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Scheiße. Das war wirklich ärgerlich. Er war fast ein bisschen gereizt. Wenn sie alle nur etwas früher schlafen gegangen wären, statt diese zweite Pille einzuwerfen, dann hätte er die Sache in die Hand genommen und sich danach aus dem Staub gemacht.
Er wollte schon seit einiger Zeit weg. Vielleicht mit der Kleinen im Netzballröckchen. Aber statt mit ihr weiterzuziehen, hatte er neben ihr stehen und auf diese Frau hinabschauen müssen, mit der er so was von fertig war. Wie peinlich war das denn, sich als Frau so gehen zu lassen?
Er war ziemlich gereizter Stimmung, als die anderen kaum das Kotzen unterdrücken konnten und zugleich die blutenden Wunden des Mädels zu stillen versuchten, Krankenwagen und Polizei riefen und den Leuten auf der anderen Straßenseite Bescheid gaben. Na gut, na gut. Sie hatte sich also allem Anschein nach in Stücke geschnitten, um rauszukommen. Sie war nackt und am ganzen Körper braun und rot. Jetzt kriegt euch mal wieder ein.
Er war sogar noch gereizter angesichts ihrer Reaktion auf den anderen Raum. Das war doch nichts, weswegen man in Ohnmacht fallen musste: zwei Mädels, von Kopf bis Fuß in Frischhaltefolie eingewickelt, die Augen wie ein knackiger Salat aus der Umhüllung starrend. Ihre Schuld. Er hatte nie vorgehabt, sie umzubringen, aber dann hatten sie sich derart gehen lassen … unglaublich. Mit dem Einwickeln hatte er ihnen im Grunde einen Gefallen getan. Immer noch besser, als völlig durchnässt und verstunken dahinzuvegetieren. Klar, es roch ein wenig, aber nicht so sehr, wie man hätte annehmen können, wenn man bedachte, wie lange sie da schon herumsaßen.
Er erinnerte sich, wie er als Junge krank gewesen war. Seine Mutter war einfach nicht nach Hause gekommen. Nicht einmal angerufen hatte sie, um ihm zu sagen, dass sie einen Mann kennengelernt hatte und eine Zeit lang wegbleiben würde. Damals hatte er sich wirklich schlecht gefühlt, hatte sogar überlegt, alle Pillen im Badezimmerschrank zu schlucken. Aber dann war diese Joggerin am Zimmer seines zwölfjährigen Ichs vorbeigekommen. Wo sie jetzt wohl war? Was konnte er nur tun, um sich ein wenig besser zu fühlen – nicht so, als ob er immer einen Mühlstein im Magen mit sich herumtragen würde?
Er war so müde. Als ob er ewig schlafen könnte.
***
Pete saß auf seinem Zementbett und dachte an seine letzte Festnahme in Australien. Das war auf dem Eyre Highway gewesen. Ein Polizeiauto hatte den geklauten Jaguar vier Stunden lang über die schnurgerade Straße verfolgt. Schließlich war Pete kurz vor Ceduna das Benzin ausgegangen. Bis das Polizeiauto aufholte und neben ihm hielt, hatte er zwei Zigaretten geraucht und einen Apfel samt Kerngehäuse verspeist.
»Tach auch«, hatte Pete den jungen Polizisten begrüßt.
Der junge Polizist hatte ihm nicht geantwortet.
Einige Wochen später hatte Pete seinen Stammsitz auf der Anklagebank eingenommen.
»Peter McGuire, Sie sind in achtzehn Fällen des Autodiebstahls, drei Fällen der gefährlichen Raserei, dreizehn Fällen der Widersetzlichkeit bei der Verhaftung und vier Fällen der Gewalt gegen die Polizei für schuldig befunden worden. Mir liegt ein Bericht über Ihre persönliche Vorgeschichte vor, und ich möchte ohne Umschweife zu meinem Urteil kommen.«
Der Richter hatte in dem Bericht geblättert.
»›Leiblicher Vater kaum bekannt … Mutter alkoholkrank … Von Waisenhaus zu Waisenhaus geschickt …‹ Für einen teilnahmsvollen Leser ist das eine anrührende Geschichte … Aber leider bin ich kein teilnahmsvoller Leser.«
Der Richter hatte den Kopf gehoben und Pete durchdringend angeschaut. »Ich fand es schon immer seltsam, dass Leute wie Sie vor zweihundert Jahren in dieses Land verbannt wurden. Da verstößt einer gegen das Gesetz, und zur Strafe wird er ins Paradies geschickt. Diesmal machen wir es andersherum: Ich schicke Sie zurück.«
»Was soll das heißen?«, fragte Pete.
»Ihr Vater ist Engländer.«
»Er ist ausgewandert, als ich ein Kind war.«
»Richtig. Um später nach Cambridge zurückzukehren … Haben Sie jemals einen Reisepass beantragt? Waren Sie jemals bei einer Feierlichkeit, wo die Nationalhymne gesungen wird und alle zu Tränen gerührt sind?«
»Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht«, hatte Pete erwidert.
»Und wie bedauerlich das für uns alle war.« Der Richter hatte gelächelt. »An Ihrer Stelle würde ich mir schon mal einen Regenmantel kaufen.«
Als sie Pete in seine Zelle zerrten, weinte er wie ein Baby.
***
Von den Handschellen abgesehen, verlief seine Reise fast wie Bronnys – bis hin zu den kostenlosen Drinks, die ihm die Stewardess zu seiner Überraschung brachte, nachdem seine Polizeieskorte eingeschlafen war. Selbst seine Ankunft ähnelte der von Bronny. Niemand holte ihn ab, nicht einmal ein Bewährungshelfer. Irgendwann saß er in einem kleinen Raum am Flughafen Heathrow, und bei ihm saßen: a) ein freundlicher schottischer Zollbeamter, der unübersehbar ein Fan des Glasgower Celtic-Teams war, und b) ein weniger freundlicher Beamter der Grenzkontrolle.
»Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, zurückzufliegen«, sagte der Grenzbeamte, als er Petes Handschellen öffnete.
Pete verließ die Ankunftshalle und blieb draußen im Regen stehen. Lange Zeit stand er da, starrte auf den grauen Parkplatz und in den grauen Himmel und wurde sehr, sehr nass.
***
Das war vor sechs Monaten gewesen. Seitdem hatte Pete einige Hebel in Bewegung gesetzt. Findig wie er war, hatte er fast auf Anhieb die Unterwelt von Bayswater aufgespürt und sich alle Papiere besorgt, die zu seiner Rückkehr nötig waren. Alles andere interessierte ihn nicht.
Sein erster Versuch war nicht besonders originell: Mit dem Verkauf von Einzelteilen aus dreiundsechzig gestohlenen Autos hatte er einen gefälschten australischen Reisepass und ein Qantas-Ticket finanziert.
Nach diesem Meisterstück hatte er einen Bewährungshelfer.
Beim zweiten Anlauf war er einfallsreicher gewesen. Gefälschter Aussie-Pass, Kurzzeitjobs auf verschiedenen Kreuzfahrtschiffen, dann drei Monate im Gefängnis Belmarsh für weitere Straftaten und Verstöße gegen die Bewährungsauflagen.
Nach seiner Freilassung setzte er sich mit dem freundlichen schottischen Zollbeamten in Verbindung (der mit dem Faible für die Celtics, den er bei seiner Ankunft kennengelernt hatte).
»Geben Sie sich als Fracht auf«, riet ihm der Beamte. »Ich kümmere mich um alles.«
»In einem Koffer?«
»Sarg. Großer Sarg. Ich bohre Luftlöcher rein und wickle die Leiche ein. Bunkern Sie ein paar Vorräte in dem Sarg, und in einundzwanzig Stunden sind Sie da.«
Pete hatte weder die zwei Riesen noch die Nerven, die für diesen Deal nötig waren, und so beschloss er, eine Pause einzulegen. Er besorgte sich ein paar Empfehlungsschreiben und bewarb sich erfolgreich auf eine Stelle, bei der er das einzige Können einsetzen konnte, über das er verfügte: Körperkraft. Und dann dachte er lange und intensiv über weitere Möglichkeiten seiner Heimkehr nach.
***
Komisch, dachte Pete, nachdem Bronny ihn mit den traurigen Augen einer Hintergangenen angeschaut hatte und aus dem Raum gelaufen war – plötzlich schien es völlig unwichtig zu sein, ob er wieder nach Hause zurückkehren konnte.
Etwas später hörte Pete vor seiner Zelle die Stimmen mehrerer Polizisten. Er stand auf und drückte sein Ohr fest gegen die Metalltür. Sie sagten, dass sie sich Sorgen machten. Dass es nicht ganz reiche, um ihn festzuhalten. Wenn die Frau aufwache, dann schon, meinte einer der Ermittler, aber im Moment sehe es so aus, als ob sie ihn freilassen müssten. Die Zeit laufe ihnen davon.
Pete richtete sich auf.
Sie würden ihn vielleicht freilassen müssen.