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Im Krankenhaus saß Greg am Bett seiner Frau. Große Teile ihres Gesichts waren bandagiert, und ein Tropf mit zwei Kanülen endete in ihrem Arm. Durch die eine Kanüle floss eine Blutkonserve, durch die andere eine Kochsalzinfusion. Celia lag immer noch im Koma.
»Und zum Schluss hat er geschrieben: ›Es tut mir leid, dass ich so wütend war, ich vermisse dich. Alles Liebe, Dein Sam.‹ … Richtige Orthographie und alles. Ich hab’s auf das Kaminsims im Wohnzimmer gelegt. Ich war sehr ordentlich, genau wie du es magst …«
Er wusste, dass er dummes Zeug redete, aber er hatte den ganzen Tag mit einem bandagierten Gesicht geredet, und es war schwierig, sich mit einer leblosen Frau zu unterhalten. Vor allem, wenn einem gesagt wird, dass man sich auf das Schlimmste gefasst machen solle, und wenn man wütend auf sich selbst ist, weil man es nicht verhindern konnte. Warum hatte er sich von ihr überzeugen lassen, dass es in Ordnung sei, um diese Uhrzeit nach Hause zu gehen? Warum hatte er die Umgebung nicht sorgfältiger durchkämmt, an mehr Türen geklopft und so weiter? Warum hatte er die Katze nicht verfolgt? Vielleicht hätte er den Schuh im Müllcontainer gefunden – oder im Zimmer des Mädchens. Vielleicht hätte er da auch die Geräusche gehört, die sie gemacht hatte. Die arme Ceils. Was hatte er ihr angetan? Was hatte sie durchgemacht?
Eine psychologische Betreuerin – knapp einsneunzig und mit den Überresten eines Kinderfrühstücks auf ihrer Bluse – hatte wenige Stunden, nachdem Celias Wunden genäht und verbunden worden waren, bei Greg vorbeigeschaut. Er werde es überstehen, hatte sie gesagt. Er werde die nötige Kraft finden. Und Celia werde es auch überstehen. Die Zeit werde ihre Wunden heilen.
»Aber was ist mit den Narben in ihrem Innern?«, wollte Greg wissen.
»Ihre Liebe – und die Umarmungen ihrer Söhne – werden auch die inneren Wunden heilen lassen«, versicherte die Betreuerin. »Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus. Sobald etwas passiert, werden wir Sie rufen.«
***
Die Jungs waren zu Hause, zusammen mit allen vier Großeltern, einer Tante und einem Onkel. Eigentlich sollten sie fernsehen, aber in Wahrheit sahen sie nur auf das Telefon. Wenn es klingelte, dann bedeutete das, dass Celia entweder tot oder lebendig war. Das Fernsehen hatte zwar keinerlei Macht über den Ausgang der Ereignisse, aber das hinderte die Doctor Who-Folge Das Mädchen im Schrank nicht daran, nach Kräften aus dem Lautsprecher zu plärren. Doch dieser Versuch, die Anwesenden von ihren Selbstgeißelungen abzulenken, war völlig vergebens.
Sam kniff sich ins Bein: als Strafe dafür, dass er nicht gewusst hatte, wo sie war, dass er wütend auf sie gewesen war, weil sie nicht nach Hause kam, und weil er ihr die Schuld an ihrem Verschwinden gegeben hatte.
Celias Mutter knirschte mit den Zähnen: als Strafe dafür, dass sie nicht angeboten hatte, Celia dienstags immer mit dem Auto von der Arbeit abzuholen, obwohl sie zu dieser Tageszeit sowieso immer schon wach war.
Celias Vater wünschte, er hätte den beiden finanzielle Unterstützung bei der Tilgung ihrer Hypothek angeboten. Dann hätte Celia nicht arbeiten müssen.
Ihr Bruder fragte sich, warum er ihnen nicht seinen alten Volvo überlassen hatte, den er nie benutzte und seit einer Ewigkeit verkaufen wollte. Sie hätte das Auto für ihre Fahrten zum Hospiz benutzen können.
Ihre Schwägerin hätte Greg bei der Befragung der Nachbarn helfen können, als dieser sie nach dem Ende der polizeilichen Suche um Hilfe gebeten hatte. Warum hatte sie ihm nur gesagt, dass er zum Wohl der Jungs über die Sache hinwegkommen müsse?
Viele Menschen machten sich ähnliche Vorwürfe und nahmen eine wabernde Schuld auf sich, die nicht die ihre war:
Kriminalinspektorin Vera Oh, deren eigene gescheiterte Ehe sie Gregs dauernde Versicherungen hatte anzweifeln lassen, dass er und Celia eine glückliche Ehe führten.
Die einfachen Streifenpolizisten, die die Straßen abgesucht und dabei den Laufschuh im Müllcontainer übersehen hatten.
Die Nachbarin, die ausgesagt hatte, dass Celia in Gegenwart ihrer Kinder »Arschloch« gesagt habe.
Die Kollegin, die Celias Klagen über ihr nicht mehr so schwunghaftes Sexleben wiedergegeben hatte.
Der Typ, der gleich nach ihrer Entführung über die Queensway Terrace gegangen war. Er hatte einen Mann gesehen, der unter einem Honda Jazz nach etwas gesucht hatte. Warum war er damit nicht zur Polizei gegangen?
Der Hotelier hinter dem besetzten Haus, der gesehen hatte, wie sich – noch vor dem Eintreffen der Hausbesetzer – mitten in der Nacht etwas im Garten bewegt hatte.
Und so ging es weiter. Überall Schuld. Außer dort, wo sie hingehörte.
***
Greg hätte der Psychologin gern Glauben geschenkt. Er hatte sich sogar einzureden versucht, dass es vielleicht wahr sei und sie wieder miteinander glücklich werden könnten – wenn sie nur aufwachen und ihn anlächeln würde.
»Ich kann nicht einfach nach Hause gehen«, sagte Greg der Psychologin. »Ich muss bei ihr sein, wenn sie aufwacht.«
»Wenn sie aufwacht, dann werden Sie sie mit dieser Frisur zu Tode erschrecken«, sagte die Psychologin. Greg warf einen Blick in den kleinen Spiegel. Sie hatte recht: Sein Haar beanspruchte mehr Platz als sein Kopf und ragte in dicken Büscheln in die Luft.
»Gehen Sie nach Hause, duschen Sie sich und ruhen Sie sich ein wenig aus. Wir rufen Sie an.«
Das Telefon vor Celias Zimmer klingelte. Eine dicke Krankenschwester ging an den Apparat. »Nein, unverändert«, sagte sie mit walisischem Akzent.
Greg sah die Psychologin an und seufzte. Es schien, als würde die Polizei fast genauso begierig wie er darauf warten, dass sie zu Bewusstsein kam. Sie konnte den Täter identifizieren. Sie waren sich ziemlich sicher, dass sie den Kerl erwischt hatten, aber es war Celias Aussage, die den Ausschlag geben würde. Greg dachte an den Mann, der seiner Frau das alles angetan hatte. Das Arschloch hatte ihm aufzustehen geholfen, als er in all dem Blut ausgerutscht war. Greg hatte sich sogar bei ihm dafür bedankt, dass er den Krankenwagen gerufen hatte. Der Kerl hatte einen militärisch kurzen Haarschnitt und trug Boxershorts. Ein tätowierter Muskelprotz. Hatte er große Augen? Diese Bronwyn hatte doch ausgesagt, dass Celias letzte Worte »große Augen« gewesen seien. Waren seine Augen groß? Er erinnerte sich nicht mehr.
»In Ordnung«, sagte Greg zu der Psychologin. »Ich gehe nach Hause und ruhe mich ein bisschen aus.«