19

Sosehr Celia die Vergewaltigung angewidert hatte, erschien sie ihr doch fast bedeutungslos. Sie hatte vor so langer Zeit die Herrschaft über ihren Körper verloren, und ihr Verstand war so klar von ihrer Physis abgespalten, dass sie kaum mit den Wimpern zuckte, als er es endlich geschafft hatte, hart zu werden. Als er sie hochhob und sie, in ihre Nase schnaufend, gegen die Wand presste, dachte sie nur: Das bin nicht ich. Sie befand sich an einem völlig anderen Ort.

Das Ganze hatte sogar eine positive Seite: Sein jämmerliches Geficke hatte ihn nachlässig gemacht. Obwohl die Knoten so sorgsam und professionell wie eh und je geschlungen waren, hatte er ihr die Hände doch weniger fest vor dem Körper zusammengebunden. Die Kette hatte er auch diesmal nicht am Boden befestigt. Ihr Füße waren weniger fest zusammengezurrt, sodass sie strampeln und mit dem Stuhl fast nach Belieben hin und her ruckeln konnte. Und das Seil war wirklich dürftig um ihren Oberkörper geschlungen: Zwischen ihrem Rücken und der Stuhllehne klaffte ein mehr als zwei Zentimeter breiter Spalt.

Kaum dass er sich die Treppe hochgeschlichen und den Keller verlassen hatte, wurde sie von positiven Gefühlen fast überwältigt. Mit frei beweglichen Fingern, wackelnden Zehen, einem Vorhängeschloss und einer Fahrradkette lag ihr quasi die Welt zu Füßen.

***

Celia teilte ihre Tage in Abschnitte ein. In der ersten Schicht rieb sie die Seile in der Hoffnung, dass sie dadurch mürbe würden. Die Seile waren einen halben Zentimeter dick, aus weißem Nylon – und absolut unnachgiebig. Celia rieb nach Kräften mit Händen und Beinen, drückte sich gegen Wand, Stuhl, Rohr und Tisch, aber die Knoten hielten, und die Seile schienen völlig resistent gegen Abrieb und Dehnung zu sein.

In ihrer zweiten Schicht versuchte sie, trotz ihrer Fesseln die Treppe zu erklimmen. Sie ruckelte mit dem Stuhl vor die unterste Stufe und warf sich so lange nach vorn, bis ihr Kinn auf der dritten Stufe landete. Dann versuchte sie, die Knie auf die erste Stufe zu platzieren und sich unter Zuhilfenahme von Kinn und Knien langsam nach oben zu kämpfen. Letztlich bestand ihr Hauptziel nur noch darin, aus dieser Ausgangsposition wieder herauszukommen. Der Plan selbst erwies sich als undurchführbar.

Während ihrer dritten Schicht hämmerte sie mit den Fäusten gegen die Wand, und sobald ihre Fäuste zu sehr schmerzten, benutzte sie die Stirn. Jemand musste sie doch hören – einer der Bewohner oben im Haus, ein Passant, ein Nachbar, der den Müll aus dem Haus brachte oder etwas aus dem Keller des Nachbarhauses holte … irgendjemand.

In der vierten Schicht hackte sie mit dem Vorhängeschloss auf die Tür im Flur ein. Es gelang ihr, etwas Holz rund um das Türschloss abzuschlagen.

Die fünfte Schicht: mit dem Bügel des Vorhängeschlosses an Fesseln und Knebel zerren.

Die sechste: mit dem Fahrradschloss auf den Boden schlagen.

Sieben: am nassen Knebel lutschen.

Aber ihre Fesseln und der Knebel gaben nicht nach, die verschlossene Tür ließ sich nicht öffnen, die Treppe war eine unüberwindliche Hürde, und niemand schien in Hörweite zu sein – keine Menschenseele, die etwas hörte.

***

Celia war immer ein zielstrebiger Mensch gewesen. Im Kindergarten hatte sie schneller als die anderen Kinder laufen gelernt. In ihrem ganzen Leben hatte sie niemals Blumenkohl gegessen. Und ihre beiden Jungs hatte sie in der heimischen Badewanne zur Welt gebracht, in qualvollen Hausgeburten ohne Schmerzmittel. Nie hatte sie klein beigegeben – nicht, als Greg gesagt hatte, er wisse nicht, ob er Kinder wolle; nicht, als Johnny sich geweigert hatte, Danke zu sagen; nicht, als Sam verkündet hatte, er wolle niemals Fahrrad fahren. In ihrem ganzen Leben hatte Celia all ihre selbst gesteckten Ziele erreicht.

Aber nachdem sie wochenlang in der schrecklichsten Situation, die man sich vorstellen kann, ihren zielstrebig denkenden Kopf nicht hatte hängen lassen, begann sie einzusehen, dass es diesmal anders war. Diesmal würde sie aufgeben müssen.

Es war ungefähr zehn Nächte her, dass oben die neuen Leute eingezogen waren – ganz genau wusste sie das nicht, weil sie mindestens einen Wechsel von Tag zu Nacht verpasst hatte –, und sie war am Ende ihrer Weisheit. Sie hatte all ihre geistige Energie und körperlichen Reserven verbraucht, und nun musste sie anerkennen, dass es Zeit zum Aufgeben sei. Sie würde sterben. Sie würde Greg, Johnny und Sam niemals wiedersehen. Niemand würde ihre Leiche finden, niemand würde jemals erfahren, dass sie vor ihrer eigenen Haustür verschleppt, verprügelt und vergewaltigt worden war, um letzten Endes zu verhungern. Es wäre besser, wenn sie stürbe. So dachte sie, als sie in dem stinkenden Flur am Fuß der Treppe saß.

Dann hörte sie einen Wasserhahn laufen. Neben dem Schlafzimmer der jungen Frau musste sich ein Badezimmer befinden. Sie folgte dem Geräusch entlang der Wand, bis sie zu der Stelle kam, wo es durch ein Rohr gluckerte. Langsam und beschwerlich ruckelte sie mit dem Stuhl zum Rohr und schlug mit den Händen dagegen. Gute, kraftvolle Schläge, auf die sie stolz war. Unermüdlich hämmerte sie gegen das Rohr, bis sie endlich ein Geräusch aus dem Badezimmer hörte – wieder die junge Frau. Erst Schritte, dann Stille. Celia ruckelte mit dem Stuhl zu dem Kettenschloss in »ihrem« Raum. Damit konnte sie ein noch lauteres Geräusch erzeugen. Sie hatte die Metallkette fast erreicht, als Schritte ins Bad zurückkehrten und das Abflussrohr zu rauschen begann: Das Mädchen ließ Wasser aus der Wanne ablaufen, doch jetzt war Celia zu weit von dem Rohr entfernt, um dagegenzuschlagen. Bis sie zurückgeruckelt war, hatte die Frau das Badezimmer längst verlassen.

Lange schlug Celia mit ihrer Kette gegen das Rohr. Sie bildete sich ein, dass ihre Erfolgsaussichten durch das Echo erhöht würden. Aber das einzige Resultat war, dass ihre geschundenen Hände noch stärker bluteten.

***

Stunden später senkte Celia in ihrem Gefängnis den Kopf zum Sterben. Warum sollte sie sich noch bewegen? Warum sollte sie überhaupt etwas tun? Sie konnte genauso gut hier und jetzt zu leben aufhören.

Miau.

Vielleicht war sie schon im Himmel.

Miau.

Bobby wollte sie im Himmel begrüßen. Ob die Jungs auch da sein würden?

Miau.

Sie öffnete die Augen. Sie war immer noch in der Hölle.

Miau.

War Bobby auch in der Hölle?

»Bobby?« Sie sah sich in dem quadratischen Flur um. Da war es wieder, das Geräusch. Sie folgte ihm zentimeterweise in »ihren« Raum.

Bobby miaute durch das Lüftungsgitter. O Gott, Bobby.

Sie ruckelte zur Wand hinüber und sah zu ihrem Kater hoch. Er hatte sie gefunden. Aber wie? Als sie in seine Augen sah, wurde ihr klar, dass ihr Zuhause nicht weit weg sein konnte.

Das Lüftungsgitter war etwa dreißig Zentimeter breit und fünfundzwanzig Zentimeter hoch. Einige der Gitterstäbe fehlten bereits, und Bobby konnte seinen Kopf in den Raum stecken. Aber der Rest seines Körpers wollte nicht durch die schmale Öffnung passen, sosehr er es auch versuchte. Trotzdem drückte er seinen Körper, nach Leibeskräften miauend, weiter in diese und jene Richtung.

Komm schon, Bobs, komm schon. Sie streckte ihre gefesselten Hände hoch über den Kopf, so weit es eben ging. Zuletzt waren sie kaum mehr als dreißig Zentimeter von seinem Kopf entfernt.

Er stand jetzt ganz still da. Hatte er sich eingeklemmt? Hoffentlich, denn dann würde er bestimmt so laut miauen, dass ein Nachbar ihn hörte. »Mach miau!, Bobby! Mach miau!« Sie versuchte es ihm mit den Augen zu sagen. »Jemand könnte kommen und uns finden.«

Aber er miaute nicht, und er war auch nicht eingeklemmt. Stattdessen vollführte er ein Stück echter Katzenmagie, manipulierte seinen Körper ohne erkennbare äußere Bewegung und sprang schließlich vor ihre Füße. Zwei Stäbe fielen aus dem Gitter, einer direkt in Celias Schoß, und sie umklammerte ihn mit dem neu erworbenen Sammlerinstinkt, der sie ständig nach potenziellen Werkzeugen und Waffen Ausschau halten ließ. Der zweite Stab verfehlte um Haaresbreite Bobbys Kopf und landete klirrend auf dem Boden, als der Kater auf ihren Schoß sprang.

Celia berührte Bobby, beugte sich zu ihm herab, um ihn mit dem Gesicht zu spüren. Sie suchte in Gedanken den Raum ab, dachte scharf nach, atmete laut durch die Nase, und dann hatte sie eine Eingebung: ihr Medaillon – das silberne Herz mit dem Foto ihrer Jungs darin! Jetzt, wo ihre Hände vor dem Körper zusammengebunden waren und sie die Finger ein wenig bewegen konnte, war es gar nicht so schwer, das Medaillon abzunehmen. Erstaunt fragte sie sich, warum sie nicht schon längst überlegt hatte, wie es sich nutzen ließe. Sie musste sich jedoch eingestehen, dass sie es wahrscheinlich zu einem Selbstmordversuch benutzt hätte. Jetzt war sie froh, das nicht getan zu haben.

Celia legte die Silberkette mit dem herzförmigen Anhänger um Bobbys Hals. Dann hob sie ihn mit ihren gefesselten und verdrehten Händen so hoch, wie es nur ging. Bobby miaute laut, setzte zum Sprung an und schwebte durch die Luft. Ohne weitere Schwierigkeiten gelangte er durch die Öffnung, in der jetzt nur noch ein einziger Gitterstab steckte. Dann lief er mit seiner Botschaft davon.

Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Bobby würde das Medaillon nach Hause bringen, und dann würden sie ihm hierher folgen. Wie bei Lassie.

***

In der Ferne verklangen Sirenen im Rhythmus ihres pochenden Herzschlags. Stimmen schwebten durch den Lüftungsschacht zu ihr hinein und wieder hinaus. Ein Bellen, das Klappern eines Mülltonnendeckels, Schritte, Wasserhähne, Türen. Die Lösung lag auf der Hand und hatte sie eine Zeit lang mit neuer Energie belebt. Aber als die Stimmen und das Türenschlagen verklungen waren, musste sie einsehen, dass Bobby nichts als ein Kater war, und obendrein nicht mal ein besonders gewiefter. Bestimmt hatte er das Medaillon gleich in der Gasse hinter dem Haus abgestreift und war davongeschlichen, um sich ungestört zu lecken. Irgendwo in ihrem Körper fand sie noch ausreichend Stimmvolumen zu einem Stöhnen, und sie senkte den Kopf, um sich dem Trost dieses Stöhnens zu überlassen.

Ein Lied. Celia hörte zu stöhnen auf, hob den Kopf und lauschte. Ein Beatles-Song drang von oben durch den Schacht, und er hatte den perfekten Text. Sie ruckelte mit ihrem Stuhl voran, bis sie sich unmittelbar unter der Stelle mit der Musik befand. Dann hob sie den Metallstab, der ihr in den Schoß gefallen war, so hoch sie nur konnte, um damit gegen die niedrige Decke zu schlagen. Sie streckte sich höher und höher, bis das rund dreißig Zentimeter lange Metallstück nur noch einen halben Zentimeter von der Decke entfernt war. Sie kam nicht dran. Sie versuchte, den Stuhl zum Hüpfen zu bringen, aber der Metallstab in ihrer ausgestreckten Hand wollte einfach nicht bis an die Decke reichen. Scheiße, dachte sie, und hielt den Stab so fest es ging. Die junge Frau spielte das Lied jetzt zum vierten Mal. Bestimmt würde sie gleich den Apparat abstellen. Diesmal musste es funktionieren! Sie stabilisierte ihren Körper, streckte die Hand aus und brachte den Stuhl zum Hüpfen.

Help me!

Sie hatte die Decke berührt! Der Stuhl knallte zurück auf den Boden.

Help me!

Die dunkle Treppe
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