«
Francesco und Pete waren sich einig gewesen, dass etwas an Hamishs Ausstrahlung ausgesprochen verstörend war – was genau, war schwer zu sagen. Er war irgendwie aalglatt. Während sie sich noch über ihn unterhielten, war er mit Bronny in die Küche geschlüpft und dann wieder hinaus, um fernzusehen.
Doch obwohl Francesco diese Aussage bestätigt hatte, reichte sie noch nicht aus, um die Polizei von Petes Unschuld zu überzeugen. Pete, der es satthatte, dass man ihm eine Ledermaske unter die Nase hielt, als ob diese bereits ein umfassendes Geständnis sei, hatte gefragt, ob man seine DNA schon mit den Proben von der Maske abgeglichen habe. Sie arbeiteten dran, und das Gleiche galt für die DNA aus seinem Mund, die mit den Abstrichen vom Tatort abgeglichen werden sollte. Aber bis die Ergebnisse da seien, könne noch einige Zeit vergehen. Einstweilen, so stimmten sie zu, könne Pete die Ledermaske anprobieren, vorausgesetzt, er zöge zuvor Handschuhe an und stülpe sich eine Plastikhülle über den Kopf.
»Wenn der Handschuh nicht passt, müsst ihr mich freilassen«, scherzte Pete.
Natürlich passte die Maske nicht. Pete hatte einen großen Kopf, seine Mutter hatte ihn oft genug daran erinnert, meistens nach dem zweiten Glas.
Na gut, hatten sie gesagt, könne ja sein, dass er die Maske nicht getragen habe, aber vielleicht sei sie sowieso nie getragen worden – schließlich seien die Fingerabdrücke, das Blut und die Exkremente darauf noch nicht identifiziert worden. Was hatten sie noch gegen ihn in der Hand? Irgendetwas mussten sie finden.
Und sie fanden etwas. Eines Nachmittags hatte ein Beamter Petes Arbeitsplatz aufgesucht und war auf ein gestohlenes Portemonnaie in seinem Spind gestoßen.
»Einige von den anderen Angestellten hatten es auf Bronwyn abgesehen. Sie haben ihr eine Falle gestellt«, erklärte Pete. »Ich wollte ihr bloß helfen. Hab mich reingeschlichen, das Portemonnaie aus ihrem Spind genommen und bei mir versteckt. Ich wollte es seiner Besitzerin heimlich zurückgeben, aber die ist bislang nicht wiedergekommen.«
»Warum haben Sie das Portemonnaie nicht zur Polizei gebracht?«
»Ich habe eine Allergie.«
Die Beamten fanden schnell heraus, weshalb Pete eine Allergie gegen Gesetzeshüter hatte: Seit er sechs Monate zuvor aus Australien abgeschoben worden war, hatte er die meiste Zeit damit verbracht, zwielichtige Typen zu kontaktieren, die ihm vielleicht bei seiner Rückkehr helfen konnten.
»Warum haben Sie einen gefälschten Pass gekauft?«, wollte Vera Oh wissen.
»Weil ich nach Hause wollte«, sagte Pete. Er warf einen Blick über die Schulter. Wohin schaute sie gerade?
»Warum haben Sie in Marokko das Kreuzfahrtschiff verlassen?«
»Weil ich nach Australien wollte.«
»Warum haben Sie das Treffen mit Ihrem Bewährungshelfer platzen lassen?«
»Weil ich eine Verabredung mit jemandem hatte, der mir helfen wollte, nach Australien zu kommen.«
Pete hatte es Tag und Nacht probiert. Er hatte mehr Menschenhändler und Passfälscher kennengelernt als die meisten Kriminellen in ihrem ganzen Leben, und er hatte all sein Geld für Fluchtversuche ausgegeben, die ausnahmslos schiefgegangen waren. Seine Pläne waren im Sand verlaufen, und er hatte befürchtet, nie mehr zurückzukommen.
Aber dann hatte er Bronny getroffen, und irgendetwas an ihr war ihm ähnlich verloren erschienen wie er selbst. Ihm gefiel die Art, wie sie sich um Pflanzen kümmerte und genussvoll aß, wie sie okey dokey sagte, wenn sie nervös war. Er hatte nach und nach den Geruch der Eukalyptusbäume vergessen, den australischen Horizont, der gleichzeitig überall und nirgendwo hinzuführen schien. Bronny war schön, ohne auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben. Sie war so natürlich wie das Land, das er liebte – ein Land, das nicht so gestutzt war wie die grünen Hecken und Felder Englands. Fast schon ungepflegt. Manchmal sogar gefährlich. Rau, unwirtlich, unbestimmbar. Und unendlich verlockend.
Pete war noch nie in seinem Leben verliebt gewesen. Er war zu sehr mit seiner Wut beschäftigt gewesen. Wut auf seine Mutter, weil die eine Säuferin war. Wut auf seinen Vater, weil der sich aus dem Staub gemacht hatte. Wut auf die Welt, die ihn für Abschaum hielt. Ihm war gar keine Zeit für etwas anderes geblieben – außer vielleicht für eine ausgedehnte Spritztour in staubiges, weites Land unter einem hohen, endlosen Himmel auf einer schnurgeraden, ebenen Straße.
***
Er merkte, dass die Polizisten ihn zu mögen begannen, und nachdem die zweite der beiden jungen Frauen im Keller als Leanne Donohue aus Ballarat identifiziert worden war, wollten sie ihn fast schon gehen lassen. Angeblich war Leanne Donohue fünf Monate zuvor in Devon aus einem Boot ins Wasser gefallen. Hamish war bei ihr gewesen. Die beiden hatten gemeinsam Europa bereist und waren allem Anschein nach die weltbesten Kumpel gewesen. Hamish hatte sich intensiv an der Suche beteiligt und sogar die Familie getröstet. Er war nach Australien geflogen, um an Leannes Beerdigung teilzunehmen – eine Beerdigung ohne Leiche. Es war genau diese Reise, die Hamish als Alibi für Celias Entführung gedient hatte. Aber die Polizei fand schnell heraus, dass er nicht länger als vier Tage in Australien gewesen war. Und weil Celia, ihrer körperlichen Verfassung nach zu urteilen, lange Zeit sich selbst überlassen worden sein musste, taugte die Australienreise nicht länger als Alibi.
Dann traf per Fax aus Kanada das Gutachten zu Hamishs Vorgeschichte ein. Als Informatikstudent der Universität Toronto war er während seines dritten Studienjahrs wegen sexueller Nötigung verurteilt worden:
Mr Watson hat niemals eine intime Beziehung zu einer Frau aufgebaut. Er gibt zu, sich sexuell unzulänglich zu fühlen, und sagt aus, dass er befürchte, »in solchen Situationen nicht richtig funktionieren« zu können. Er legt überdies eine durch mangelnde Empathie gekennzeichnete Haltung an den Tag, die sich insbesondere gegen Frauen zwischen zwanzig und vierzig richtet. Diese Fühllosigkeit wird sowohl durch die Beschreibung seines Opfer als »genau die richtige Fotze« belegt, als auch durch die Beschreibung seiner Mutter, die in jüngeren Jahren »die Kleinstadtnutte« gewesen sein soll.
Mr Watsons Mutter, drogenabhängig und alleinerziehend, verließ ihren Sohn, als dieser im Alter von zwölf Jahren an Masern erkrankte. Der Junge wurde kurz darauf in staatliche Obhut genommen und hatte seitdem keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter.
Überdies scheint Mr Watson Geschlechtsverkehr als ein persönliches Anrecht zu betrachten: »Sie trug einen Tennisrock, der ihr zwei Nummern zu klein war.« Er weist die Verantwortung für seine Tat zurück und streitet ab, seinem Opfer mehrmals heimlich gefolgt zu sein, ehe er die junge Frau auf der Straße angriff.
Nach Ansicht des Unterzeichneten verfügt Mr Watson über keinerlei Opfereinfühlung. Er behauptet, dass »es ihr gefallen hat«, und stilisiert sich sogar selbst zum Opfer: »Diese Schlampe hat mein Leben ruiniert …«
Gerade als Pete entlassen werden sollte, klingelte das Telefon. »Sie ist aufgewacht!«, sagte die Krankenschwester. »Der Arzt kommt gleich, um sie zu untersuchen, und ich habe den Ehemann angerufen; er ist schon unterwegs.«
Vera Oh verfrachtete Pete in einen Polizeiwagen, raste zum Krankenhaus, eilte über lange Gänge und hastete die Treppe in den zweiten Stock empor. Aber sie fanden dort nicht das, was sie sich erhofft hatten – eine Celia, die nicht nur bei Bewusstsein, sondern auch zur Identifizierung ihres Peinigers imstande wäre. Stattdessen fanden sie Greg und seine Familie, die schmerzerfüllt schrien und weinten.