32

Alle sieben trugen Handschellen – Bronny, Cheryl-Anne, Fliss, Zach, Hamish, Pete und Francesco –, denn alle galten als verdächtig. Sie hatten in einer künstlichen Welt der Rucksäcke und Reisepassstempel gelebt, aber jetzt würde man sie mit der Realität konfrontieren. Zwei junge Frauen waren umgebracht worden, vielleicht sogar eine dritte, und zwar in ihrem Haus. Einem Haus, das bis unters Dach vollgestopft mit Drogen war. Fürs Erste waren diese heruntergekommenen, heimatlosen, familienlosen Reisenden die einzigen Mordverdächtigen.

Sieben …

Zach hatte man die Handschellen angelegt, während er noch auf die beiden jungen Frauen in Frischhaltefolie starrte. Er stand wie angegossen da, statuenhaft. Als man ihn aus dem Keller zerrte, schrie er und schlug um sich: Eine der jungen Frauen war seine Schwester, und er hatte sie zuletzt vor sechs Monaten am Flughaften Tullamarine gesehen. Damals hatte er in Torquay ein frühes Bad im Meer genommen und war dann in den Land Cruiser gesprungen. Seine Eltern hatten beim Abschied an Abfertigungsschalter 33 geweint, und als ihre hübsche Jeanie hinter der Automatiktür unter dem Schild »Abflüge international« verschwunden war, hatten sie sogar noch mehr geweint. Auf dem Nachhauseweg hatten sie Jeanie dreimal angerufen. Sie hatte in der Schlange vor der Passkontrolle gestanden, einen Kaffee an Flugsteig 11 getrunken, war ins Flugzeug gestiegen, ich mache jetzt besser Schluss, alles Liebe!

Sie hatten nicht vermutet, dass sie sich oft melden würde, aber als nach einigen Monaten überhaupt keine Anrufe mehr kamen, fingen sie doch an, sich ein wenig Sorgen zu machen. Freunde versicherte ihnen, dass das nicht nötig sei: Junge Leute, die für unbestimmte Zeit auf Weltreise gingen, riefen selten oder niemals bei ihren Eltern an. Wahrscheinlich gab es da, wo sie gerade war, keine Mobilfunkverbindung. Sie beherzigten den Rat ihrer Freunde und beruhigten sich wieder, vor allem, nachdem auch Zach beschlossen hatte, sich auf den Weg zu machen. Er würde sie aufspüren, ihr einen kleinen Klaps auf die Hand geben und ihr sagen, dass sie endlich mal zu Hause anrufen solle. Mensch, Jeanie!

Zach wusste, dass sie im Royal gewohnt hatte, und er war hocherfreut, als Francesco ihm sagte, dass er sich an sie erinnere.

»Ich glaube, sie wollte in einen Kibbuz fahren … Immer mit der Ruhe, die meldet sich noch.«

Also blieb er ruhig. Er fand Gefallen an dem Lebensstil der anderen Reisenden im Royal, spielte Gitarre, rauchte Pot, nahm Kokain und Ecstasy, legte viele Mädels flach und vergaß völlig, seine Eltern anzurufen. Er musste lachen, wenn er daran dachte, wie besorgt er gewesen war. Jetzt wusste er, wie die Sache lief: Genau wie er war sie in die »Reisezone« eingetreten, ein übernatürliches Schwarzes Loch, wo man vergisst, dass man eine Familie hat, weil die Menschen, mit denen man sich umgibt, besser als jede Familie sind: viel interessanter und viel interessierter. Und man vergisst, dass man bereits ein Zuhause hatte, weil der Raum, den man sich mit seiner neuen Familie teilt, ganz egal wie und wo, das eigene Zuhause ist.

Aber Jeanie war nicht in Israel. Sie war in mehrere Lagen Frischhaltefolie eingewickelt.

Kurz nach seiner Ankunft im Polizeirevier wurden Zach die Handschellen abgenommen. Er war kein Verdächtiger mehr, er war ein Opfer.

Sechs …

Normalerweise, dachte Vera Oh, kam es nicht vor, dass Frauen andere Frauen entführten, vergewaltigten, folterten und umbrachten. Cheryl-Anne hätte jedoch, ähnlich wie die Serienmörderin Mira Hindley, mit einem Mann zusammenarbeiten können. Die Polizei erwog diese Möglichkeit eine Zeit lang, vor allem in Anbetracht ihrer aggressiv rassistischen Einstellungen und der Tatsache, dass sie ihr dreijähriges Kind einfach so in einem anderen Land zurückgelassen hatte, um in London auf die Kacke zu hauen.

»Was für ein Typ Frau ist sie?«, fragte Vera Oh ihre Kollegen, nachdem sie Cheryl-Anne aus Wagga Wagga verhört hatte. »Irgendwie maskulin, oder?«

Aber Cheryl-Anne war auch der Typ Frau, der Tagebuch führt. Sie hatte ihre Aktivitäten in aller Ausführlichkeit festgehalten, hatte Kassenscheine und Fahrkarten auf die Seiten geklebt und war zu oft an ganz anderen Orten gewesen, um als zweite Mira Hindley an irgendeinem der fraglichen Verbrechen beteiligt gewesen zu sein.

Cheryl-Annes Handschellen wurden kurz nach denen von Zach geöffnet.

Fünf …

Was Fliss betraf, so war sie erst nach Celias Entführung in London angekommen. Ohnehin war sie nichts als ein flennendes Häufchen Elend, hatte Angst vor der Dunkelheit und konnte kein Blut sehen.

Vier …

Hamish war zu der Zeit, als Celia verschwunden war, in Ballarat in Australien gewesen.

Drei … Zwei … Eins …

Dann kam die Reihe an Pete, und nachdem sein Name durch den Computer gelaufen war, verzichteten sie darauf, Francesco und Bronny zu überprüfen, denn weder hatte Francesco den größten Teil seines Erwachsenenlebens im Knast verbracht, noch hatte Bronny eine Ledermaske unter ihrer Matratze versteckt.

Pete schon.

Die dunkle Treppe
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