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Verdammt, so hatte er sich das nicht vorgestellt.
Er war spät vom Einkaufen zurückgekommen, und dann hatte er auf einmal etwas getan, das er nicht vorgehabt hatte.
Eine Woche lang war es klasse gewesen.
Jede Nacht hatte er sie zur gleichen Zeit besucht. Wenn sein Arbeitstag sich zum Ende neigte, war er immer schon ganz ungeduldig gewesen, und die Erregung hatte in ihm gepocht. Abends fiel es ihm schwer, seine normalen Besorgungen zu erledigen, während er auf den geeigneten Moment wartete, sich in den Keller zu schleichen. Er betrat das Haus immer durch den hinteren Garten. Er kletterte über die hohe Mauer, schlich sich über das winzige Rasenstück, öffnete die Tür zur Küche und den Wandschrank in der Diele. Hinter den hoch aufgestapelten Farbeimern verbarg sich eine Tapetentür, die er mit Vorhängeschlössern gesichert hatte. Wenn er wieder ging, achtete er immer darauf, dass sich die Farbeimer ausreichend stapelten. Hinter der zweiten Tür führte eine alte Holztreppe in den Keller hinab. An den kleinen Flur mit dem Zementboden schlossen sich zwei Räume an: ein abgeschlossener und einer ohne Tür.
Trotz seiner Unbeholfenheit war die erste Nacht die beste gewesen. Er war durch den Garten gerobbt, hatte erwartungsvoll die Türen geöffnet – Küche, Diele, Wandschrank – und sie so vorgefunden, wie er sie vormittags zurückgelassen hatte. Er kam sich vor wie ein Vater, der sein neugeborenes Baby zum ersten Mal aufwachen sieht. Als sie die Augen weit, sehr weit aufriss, hatte er sie angelächelt. Sein kleines Mädchen, immer noch frisch, in weißen Söckchen, Turnschuhen und Trainingshose, fit, vital und … Er hatte sie auf Wange und Nase geküsst. Er hatte an ihrem linken Ohr geleckt, an der Stelle unter ihrem rechten Ohr. Er hatte seine Zunge so weit wie möglich in ihr rechtes Ohr gesteckt, war damit über ihre Stirn gefahren und hatte das Salz ihrer Furcht geschmeckt. Sie hatte still dagesessen, mit jetzt fest geschlossenen Augen, während er sich an ihrem Gesicht rieb. Dann signalisierte sein »Ah«, dass es vorbei war, dass es ihr vom Kinn tropfte.
Sieben Nächte in Folge. Ah, gleich, gleich. Danach hatte er ihr den Knebel abgenommen und ihr ein Messer an die Kehle gedrückt, damit sie nicht schrie. Aber eigentlich machte er sich keine große Sorgen: Wer sollte ihre Schreie schon hören? Er hatte sie mit einem Löffel gefüttert, hatte ihr mit einem Strohhalm Wasser eingeflößt, hatte die kleinen Vorkommnisse des Tages mit ihr besprochen. Dann hatte er ihr den Knebel angelegt, das Licht ausgeschaltet und Tür um Tür – Wandschrank, Diele, Küche – hinter sich gelassen. Er war in die richtige Welt zurückgekehrt.
In der zweiten Woche war ihm der Gestank aus dem Eimer zunehmend auf den Magen geschlagen, und so hatte er sie nur noch jeden zweiten Tag besucht. Sie war auf dem Stuhl sitzen geblieben, und er hatte sich gefragt, wie sie es überhaupt fertigbrachte, einfach nur so dazusitzen.
Ein einziger Besuch in der dritten Woche. Er hatte viel um die Ohren gehabt, und als er zurückkam, war es überhaupt nicht gut gewesen. Sie hatte ihren Eimer umgestoßen, und der Stuhl lag in einer Lache aus Pisse und Scheiße. Es hätte nicht viel gefehlt, und ihm wäre das Frühstück hochgekommen. Sie hatte sich gehen lassen, und es wurde höchste Zeit, dass sie besser für sich sorgte. Also hatte er eine Vereinbarung mit ihr getroffen: »Ich binde dich los, wenn du ein braves Mädchen bist. Kein Geschrei, keine krummen Touren, ich muss dich bloß sauber machen.«
Ihr früher so hübsches Gesicht hatte ihn angeschaut, und sie hatte genickt. Daraufhin hatte er das Vorhängeschloss geöffnet, mit dem ihr Stuhl an den Metallring im Boden gekettet war. Er hatte den Stuhl aufgerichtet, sie draufgesetzt und von der stinkenden braunen Brühe weggetragen. Nachdem er ihr das Halstuch abgenommen hatte, war ihr Mund eine Weile in der gleichen Position geblieben, als ob das Tuch noch da wäre. Aber schließlich sah er wieder das Gesicht, das ihm auf der Straße so gut gefallen hatte: die dunkelbraunen Augen, das glattschwarze Haar. Und die Figur: optimales Gewicht, optimale Größe, Gesundheit, Muskeln, Frische, Fitness.
Er hatte ihr einen Finger auf den Mund gelegt, und sie war folgsam gewesen und still geblieben, als er sie losband und mit einem Schwamm zu waschen anfing.
Zuerst hatte er ihr den linken Arm abgewischt. Als er den Schwamm in der Schüssel ausdrückte, hatte das Geräusch des tröpfelnden Schmutzwassers ihn daran erinnert, wie seine Mama ihm früher einmal die Stirn gekühlt hatte, als er krank gewesen war.
Er hatte sanft ihre linke und rechte Hand gehalten und sie bis zu den Ellbogen gesäubert, und dann hatte er ihr das T-Shirt über die Brüste gezogen. Er hatte ihren Büstenhalter geöffnet und jede Brust mit dem schäumenden Schwamm gereinigt. Er hatte sie bei den Händen genommen und ihr die Arme zu heben geholfen, damit er ihr das T-Shirt ausziehen konnte. Er hatte ihr auch beim Aufstehen geholfen, damit er ihr die Trainingshose und die Socken ausziehen und jene Körperteile abwischen konnte, die seit dem ersten Tag nackt waren, weil er so freundlich gewesen war, ihre Hose und Unterhose bis zu den Knien herabzuziehen. Er hatte ihre Kleider in einen schwarzen Müllbeutel gesteckt und langsam erst sie abgewischt, dann den Sitz, in den er vor ihrer Ankunft ein Loch gesägt hatte. Er hatte sie sanft angeleitet, wieder ihre sitzende Position einzunehmen, hatte ihr das Gesicht und die Augen mit dem Schwamm abgewischt und sich dann herabgebeugt, um ihre Füße zu reinigen.
Und da war es geschehen. Als er ihr den nassen Schwamm zwischen die Zehen presste, trat sie ihn. Er fiel zu Boden. Seine Nase begann zu bluten. Einen Augenblick lang sah er benommen zu, wie sie aus dem Raum rannte und auf die Treppe zulief. Sie erklomm eins, zwei, drei, vier Stufen. Er erhob sich langsam, als sie sich an einem der inneren Schlösser zu schaffen machte, die er zum Glück immer sorgfältig verschloss, wenn er durch die Tapetentür hereinkam. Sie schlug mit der Hand gegen Schloss und Kette, wieder und wieder, als ob die sich damit öffnen ließen. Sie packte den Türgriff, zerrte daran und schrie HILFE. Er stand auf und ging Schritt für Schritt die Treppe hoch, auf ihren nackten, hämmernden, schreienden Körper zu. Sie drehte sich um und sah ihm entgegen.
Er schlug seine Faust in ihre rechte Wange. Sie fiel die Treppe herab. Ihre nackten Gliedmaßen polterten dumpf über die Stufen und landeten in einem unordentlichen Haufen am Fuß der Treppe. Er folgte ihr und trat zu, ehe sie aufstehen konnte. Noch einmal. Und noch einmal. Irgendwie konnte er seinen Fuß einfach nicht davon abhalten, sich in ihre Hüfte zu graben, ihr Bein, ihren Kopf. Am Ende seines Beins befand sich eine übergroße, unermüdliche Fußzecke, die nichts als beißen wollte, und als endlich Schluss war, fiel er erschöpft neben ihr zu Boden.
Er öffnete die Augen im gleichen Moment wie sie. Scheiße, das hatte er nicht vorgehabt. Jetzt stank sie nicht nur und war schmutzig, jetzt war sie auch noch zerschnitten und angeschwollen. Ihr muskulösen Beine waren voller Blut, aus einigen Blickwinkeln wirkten sie geradezu schwabbelig. Ein Fingerknochen stak aus ihrer Haut hervor. Ihr Gesicht war kaum noch als Gesicht erkennbar, ihr Rücken irgendwie knochig und voller Blutergüsse.
Er fesselte ihren schlaffen, nackten Körper an den Stuhl, und aus seiner Nase tropfte das Blut auf ihren Bauch und ihre Beine. Er brachte es kaum über sich, sie anzuschauen. Sie sah wirklich abstoßend aus. Wie ein Lieblings-Pornovideo, das vom vielen Abspielen ganz unscharf geworden ist.
***
Als er den Kellerraum schließlich mit einem Müllbeutel voller verschissener Klamotten verließ, hatte er sie weder mit dem Löffel gefüttert, noch hatte er ihr mittels eines Strohhalms Wasser eingeflößt. Er hatte nicht die Vorkommnisse des Tages mit ihr besprochen, hatte nicht den Eimer unter ihren hageren Arsch gestellt, und er hatte auch nicht den Stuhl an den Metallring im Fußboden gekettet. Nicht einmal ihre Fesseln hatte er besonders sorgfältig gebunden.
Während er die Geheimtür eilig hinter Eimern mit Magnolienweiß, Eierschalenweiß und Mattweiß verbarg, fragte er sich, ob er es jemals über sich bringen würde, sie wieder zu besuchen.
***
Bayswater erwies sich als ein nahezu perfekter Ort für ihn – in den Hostels und Kneipen, im Park und im Freizeitzentrum weiter unten an der Straße wimmelte es nur so von energiegeladenen Jugendlichen. Er war so angenehm erregt angesichts dieses umfassenden Angebots, dass es ihm gelang, seinen jüngsten Fehler fast völlig zu vergessen – diese Dingsda, die ein eigenes Leben geführt hatte, mit Menschen, die nach ihr suchten. Das schaffte er doch, oder? Das vage Gefühl der Übelkeit zu ignorieren, es mit einem Glas Cider herunterzuspülen? Wieder von vorn zu beginnen? Diesmal vielleicht mit der Kleinen im Netzballröckchen.
Dann, als er eines Abends aus dem Park kam, sah er jemanden an der Vordertür hantieren. Er versteckte sich hinter einem Baum und beobachtete von dort aus, wie die Mädels kichernd ins Haus rannten. Scheiße. Sie hatten es geschafft. Er sah zu, wie sie herauskamen, um bald darauf Matratzen und irgendwelches Gerümpel durch die Tür zu tragen. Scheiße. Er fühlte sich zutiefst krank. Sie waren eingezogen. Er zog kurze Zwischenbilanz. Sie war unten. Der Wandschrank war verschlossen. Die Tür war sorgfältig kaschiert.
Trotzdem scheiße. Monatelang hatte das Haus leer gestanden, und jetzt, ausgerechnet jetzt, mussten sie es besetzen. Er schluckte nervös, während er die Besetzer beobachtete und sich fragte, welche Folgen das für ihn hatte. Konnte er sie irgendwie aufhalten? Er war immer so vorsichtig und gründlich gewesen. Jetzt aber steckte er in der Klemme. Er musste die Sache in Ordnung bringen, so viel war klar. Die Frage war nur: Wie?