22
Es hörte auf. Als Fliss endlich auf meinen Ruf »Feuer!« reagiert hatte und in mein Zimmer rannte, war der Rauch schon wieder verschwunden. Wie durch Zauberei.
»Muss unsere Wasserpfeife gewesen sein, oder vielleicht hat jemand gegrillt«, sagte sie. Ich schnupperte erneut an den Dielen, aber da war keine Spur mehr von Rauch oder Hitze. Auch im Raum nicht. Meine Güte, es reichte offenbar nicht mehr, mit den Drogen aufzuhören. Ich musste dringend zum Psychiater.
»Du musst nicht zum Psychiater«, sagte Fliss und setzte sich neben mich auf die Dielen. Geschickt schnipste sie mir eine ihrer Zauberpillen in den Mund. »Du musst dir höchstens mal was anziehen.«
Ich sah dahin, wo sie hinsah. Herrje, ich war völlig unbekleidet. Minutenlang hatte ich mich nackt vor einem anderen Menschen gespreizt, mein Gesicht gegen den Boden gepresst und wie eine Verrückte an den Dielen herumgeschnüffelt. Eine splitterfasernackte Verrückte.
»Sexlektion Nummer 34b«, sagte Fliss, »… und die ist sehr, sehr wichtig …«
Ich hatte meine Blöße mit dem Schlafsack bedeckt. Auch wenn Fliss’ Sexlektionen sich bislang als völlig nutzlos erwiesen hatten, lauschte ich aufmerksam.
»Du darfst niemals, niemals, niemals … nach Scheiße stinken.«
Ich war baff. Roch ich wirklich nach Scheiße? Warum hatte mir keiner etwas gesagt? »Der Geruch von Feuer ist eine willkommene Abwechslung«, sagte Fliss, öffnete das Fenster und versprühte etwas Parfüm in der Luft. Sie vertraute mir an, dass der Geruch aus meinem Zimmer bereits bis in den Flur vorgedrungen sei, und dass ich in Erwägung ziehen solle, in Zukunft ganz auf Erdnussbutter zu verzichten. Sie sagte außerdem, dass es mir an Überzeugungskraft mangele.
»Ein Mädchen muss sich bloß entscheiden, dass es Sex haben will, und dann hat es ihn. Ganz einfach. Willst du?«
»Ja.«
»Dann such dir jemanden aus und mach es mit ihm. Noch heute Nacht.«
»In Ordnung«, sagte ich. Dann schrubbte ich mich unter der Dusche so kräftig ab, dass ich fast zu bluten begann. Ehe ich loszog, versprühte ich noch einmal großzügig Fliss’ Parfüm im Raum und warf den Kübel Erdnussbutter (Gastronomiegröße) raus, den Hamish mir geschenkt hatte.
***
Eine Stunde später teilten sich einige von uns ein Taxi zum Wolf Club. Als das schwarze Auto über die Ladbroke Grove sauste, begann ich allmählich, die Vorkommnisse im Haus zu vergessen. Die vorbeihuschenden Londoner Attraktionen zauberten ein Strahlen auf mein Gesicht: all die Menschen verschiedener Hautfarbe mit ihren ganz unterschiedlichen Lebenstilen, die rasch über belebte Straßen gingen … Ich liebte London. Ich liebte alle, die im Taxi saßen, und die disziplinierte Warteschlange vor dem Club liebte ich auch. Ich liebte sogar die Art, wie Cheryl-Anne beim Tanzen breit grinste, obwohl sie ein Kind hatte, das 12 000 Kilometer weit weg war, und obwohl sie mehrfach den Ausdruck »diese dreckigen Aborigines« gebraucht hatte. Ich liebte es, wie Fliss sich binnen zehn Sekunden nach unserem Eintreffen einen Typen schnappte, der nicht Zach war. Und wie Zach das überhaupt nicht zu jucken schien. Und ich liebte meine Männer – alle drei tanzten stundenlang mit mir: Pete linkisch und unbeholfen, über jeden Schritt nachdenkend und oft mit den Fingern in die Luft pieksend; Francesco elegant und eigenwillig, mit mir tanzend, ohne mit mir zu tanzen; und Hamish, hübsch und ganz in seinem Element, immer lächelnd und in völligem Einklang mit dem Rhythmus der Musik. Obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, meine Unschuld an keinen anderen als Francesco zu verlieren, sprachen Licht und Musik mit tagheller Klarheit zu mir: Ich konnte meine Jungfräulichkeit an jeden dieser Männer verlieren, weil ich um Mitternacht, als Schluss mit dem Tanzen war, jeden von ihnen mit gleicher Innigkeit liebte.
***
Es war an der Zeit, sich in einer stillen Ecke des Clubs zusammenzurotten und tiefe Blicke auszutauschen. Cheryl-Anne hatte ihr Glück bei Pete schon früher versucht. »Der ist wohl ein bisschen zurückgeblieben«, hatte sie nach mehreren heißen Tänzen gesagt, bei denen sie einmal sogar seinen Bizeps abgeschleckt hatte. Pete hatte sich ihr still entzogen und sie gefragt, ob sie ein Glas Wasser wolle. Als sie verneinte, sagte er: »Ich schon. Könntest du es mir holen?« Cheryl-Anne hatte ihre Haare in den Nacken geworfen und sich auf die Suche nach einem Paar Bizeps gemacht, das ihre Zungenakrobatik mehr zu schätzen wusste. Zach stand mit der Gitarre irgendeines anderen Typen auf der Bühne. Fliss knutschte mit drei Männern herum und brach schließlich mit einem von ihnen zu einem Spaziergang auf.
»Wie spät ist es?«, fragte ich Francesco, dessen Stirn stark glänzte. »Mitternacht«, sagte er. »Kaum zu glauben, was?«
Ich antwortete nicht. Es war ja auch nicht nötig. Wir alle wussten, dass es ein unglaubliches und erstaunliches Kunststück der Zeit war, dass die Uhr tatsächlich schon Mitternacht zeigte.
»Wie spät ist es?«, fragte ich Francesco einen Augenblick später.
»Mitternacht«, sagte er.
»Wahnsinn!«
»Ihr seid ja völlig besoffen«, ließ Pete sich vom hohen Ross des Drogen-Abstinenzlers vernehmen.
Aus dem Anstarren wurde Anfassen, als Francesco mein Gesicht zu streicheln begann. Ich liebte Francesco. Als ich sein Streicheln erwiderte, fiel mir auf, dass sein Gesicht schweißnass war. Petes Gesicht fühlte sich rauer an, männlicher. Das von Hamish war ein bisschen seltsam … wie Styropor. Mein Gesicht war weich und hübsch, darin stimmten alle überein.
Wir gingen abwechselnd Getränke holen. Francesco bestellte echten Champagner. Hamish bestellte Wodka mit Limonade. Ich bestellte Rotwein und Tonic mit einem Spritzer Bailey’s (für die richtige Farbe und Textur). Pete bestellte Wasser. Mein Gebräu war nach allgemeiner Übereinkunft das Schlimmste, was jeder von ihnen jemals getrunken hatte.
***
»Ich bin Jungfrau«, sagte ich, als wir zu viert im Taxi nach Hause fuhren. »Ich habe versucht, meine Unschuld an Francesco zu verlieren, aber der wollte sie nicht haben, und jetzt läuft sein Optionsrecht aus.« Ich steckte den Kopf aus dem Fenster. London fuhr mir durchs Haar. Ich zog den Kopf wieder ein und schaute meine Jungs an.
»Warum willst du mich nicht ficken, Francesco?«
»Ich bin eine männliche Schlampe.«
»Aber das ist doch perfekt.«
»Ich bin im Schlampenmodus: Bumm-bumm, verpiss dich. Dich habe ich näher kennengelernt, und ich ficke nicht mit Leuten, die ich näher kenne … zu viel Verantwortung.«
»Warst du mit jemand anders zusammen, seit wir uns kennengelernt haben?«
»Lass mal nachdenken … ja.«
»Nein!«
»Fast jede Nacht.«
»Nein!«
»Doch.«
»Ich bin so blöd. Fliss sagt, dass ich blöd bin. Fliss sagt, dass ich endlich die Realität erkennen und mich stärker schminken soll, weil das alles ändern könnte. Fliss sagt, dass ich mir nur jemanden aussuchen und es mit ihm treiben muss, einfach so, weil ich eine Frau bin. Also … was ist mit dir, Hamish? … Oder Pete … und Pete … und Francesco. Ach, ich kann mich einfach nicht entscheiden. Ich werde schon für jeden von euch eine Stelle finden!«
»Halt den Mund«, sagte Pete.
»Ich will doch bloß ficken.«
»Wenn du nicht endlich den Mund hältst, lasse ich den Fahrer anhalten.«
»Was ist bloß los mit euch Kerlen? Ich biete euch eine echte Jungfernfahrt mit ohrenbetäubendem Gruppenfick an!«
Pete ließ den Fahrer anhalten, öffnete die Tür, schob mich aus dem Auto und machte die Tür hinter mir zu. Die beiden anderen Jungs schienen zu kichern, als ich offenen Mundes am Straßenrand stand. Ich stand immer noch an derselben Stelle, als das Auto fünfzig Meter weiter anhielt und Pete ausspuckte. Er kam auf mich zu, und das Taxi fuhr weiter.
»Was ist bloß mit dir los?«, schrie ich, als er näher kam.
»Du bist total besoffen, Bronwyn. Du hast keinen Schimmer, was du redest.«
»Leck mich.«
»Du hast dich gerade drei Männern gleichzeitig angeboten.«
»Na und?«
»Hör einfach auf, das Wort ficken zu benutzen.«
Ich ging so schnell ich konnte die dunkle, abfallübersäte Straße entlang und murmelte das F-Wort, bis es keinen Sinn mehr ergab. Mein Hochgefühl war verebbt, und jetzt liebte ich nicht mehr alles so sehr. Scheißkerl, mich derart zu erniedrigen und mir den Abend zu versauen. Er ging zwei Schritte hinter mir, und wie schnell ich auch lief, ich wurde ihn einfach nicht los. Drei Häuserblocks weiter blieb ich stehen und drehte mich abrupt um.
»Warum will mir niemand die Jungfräulichkeit nehmen? Bin ich hässlich?«
Pete blieb stehen. »Nein.«
»Dann bin ich also doof?«
»Francesco steht auf ausgefallene Sachen – öffentliche Orte und so. Er hat mir erzählt, dass er es letzte Nacht auf der Damentoilette im Einkaufszentrum Whiteley mit dem Mädel aus dem Dönerladen getrieben hat. Nach eurem öffentlichen Kuss im besetzten Haus ist ihm vermutlich klar geworden, dass so was nicht dein Ding ist.«
»Ich bin doof.«
»Manchmal, aber meistens bist du einfach traurig. Ich denke, du versuchst glücklich zu sein, aber ich bin mir nicht sicher, ob es funktioniert. Was geht in diesem Kopf vor?«
»Nichts.«
»Hast du etwas getan, wofür du dich schämst?«
»Was? Nein.«
»Gibt es etwas, das dir Angst macht?«
»Nein!«
»Du bist pausenlos zugedröhnt, seit du hier bist. Du hast nichts unternommen, hast dir nichts angeschaut.«
»Ich war in Oxford.«
»Um ins Pub zu gehen.«
»Hau ab!«
»Was verheimlichst du uns? Wovor hast du Angst? Wer bist du?«
»Wer bist du, Mr Pete?«, fragte ich. Die Glückswelle war wieder da, dieses schmusige, schwimmende Hochgefühl, das die zweite Pille einem gab.
»Ich bin Peter McGuire, vierundzwanzig Jahre alt, und komme aus einer Kleinstadt in der Nähe von Adelaide. Meine Mutter ist Alkoholikerin. Mein Vater ist Engländer. Ich bin in dich verliebt.«
»Ich bin auch in dich verliebt«, sagte ich und streichelte sein raues Gesicht.
»Nein, nicht drogeninduziert. Du bist wie ein Zuhause für mich.«
»Oh! Ich glaube auch, dass du ein Zuhause bist.«
»Verdammt, Bronny!« Aus irgendeinem Grund ärgerte Pete sich über mich. Er machte sich eingeschnappt davon, der komische Kerl, und nachdem ich mich zusammengekratzt hatte, endete der Abend damit, dass ich der kantigen Silhouette seiner Schultern durch die Nacht folgte.