25

»Bobby!«, rief der Kleine mit der niedlichsten Stimme, die ich in meinem ganzen Leben gehört hatte. Wir standen im Garten hinter dem Haus. Pete hatte seine Taschenlampe geholt (in seinem Zimmer schien sich alles zu befinden, was ein Mensch jemals braucht), aber von der Katze war weit und breit nichts zu sehen.

»Bobby!«, rief der Ältere, Ernstere und stieß gegen den Eukalyptusbaum, den Pete mir geschenkt hatte. Die Erde in dem gelben Topf war knochentrocken. Ich füllte ein Glas und gab der Pflanze etwas Wasser.

»Bobby!«, schrie Greg.

Wir durchkämmten den ganzen Garten, aber wir fanden keine Spur von Bobby.

Johnny saß auf meinem Schoß, während Pete Toastscheiben mit Vegemite bestrich.

»Igitt!«, sagte Sam, als er die braune Masse auf seinem Toast sah. »Das sieht ja wie Kacke aus!«

»Euer Flur riecht nach Kacke«, sagte Johnny schläfrig.

»Pst!«, machte sein älterer Bruder. »Sei nicht so unhöflich.«

Johnny schlief in meinen Armen ein. Ich habe mich eigentlich nie besonders für Kinder interessiert, habe keine Nichten und Neffen oder schnuckligen Cousins. Deshalb überraschte mich das Gefühl, das mich durchströmte, als ich dieses warme Bündel Kuschligkeit in meinen Armen spürte. Es war schön. Überrascht stellte ich fest, dass ich Pete ansah, während er einen Toast ohne Vegemite machte. Er lächelte. Wie würde es sich für uns anfühlen, zusammen zu sein und eine Familie zu haben?

Ich überließ Pete den Abwasch und trug den schlafenden Johnny vorsichtig über die Straße nach Hause. Dort legte ich ihn in das große Elternbett und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann lächelte ich Sam an, der im Dunkeln neben seinem Bruder lag und intensiv an die Decke starrte.

»Keine Sorge, er kommt zurück«, sagte ich.

»Du weißt es nicht, oder?«

»Was?«

»Mach das Licht an«, befahl Sam.

Johnny schlief tief und fest, und Greg war im Badezimmer. Ich schaltete das Licht ein.

»Dreh dich um.«

Ich tat, wie mir geheißen, und fragte mich, was außer einer Wand oder einem Kleiderschrank hinter mir schon sein sollte.

Eine Wand war da, und ein Kleiderschrank auch … und beide waren übersät mit Zeitungsausschnitten, Stadtplänen, Notizen und Fotos. Ein Gesicht schaute mich an, ein schönes, glückliches, lächelndes Gesicht.

»Das ist meine Mami«, sagte Sam und zeigte auf den Ausschnitt, auf dem »VERMISST« stand, dann auf den mit der Überschrift »HABEN SIE UNSERE MAMI GESEHEN?«, dann auf den, der sagte: »POLIZEI BEENDET SUCHE«.

Ich schlug die Hand vor den Mund, setzte mich auf die Bettkante und schaute mir die Fotos an. Hinter mir hatte Sam sich aufgesetzt und rückte näher an mich heran.

Ich hörte, wie Greg das Schlafzimmer betrat, spürte seine Präsenz und dass er mich beobachtete. Dann drehte ich mich zu Sam um und umarmte ihn.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Das wusste ich nicht.«

»Sie hat uns nicht mehr lieb«, sagte Sam.

Ich hielt seinen Kopf in den Händen und schaute ihn an. Er hatte nicht die Augen eines Siebenjährigen. Seine Augen waren gerötet, traurig, müde. Obwohl einer seiner Schneidezähne fehlte, sah er wie ein leidgeprüfter Erwachsener aus.

»Natürlich liebt sie euch«, sagte ich.

»Wenn sie mich liebt, warum hat sie dann so was getan?«

Er saß im Schneidersitz auf dem Bett, und seine Augen bettelten um eine Antwort.

»Manchmal geschehen Dinge, die wir nicht kontrollieren können.«

»Das sagen alle.«

»Weißt du was? Schreib ihr doch einfach und frag sie. Warum sagst du ihr nicht, dass du sie vermisst?«

Keine Ahnung, wo ich das herhatte. Aber mir schien, dass er seinen Schmerz tief in sich verschlossen hatte und dringend etwas davon herauslassen musste.

»Niemand schreibt heute noch Briefe, und wo soll ich den auch hinschicken?«

»Glaubst du an den Weihnachtsmann?«

»Ich bin doch nicht blöd.«

»Ich weiß, aber glaubst du an den Weihnachtsmann?«

Er schwieg einen Moment.

»Ja.«

»Schreibst du ihm?«

»Ich schicke ihm E-Mails.«

»Und ich wette, dass deine Mama eine E-Mail-Adresse hat.«

Ich sah Greg an, der immer noch in der Tür stand. Er lächelte und schaltete den Computer in der Ecke an.

»Die Adresse ist ceils.maher@hotmail.com«, sagte er.

***

Während Sam auf die Computertastatur einhackte, trank ich in der Küche eine Tasse Tee mit Greg. Er erzählte mir von der Suche, die von Anfang bis Ende inkompetent durchgeführt worden sei. Tagelang hätten sie keine Hunde eingesetzt, die Medien nicht eingespannt und Flug- und Fährhäfen nicht überprüft. Nicht einmal die nähere Umgebung hätten sie richtig durchkämmt.

»Die meiste Zeit haben sie damit verbracht, mich davon zu überzeugen, dass sie sich umgebracht hat oder mit einem anderen Mann durchgebrannt ist.«

»Und das kommt nicht infrage?«, fragte ich.

»Ich habe sie vergöttert. Sie hat mich vergöttert. Wir waren glücklicher, als das Gesetz erlaubt.«

***

Als wir unseren Tee ausgetrunken hatten, gingen wir ins Schlafzimmer und schauten nach Sam. Er lag schlafend im Bett. Greg sah, dass er seiner Mutter eine E-Mail geschickt hatte. Er öffnete sie, und wir lasen gemeinsam:

To: ceils.maher@hotmail.com

Subject: No subject

Liebe Mami,

Warum hast du uns verlassen? Du bist eine verdammt böse Hexe. Ich hasse dich, und das ist alles deine Schuld.

Ich vermisse dich,

Sam

***

Als ich in das besetzte Haus zurückging, wurde mir klar, dass ihr Haus im Nebel lag, weil sie nicht wussten, was geschehen war – ein viel schlimmeres Nichtwissen als meines, denn im Gegensatz zu mir blieb ihnen keine andere Wahl. In diesem Moment beschloss ich, gleich am nächsten Morgen das Krankenhaus anzurufen.

Die dunkle Treppe
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