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Der Schuh war blau, Größe fünf. Ein Nike, und für den rechten Fuß. Bronny quetschte ihren linken Fuß trotzdem hinein und lief die Treppe zu Fliss’ Zimmer im ersten Stock hinauf, wo sie ihre magere Freundin nackt zwischen zwei ebenfalls nackten Männern fand. Angestrengt in die entgegengesetzte Richtung schauend, klaubte sie ein T-Shirt und eine Jeans vom Boden auf. Dann verließ sie eilig das Haus.

Sie kam fünf Minuten zu spät zur Arbeit. Esther, der Dampfbad-Dinosaurier, war alles andere als erfreut. Esther war sogar so unerfreut, dass sie Bronny aus purer Boshaftigkeit einen Netzballrock und ein Poloshirt in Größe 18 gab. Mit zwei rechten Laufschuhen unterschiedlicher Marke und Farbe, einem Rock, der dauernd zu Boden rutschte, und einem derart großen T-Shirt, dass man sie darin kaum noch erkennen konnte, sah Bronny zum Schieflachen aus.

Esther arbeitete seit über dreißig Jahren in dem Dampfbad. Sie war neunundfünfzig Jahre alt, dünn und faltig, und sie lächelte nie. Es gab auch keinen Grund dazu, denn niemand, nicht einmal ihre beruflich erfolgreichen Kinder, mochte sie. Sie führte sich auf, als ob der Laden ihr gehörte, und überwachte das restliche Personal – insbesondere die Australier – mit Argusaugen. Australier nahmen Drogen und feierten Sexorgien. Esther hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Porchester von solchen Schmarotzern zu befreien – oder ihnen zumindest das Leben so schwer wie möglich zu machen.

Während sie nach Anzeichen für Drogenkonsum und sexuelle Zügellosigkeit Ausschau hielt, wies sie Bronny in ihre Aufgaben ein: Handtücher ausgeben, Handtücher zurücknehmen, Spinde überprüfen, Böden reinigen, Fliesen reinigen, Abflüsse reinigen. Nach einer halben Stunde war sie zu dem Schluss gekommen, dass dieses junge Flittchen keinen Deut besser sei als die anderen.

»Den hier darf man nur aufmachen, wenn man zum Fachpersonal gehört«, sagte Esther und öffnete ein Metallschränkchen. Sie erklärte, dass der Schrank die Regler für die Sauna- und Dampfkabinen sowie diverse Schlüssel zu diversen wichtigen Räumen enthielte. Dann nahm sie einen Schlüssel vom Haken und öffnete den Putzmittelschrank neben dem Metallschränkchen. Hier waren Dosen mit Reinigungsmitteln und Rattengift untergebracht, ferner eine Pappkiste mit von Besuchern vergessenen Gegenständen.

»Gibt es hier unten etwa Ratten?«, fragte Bronny.

»Nicht, wenn wir dieses Zeug benutzen«, sagte Esther. »Aber Sie dürfen das nicht!«, rief sie ihr ins Gedächtnis. »Dazu muss man zum Fachpersonal gehören und eine abgeschlossene Ausbildung haben.«

»Was ist denn das hier?« Bronny deutete auf zwei große Strohbüschel, die zu einer Art Besen zusammengebunden waren.

»Die sind für das Schmeissing

»Schmeissing?«

»Manche Männer benutzen sie im Dampfbad, um sich damit gegenseitig zu schlagen. Ihre Verwendung ist nicht erlaubt. Die hier sind neulich beim Männertag konfisziert worden.«

Esthers Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während sie Bronny einige unbehagliche Sekunden lang anstarrte. »Kommen Sie bloß nicht auf dumme Gedanken«, sagte sie.

»Was für Gedanken?«, fragte Bronny.

Australier kamen auf allerlei Gedanken, davon konnte Esther ein Lied singen. Sie sah es dem Blick ihrer Welpenaugen an, dass die junge Frau vor ihr imstande war, eine ihrer heroinsüchtigen, lesbischen Freundinnen noch in dieser Nacht mit einem behelfsmäßigen Strohbesen zu verhauen.

***

Während ihrer ersten Schicht vermied Bronny es mit vorbildlicher Entschlossenheit, fremder Intimzonen ansichtig zu werden. In Anbetracht der Tatsache, dass alle Frauen im Bad pudelnackt waren, stellte sich diese Aufgabe als gar nicht so leicht dar. Im Dampfbad blickte sie züchtig zu Boden, bei den Entspannungsliegen blickte sie züchtig zur Decke, und wenn sie die Treppe neben dem Tauchbecken hinabging, blickte sie züchtig zur Seite. An der Handtuchausgabe erschien es ihr ratsam, die Augen völlig geschlossen zu halten. Als sie sie doch einmal öffnete, um eine Frage zu beantworten, schaute sie von ihrem amtlichen Handtuchvergabestuhl aus direkt in eine Vagina. Nach Luft schnappend, warf sie der Kundin ein Handtuch zu und schloss unverzüglich die Augen.

Bald musste Bronny feststellen, dass dies keine freundliche Umgebung war. Die Kundinnen schienen wild entschlossen, zu entspannen, zu entspannen, zu entspannen. Dem Personal schenkten sie überhaupt keine Beachtung, und nach Plaudereien stand ihnen auch nicht der Sinn. Außer Esther arbeiteten an den Frauentagen nur noch zwei weitere Angestellte hier: Kate (nackt, Teilzeit) und Fäustling-Woman.

Fäustling-Woman verließ niemals den Abreibungsraum. Das war ein quadratisches Areal gegenüber den Duschen im Untergeschoss, wo nackte Kundinnen sich derart bereitwillig auf ihrer harten Zementplatte ausstreckten, als ob sie bereits im Leichenschauhaus wären. Ihr dünner Körper steckte stets in Turnhose und ärmellosem Trikot. Fäustling-Woman war ungefähr dreißig Jahre alt, hatte lockiges Haar und begegnete der Welt mit einer Dauergrimasse. Ihre Hände steckten in großen Fäustlingen, mit denen sie ihre Kundinnen wundrieb. Hautpartikel schwebten wie Schnee zu Boden, wo sie unter Einwirkung der Luftfeuchtigkeit eine dicke, dunkle Schicht aus Hautschmadder bildeten. Fäustling-Woman sprach niemals ein Wort. Ihre Massagehandschuhe sprachen für sich.

***

An ihrem ersten Arbeitstag kehrte Bronny um zehn Uhr abends in das große Haus zurück. Da ihr Schlüssel seit dem Jeanstausch nicht mehr aufgetaucht war, klopfte sie an die Tür und wartete, bis ein bekiffter Mitbewohner sie einließ. Im Wohnzimmer saßen sieben weitere Gestalten mit bedröhntem Gesichtsausdruck herum, darunter auch die drei Neubewohner Porchester-Pete, Kaiserschnitt-Cheryl-Anne und Gitarren-Zach.

Cheryl-Anne hatte ihr T-Shirt ausgezogen und starrte auf etwas Unsichtbares, das sich in mittlerer Entfernung vor ihr zu befinden schien. Fliss hatte sich Zach gegenüber positioniert und trug ihren üblichen Minirock. Zach hatte aufgehört, Believe zu spielen, seit er bemerkt hatte, dass ihm eine fast unbehinderte Sicht auf Fliss’ kostbarere Teile gewährt wurde.

Bronny war verkatert und erschöpft, aber es war ihr immer noch ernst mit ihrem Gelöbnis, das Leben zu leben. Also sammelte sie ihre letzten Kräfte, um sich mit den anderen eine improvisierte Wasserpfeife zu teilen (das Wasser blubberte in einem Eimer) und an einer langatmigen Diskussion darüber teilzunehmen, worum sich die Diskussion eigentlich drehe.

***

Um drei Uhr früh schreckte Bronny aus einem Traum hoch. Sie war zu Hause in Kilburn gewesen, und das braune Siebziger-Jahre-Backsteinhaus hatte genau an der richtigen Stelle auf halber Höhe der Station Street gestanden. An einem Ende der Straße, wo Mr Todd seine Pferde hielt, befand sich die stillgelegte Bahnlinie, am anderen Ende die Schinkenfabrik. Früher hatte Bronny diese Umgebung ganz normal gefunden – das Quieken der Schweine, die nachts geschlachtet wurden, Mr Todd, der in seinen staubigen Klamotten auf der Erde schlief. Doch in ihrem Traum erschien ihr nichts mehr normal. Sie war die alten Gleise entlanggelaufen, und Mr Todd hatte auf fast schon gespenstische Weise klar gewirkt: Wie ein Geist hatte er bei seinen Pferden gestanden und Bronny angestarrt. Dann war sie an der Schinkenfabrik vorbeigekommen, und die Schweine hatten nicht gequiekt, sondern waren langsam und schweigend ins Schlachthaus getrottet. Während des Gehens waren Bronnys Schritte immer größer und höher geworden, und schließlich hatte sie sich in die Lüfte erhoben. Gerade als sie ihr Zuhause ansteuern wollte, war sie direkt darüber hinweggesprungen und auf der gegenüberliegenden Seite gelandet. Zwar war sie zurückgesprungen, aber diesmal war sie sogar noch weiter entfernt gelandet. Ursula hatte auf der Veranda gestanden und auf sie gewartet, aber nach einer Weile waren Bronnys Sprünge so groß und so hoch gewesen, dass sie ihre Schwester kaum noch erkennen konnte.

Schweißgebadet schreckte sie hoch. Sie erhob sich von ihrer Matratze und ging in das kleine Badezimmer nebenan. Im Haus war es völlig still. Alle waren entweder zu Bett gegangen oder im Wohnzimmer eingeschlafen. Sie drehte das Wasser auf, trank einen Schluck aus dem Hahn und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Nachdem sie gepinkelt hatte, tappte sie durch die Eingangsdiele zurück in ihr Zimmer. In der Diele fiel ihr zum ersten Mal eine Tür unter der Treppe auf. Sie versuchte, sie zu öffnen, aber die Tür war abgeschlossen.

Sie konnte lange nicht einschlafen. Das lag nicht nur an den Nachwirkungen ihres Albtraums, sondern auch an Francesco. Sie hatte sich das doch nicht alles eingebildet, oder? Die Chemie zwischen ihnen. Wie gut sie sich verstanden. Sie sehnte sich nach ihm, aber jetzt hatte er eine Wut auf sie, und sie konnte es ihm nicht mal verübeln. Er hatte sie gebeten, nicht in das leer stehende Haus einzubrechen, und sie hatte es trotzdem getan.

Als sie gegen sieben Uhr endlich wegdämmerte, kehrte der Traum zurück. Bronny konnte jetzt weder Ursula noch ihren Vater klar erkennen. Die beiden standen wartend auf der Veranda und schrumpften mit jedem ihrer größer werdenden Sprünge. Die Angst und ein seltsames Geräusch ließen sie hochschrecken. Ein Kratzen. Noch eins. Kerzengerade saß sie auf ihrer Matratze. Dann stand sie auf und sah erst in den kleinen Garten hinaus, dann in die Diele. Ob das Geräusch aus ihrem Traum stammte? Vielleicht die Schweine, die nachts quiekten? Sie ging ins Wohnzimmer, aber hier war nichts als das Schnarchen zu hören, das aus Rays offenem Mund drang. Er musste vor dem Fernseher eingeschlafen sein.

»Ray, hast du das auch gehört? Ray?«

Er schnaubte und drehte sich auf die andere Seite.

In der Küche war auch nichts zu hören, und im ersten Stock ebenfalls nicht. Sie ging zurück ins Erdgeschoss und öffnete die Vordertür. Nichts. Sie ging durch die Küche in den Garten. Nichts. Sie ging ins Bett. Sie wurde wohl langsam verrückt.

BUMM! Als ob ein schweres Holzfenster zuknallen würde. Bronny sprang aus dem Bett und öffnete vorsichtig die Tür.

Sie schrie laut auf, als sie Pete direkt vor ihrer Tür stehen sah.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er und tat einen Schritt in ihr Zimmer.

»Raus!«, sagte Bronny.

Pete rührte sich nicht von der Stelle.

»Raus aus meinem Zimmer!«

Bronny lauschte, wie er die Tür hinter sich schloss, die Treppe hochging und das Zimmer über ihr betrat. Sie fröstelte, und schlafen konnte sie auch nicht mehr.

Die dunkle Treppe
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