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An diesem Abend verlor ich meinen Schuh. Den linken. Ein Asics Special, den mein Vater mir für den Fall geschenkt hatte, dass ich es mir anders überlegte und dem Netzballteam von St. Patrick doch wieder beiträte. Ich hatte es mir zwar nicht anders überlegt, aber diesen Laufschuh liebte ich.

»Scheiße!«, sagte ich, als der Schuh vom Dach des Hostels in einen großen, schwarzen Müllcontainer fiel.

»Pssst!«, zischte Fliss, die gerade das Dachfenster des Nachbarhauses aufstemmte. Ich hatte die Augen halb geschlossen und robbte zentimeterweise voran, wobei ich verzweifelt versuchte, nicht nach unten zu schauen. Wenn ich nach unten schaute, würde ich ganz bestimmt den Halt verlieren und als blutiger Klumpen auf dem Gehsteig enden.

Linkisch kletterte ich hinter Fliss durch das Fenster ins Haus. Wir befanden uns in einer staubigen Dachkammer. Auf Zehenspitzen schlichen wir die enge Stiege zum Treppenabsatz im zweiten Stock hinab, und vor uns tat sich das prachtvolle Interieur eines georgianischen Stadthauses auf. Eine weitläufige Wendeltreppe führte ins Erdgeschoss, und wir schlichen die Stufen hinab: zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoss. Wie erwartet, stand das Haus leer.

James aus Neuseeland hatte Fliss erzählt, dass er in dem Gebäude putzen gewesen war. Kurz danach war der alte Eigentümer pleitegegangen, und die Bank hatte das Haus übernommen. Ich kannte mich mit Hausbesetzungen nicht aus und war erstaunt, als Fliss mir sagte, dass wir das Recht hätten, in einem leer stehenden Haus zu wohnen. Die einzige Voraussetzung sei, dass wir uns Zugang verschafften, ohne etwas zu zerstören. Man konnte uns zwar vor die Tür setzen, aber nicht mit körperlicher Gewalt. Das gab uns Gelegenheit, die Schlösser auszuwechseln und so lange zu bleiben, bis das Verfahren abgeschlossen war – und das konnte Wochen dauern.

Dies war nicht einfach irgendein besetztes Haus. Es war wunderschön und riesengroß. Wir empfanden keinerlei Schuldgefühle gegenüber dem bankrotten Eigentümer, und wir erwarteten auch keinen Krach mit der Bank, die sich bislang nicht einmal die Mühe gemacht hatte, dieses Schmuckstück zum Verkauf anzubieten.

Ich schaute hoch und sah, dass eine Kuppel aus Buntglas das oberste Stockwerk krönte. Es war umwerfend.

Wir öffneten die Eingangstür und ließen Ray herein. Das war der Schlosser aus Jo’burg, der den Einbruch ausgeheckt hatte. Er hatte unauffällig auf der Eingangstreppe des Royal gestanden und auf uns gewartet. »Eine an jedes Ende der Straße«, befahl er. »Wenn jemand kommt, der verdächtig aussieht, pfeifen!«

Wir gingen an entgegengesetzte Enden der Straße und taten wie geheißen. Aber abgesehen von ein paar unverdächtigen Rucksackreisenden kam niemand vorbei. Außerdem wirkte Ray beim Austausch der Türschlösser so gelassen, dass niemand auch nur mit der Wimper gezuckt hätte.

Eine halbe Stunde später pfiff er. Fliss und ich rannten aufeinander zu und stürmten ins Haus. Wir kreischten und fielen uns in die Arme: Jetzt hatten wir ein riesiges, wunderschönes Haus ganz für uns allein. Und es kostete uns keinen Penny.

***

Nachdem Ray auch das Schloss des Hintereingangs ausgetauscht und uns die Schlüssel überreicht hatte, suchten wir Zimmer für uns aus. Ich nahm eins im Erdgeschoss, mit Blick auf den Garten. Es war groß und sonnig, und man hatte eine nette Aussicht auf das kleine Rasenstück hinter dem Haus. Außerdem lag es gleich neben einem Badezimmer. Fliss wählte den größten Raum im ersten Stockwerk, mit Blick auf die Straße, und Ray entschied sich für ein Zimmer im zweiten Stock.

Wir verbrachten Stunden damit, die Müllcontainer der umliegenden Hotels abzusuchen, und schließlich hatten wir ein altes Sofa, eine ausgemusterte Matratze, einen Tisch, fünf Stühle, einen kleinen Fernseher und eine Mikrowelle beisammen. Alle außer mir besaßen Schlafsäcke, und ich borgte mir einen von Hamish. Wir bastelten einen Couchtisch aus Brettern und Backsteinen, und ehe wir richtig wussten, wie uns geschah, hatten wir Betten, ein Esszimmer, ein Wohnzimmer und ein Haus, das zum Treffpunkt aller in Bayswater lebenden Expatriierten wurde.

Ich betrank mich heftig mit Cider. Dabei wirbelte ich im Kreis herum und sang zu den Violent Femmes, die aus dem iPod irgendeines anderen Mädchens ertönten. Trotz meines wilden Kreiselns ergab alles einen Sinn, vor allem die Musik. Nette, nette Leute. Nette, nette Hausbesetzung. Und diese Apfel-Limo war auch sehr gut.

Ich tauschte die Klamotten mit Hamish, meinem Computermann, und war überrascht, dass ich in seiner Jeans-und-T-Shirt-Kombination fast genau so aussah wie in meiner eigenen.

Dann ging ich nach nebenan, ins Royal. Francesco ignorierte mich. Er war mit der Buchhaltung beschäftigt und weigerte sich, die Tür zu öffnen. Also klingelte ich so lange Sturm, bis ein vom Jetlag geplagter Neuankömmling die Treppe herabstolperte und mir die Tür öffnete. Dann stand ich an der Rezeption und machte einen Schmollmund, in der Hoffnung, damit Francescos Herz zu erweichen.

»Du bist total egoistisch«, sagte er. Sein Schreibtisch war mit Papieren übersät. »Ich mag dich nicht mal anschauen.«

Das mit dem Schmollmund hatte nicht funktioniert. Keine große Überraschung, schließlich hatte ich entgegen meinem Versprechen an der Hausbesetzung teilgenommen. Außerdem hatte ich seinen Job gefährdet, weil wir über das Dach des Hostels ins Haus eingebrochen waren.

»Es tut mir leid«, sagte ich, schlagartig nüchtern.

Da er mich ignorierte, ging ich zum Nachdenken hinaus. Einige Minuten später klingelte ich erneut. Der erwähnte Neuankömmling – dem Akzent nach aus Südafrika – kam die Treppe runter, machte die Tür auf und sagte: »Hör mit der scheiß Klingelei auf.«

Ich teilte Francesco mit, dass ich kein abschreckendes Maß an Zuneigung erkennen lassen wolle.

»Ich bin nicht bedürftig, wirklich nicht«, sagte ich. »Ich find dich bloß total toll.«

Er verscheuchte mich mit einem kurzen Kopfschütteln, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.

Widerstrebend ging ich hinaus. Verdammt, ich war ja total bedürftig. Auf diese Weise würde ich bei Fliss nie die Bestnote kriegen.

Ich überlegte, ob ich eine Weile die Unzugängliche spielen und ihn vielleicht sogar ignorieren sollte, als zwei Männer in Anzügen auf mich zukamen und direkt vor mir stehen blieben.

»Wir geben Ihnen sechs Wochen«, sagte einer der Männer. »Klingt das fair?«

Ich sah mich um und überlegte, ob sie jemand anders gemeint haben könnten.

»Wenn nicht, gibt es immer noch Plan B.«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, bekam aber kein Wort heraus. Alles, was ich zustande brachte, war eine Art Krächzen. Glücklicherweise sprang eine andere Stimme für mich ein.

»Sehr fair.«

Pete aus dem Porchester hatte die Party verlassen und stand hinter mir.

Die Männer nickten und gingen.

»Ich will das große Zimmer über deinem«, sagte Pete.

»Wer sind die?«, fragte ich.

»Von der Bank, schätze ich. Sehr akzeptabel. Wenn das mein Haus wäre, würde ich gleich zu Plan B übergehen.«

Pete wandte sich zum Gehen.

»Wo willst du hin?«

»In den Park«, sagte er.

Ich sah zu, wie seine muskulöse Gestalt sich langsam entfernte. Dem möchte ich nicht im Dunkeln begegnen, dachte ich.

Als er an dem großen Müllcontainer vor dem Hostel vorbeiging, fiel mir mein Schuh wieder ein. Den ganzen Tag lang hatte ich die Gymnastikschuhe von Fliss getragen, und jetzt brachten meine Füße mich schier um. Ich lief zu dem Container und schaute hinein. Er war groß und dunkel und mit äußerst geruchsintensiven Gegenständen angefüllt. Ich langte hinein, und meine Hand berührte etwas Klebriges. Da sah ich ihn, den Laufschuh. Er lag mittendrin – zu weit weg, um von draußen an ihn ranzukommen. Also zog ich mich hoch, balancierte mit dem Bauch auf der Kante des Containers und griff hinein … noch ein bisschen näher, fast hatte ich ihn … ich konnte ihn schon fühlen … jetzt hatte ich ihn!

Ich lief zur Vordertreppe des besetzten Hauses und kramte in meiner Tasche nach den Schlüsseln, als mir einfiel, dass ich ja immer noch Hamishs beängstigend gut sitzende Jeans trug. Cheryl-Anne und Fliss öffneten mir mit unbekleidetem Oberkörper. Ich krümmte mich innerlich vor Verlegenheit und hielt mir beim Vorbeigehen eine Hand vor die Augen. Dann legte ich mich schlafen.

Als ich am nächsten Morgen versuchte, den Schuh anzuziehen, merkte ich, dass es nicht meiner war.

Die dunkle Treppe
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