24

Ich war wieder nüchtern. Wer waren all diese Menschen, all diese Männer? Was zum Teufel tat ich hier?

Auf der Queensway Terrace blieb ich bei einem Münztelefon stehen. Ursula akzeptierte die Übernahme der Gebühren. Ihre Stimme traf mich mit der Wucht eines Frontschutzbügels bei einer Kollision. Ich weiß nicht mehr genau, wie unsere Unterhaltung ablief, nicht mal, ob man das Gespräch überhaupt als Unterhaltung bezeichnen kann, aber die Kernaussage lautete, dass ich keine Idiotin sei, sondern eine wunderbare junge Frau, die möglicherweise doch nicht krank sei, und selbst, wenn ich krank wäre, würde ich das bewältigen. Vermutlich sei es besser, wenn ich mich der Sache stellte … Sie hätten nämlich erst Anfang dieser Woche einen Anruf vom Krankenhaus bekommen. Keine Angst, man habe ihr nichts gesagt. Als ich sie anflehte, über all das nicht mehr zu reden, sagte sie Okay, und dass gegen ein bisschen Spaß und Zeitvertreib nichts einzuwenden sei, sofern es tatsächlich das sei, womit ich mich beschäftige, und nicht etwa damit, mich den ganzen Tag elend zu fühlen.

Ich bat sie, nach London zu kommen, aber sie machte gerade ihre Abschlussprüfungen. Nur noch ein Examen, sagte sie, dann sei sie Ärztin. »Und überhaupt«, sagte sie, »wieso sollte ich nach England fahren wollen? Da ist es doch viel zu zahm und grün für mich. Ich hab 5000 Öcken gespart. Wenn ich hier fertig bin, besorg ich mir’n VW-Bus und fahr in den Katherine-Gorge-Nationalpark.«

Papa kam ans Telefon und sagte so ziemlich alles von dem, was Ursula gesagt hatte, nur mit tieferer Stimme. »Du kannst mich jederzeit anrufen«, sagte er. »Wir haben dich lieb. Und wir sind froh, dass du deinen Spaß hast. Wir vermissen dich, Bronny, du bist ein tolles Mädchen. Schau doch mal in dein E-Mail-Postfach. Du bist eine Katastrophe, was das angeht.«

Als ich aufgehängt hatte, tauchte Pete hinter der Telefonzelle auf. Er legte seinen Arm um mich und begleitete mich ins Haus. Dort brachte er mich auf mein Zimmer und bettete mich auf meine Matratze. Dann setzte er sich neben mich und hörte zu, als die ganze Geschichte aus mir herausbrach.

»Huntingtonsche Krankheit«, wiederholte Pete.

Ich hasste diesen Namen.

»Fünfzig–fünfzig heißt nicht ›höchstwahrscheinlich‹.« Er klang wie Papa.

»Was soll ich mit meinen Leben anfangen? Ich darf keine Kinder kriegen. Das kann ich keinem Kind antun. Ich darf mich nicht verlieben. Wie könnte ich, wenn alles, was ich einem Mann zu bieten habe, das Vergnügen ist, beim Sterben meine Hand zu halten?«

Pete antwortete nicht mit Worten, aber mit einer schönen, langen Umarmung.

»Ich frage mich einfach, wozu ich gut bin. Wozu bin ich gut?«

»Weißt du, was ich glaube?« Er strich mir das Haar aus den Augen. »Ich glaube, es ist die Ungewissheit, die dich auffrisst.«

Wir schwiegen einen Augenblick lang, ehe wir uns küssten, und als wir es taten, vergaß ich alle Regeln, die ich mir vor dem Waschbecken neben unserem Klo in Kilburn ausgedacht hatte. Vorteilhafte Winkel der Lippen und Zähne und Zungen und die richtigen Bewegungen … das war doch alles scheißegal. Es passierte einfach. Und vielleicht hätte ich es nie enden lassen, wenn nicht die Türklingel geläutet hätte.

Ich schaute auf Petes Armbanduhr. »Halb drei?« Widerwillig löste ich mich aus seinen Armen und ging zur Haustür. Es war Greg, der Mann von der anderen Straßenseite. Sein kräftiges braunes Haar war so wild zerzaust, als ob jemand ihn daran gepackt und im Schlaf hin und her geschleudert hätte. Seine beiden Jungs waren bei ihm, in Morgenmänteln und Hausschlappen: Johnny, schläfrig und niedlich; Sam, ernst und zornig.

»Es tut mir unheimlich leid«, sagte Greg. »Die Jungs sind schon die ganze Nacht völlig durch den Wind, und dann sahen wir, dass bei Ihnen Licht brennt … Es geht um Bobby … Er ist nicht nach Hause gekommen, und wir haben überlegt, ob er vielleicht wieder in Ihrem Garten ist.«

Die dunkle Treppe
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