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Als sie aufgewacht war, hatte Celia zu träumen geglaubt. Wie damals, als sie im Traum vergessen hatte, Johnny zu füttern und der so abgemagert war und sie so vorwurfsvoll angeschaut hatte, dass sie entsetzt aufgeschrien und ihn an die Wand geworfen hatte. Oder wie damals, als sie mit Gregs bestem Freund geschlafen hatte und er sie erwischte und verließ. Aber diesmal wachte sie nicht auf und drehte sich zu ihrem Mann um, und sie sagte auch nicht: »Greg, ich hatte einen schlimmen Traum. Liebst du mich noch?« Oder zu ihren Jungs: »Guten Morgen, ihr Hübschen! Habt ihr Hunger?« Sie konnte nicht einmal die Hände bewegen, um sich zu kneifen, und wie sehr sie auch nach den Jungs Ausschau hielt – sie waren nicht da. Das Bett war nicht da, und Greg war auch nicht da, und so dämmerte ihr allmählich, dass dies die Realität sei. Sie befand sich in einem dunklen Raum. Hose und Unterhose waren ihr bis zu den Knien herabgezogen worden. In den Stuhl, auf dem sie saß, hatte jemand ein Loch gesägt, unter dem ein Eimer stand. Sie war gefesselt und geknebelt.

Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben keine Gedanken darüber gemacht, wie man sich in einer solchen Situation verhalten solle, und so gab es keine Erfahrungswerte, auf die sie zurückgreifen konnte. Keinen inneren Rückhalt für die ersten Stunden, als sie am heftigsten versuchte, ein Geräusch aus ihrem Inneren nach außen zu bringen, während nur einen Meter von ihr entfernt ein maskierter Mann saß und sie beobachtete. Das Geräusch wollte nicht kommen. Es blieb irgendwo in ihrer Kehle stecken, bloß ein paar Speicheltröpfchen befeuchteten den Stoff, der sich tief in ihre Mundwinkel grub. Sie gab zwar nicht auf, aber nachdem sie stundenlang lautlos geschrien hatte und ihre Handgelenke von der ständigen Reibung der Fesseln schon ganz wund gescheuert waren, hielt sie einen Moment inne, um ein wenig Kraft zu schöpfen. Und als der Speichel ihr vom Mund tropfte und sie sich aufbäumte wie ein tollwütiger Hund mit Maulkorb und Kette, da lächelte er nur.

***

Viel Zeit war vergangen, ehe die Leute über ihr einzogen. In dieser Zeit hatte sie beschlossen, sich auf ihr Überleben zu konzentrieren statt auf ihn und auf das, was er ihr antat. Also drückte sie jedes Mal, wenn er gegangen war, ihr Kinn auf das Medaillon, das an ihrem Hals hing. Es war ein herzförmiges Silbermedaillon an einer Kette mit einem Foto ihrer Familie darin. Sie berührte es mit dem Kinn, um Kraft und Zuversicht zu gewinnen, und dann konzentrierte sie sich mit voller Entschlossenheit auf eines ihrer Projekte.

Der Stuhl, an den sie gefesselt war, stand in der Mitte eines kleinen, niedrigen, fensterlosen Raums. Ein kunststoffbeschichtetes Kettenschloss von der Art, wie man sie für Fahrräder verwendet, war um eine der Stuhlleisten geschlungen und mittels eines Vorhängeschlosses an einem im Boden verankerten Metallring befestigt. Ihre Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden und ihre Füße an jeweils ein Stuhlbein gefesselt. Dicke Fesseln umschlangen ihre Beine und den Oberkörper. Ein Halstuch aus Polyester schnitt ihr in die Mundwinkel. Auf einem Metalltisch in der Ecke stand eine Lampe, die er ausschaltete, sobald er mit ihr fertig war. Oben an der rechten Wand befand sich ein Lüftungsgitter. Ein Eimer mit ihren Ausscheidungen stand unter dem Stuhl. Einmal hatte sie einen Blick auf eine Treppe erhascht, die unmittelbar vor dem Raum in die richtige Welt hinaufführte. Sie hatte keine Ahnung, welcher Teil der Welt das war. Nach allem, was sie wusste, hätte es durchaus Bulgarien sein können.

Sie kam zu dem Schluss, dass es nur einen einzigen Weg gab, das Seil zu lockern: indem sie Finger, Zehen und Füße so ausgiebig wie möglich spreizte, wand und drehte. Das tat sie jeden Tag stundenlang – erst mit den Händen, dann mit den Füßen, schließlich mit dem ganzen Körper. Sich winden, sich ausruhen. Sich winden, sich ausruhen.

Um nicht den Mut zu verlieren, ergänzte sie diesen Plan um einen weiteren. Der Knebel – den wollte sie loswerden, um nach Hilfe zu schreien. Sie rieb ihr Kinn an der Schulter. Sie kaute und nagte an dem Polyesterstoff herum.

Sie wackelte mit dem Stuhl. Vor und zurück, nach links und nach rechts. Sie wollte herausfinden, ob er sich vielleicht bewegen ließe. Ob die Fahrradkette sich lockerte. Aber die Kette hielt stand.

Sie versuchte, den Stuhl auf den Boden knallen zu lassen: die Vorderbeine hoch und mit Wucht nach unten. Ein Geräusch machen. Aber das Geräusch, das sie auf diese Weise erzeugte, war lächerlich leise, und außerdem stand sie so kurz davor, den Stuhl zum Umfallen zu bringen, dass sie es mit der Angst zu tun bekam. Wenn der Stuhl umfiele, befände sie sich in einer noch schlimmeren Lage als jetzt.

In jenen schrecklichen ersten Wochen hatten Celias Anstrengungen keinerlei Resultate erbracht. Die Seile umschlossen sie immer noch fest und unnachgiebig, der Knebel hatte sich nicht gelockert, und der Stuhl stand in derselben Position wie zuvor.

»Du hast dich wohl nicht gewaschen. Was für ein schmutziges Mädchen du bist«, sagte er während einem seiner Besuche im Dämmerlicht. »Wir sollten uns langsam Gedanken über ein Bad machen.«

Nach diesem Kommentar verbrachte Celia Stunden damit, ihre Füße nach dem Eimer unter ihrem Stuhl auszustrecken. Während ihrer dritten Schicht (so nannte sie mittlerweile die langen Phasen ihres leidenschaftlichen Bemühens) geschah es: Der Eimer kippte um und ergoss seinen gesamten Inhalt über ihre Füße und den Boden. Dann schaukelte sie so lange und so heftig hin und her, dass der Stuhl schließlich mit einem Knall zu Boden fiel. Durch den Sturz wurde sie zwar ohnmächtig, aber als sie wieder zu Bewusstsein kam, lächelte sie – soweit der Knebel das zuließ –, weil ihr Plan aufgegangen war: Sie schwamm in ihren eigenen Ausscheidungen, würde tagelang quasi darin marinieren, und dann würde sie zweifellos sehr dringend baden müssen.

Die dunkle Treppe
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