11

Pete sehnte sich nach Weite. Die nächstbeste Erfahrung von Weite bot sich in Kensington Gardens am oberen Ende der Straße. Nach seiner Arbeit im Sportstudio ging Pete die Queensway entlang, vorbei an Whiteleys Einkaufszentrum und unzähligen Pubs und Cafés, ehe er in die parallel verlaufende Queensway Terrace einbog. Dann am Royal und dem besetzten Haus vorbei bis zum Ende der Straße. Dort überquerte er die stark befahrene Fahrbahn und betrat den Park. Fast sofort sah er Bronny, die im Schatten saß und einen Lonely Planet-Reiseführer las. Er wollte auf sie zugehen, besann sich aber eines Besseren. Sie hatte ihn ziemlich deutlich spüren lassen, was sie von ihm hielt. Stattdessen ging er an den Kricketspielern und den Sonnenbadenden, am Teich und an den Statuen vorbei in den Hyde Park.

Das war zwar nicht die Art von Weite, die er kannte, aber es war besser als nichts. Er machte ein einigermaßen freies Rasenstück ausfindig und legte sich hin. Mit geschlossenen Augen stellte er sich vor, daheim zu sein. Er erinnerte sich daran, wie er über den schnurgeraden Eyre Highway gefahren war: 1668 Kilometer, die ganze Strecke, die sich die Straße ihren baumlosen Weg durch die Nullabor-Wüste bahnte. Er hatte auf dem Dach eines Jaguar mit offenem Verdeck gesessen, mit einem Backstein auf dem Gaspedal und den Füßen am Lenkrad. Das Land um ihn herum entsprach ganz seinem Geschmack: gelb, leer, endlos. Mit all den Bäumen und Hecken nach englischem Vorbild, die Australiens kostbare Wasserreservoirs aufbrauchten, hatte er nichts am Hut. Ihm gefielen trockene Landschaften. Er hatte seine Sonnenbrille aufgehabt und die Arme ausgestreckt, um das ganze Land zu umarmen. Er hatte es förmlich eingeatmet, sein schönes, geliebtes Australien.

Pete atmete tief ein, als er dort auf dem englischen Rasen lag, und versuchte, die Heimat zu riechen: Eukalyptus und Staub. Er versuchte, sie zu hören: Kookaburras und Papageien. Er versuchte, sich heimisch zu fühlen und glücklich zu sein.

»Ich möchte dich um etwas bitten.«

Der australische Akzent war wie ein Teil seines Tagtraums. Tief und geschmeidig. Trinkbar. Er gab ein »Hm-hm« von sich und öffnete die Augen. Und sah, dass die Stimme wirklich existierte. Er setzte sich auf.

»Hör auf, dauernd aus dem Nichts aufzutauchen.« Es war Bronny, die ihr Buch in der Hand hielt und zu ihm herabsah.

»Hab ich das getan?«

»Ja. An privaten Orten.«

»Du machst Geräusche … schreist, und so. Irrst nachts herum.«

»Willst du damit sagen, dass ich im Schlaf spreche?«

Pete ahmte eine hohe, gequälte Stimme nach: »Ich versuche es Ich versuche es Ich versuche es …«

»Nein! Wirklich?«

»Warte auf mich, Ursula. Papa! Du bist so klein!«

Im Grunde hatte Bronny seit ihrer Ankunft mit niemandem richtig gesprochen. Die Unterhaltungen hatten sich meistens um Haschisch gedreht, manchmal um Epilation. Sie sehnte sich nach einem richtigen Gespräch. Es überraschte sie, dass dieser große, schwer fassbare Mann der Mensch war, mit dem sie sprechen wollte. Sie setzte sich neben ihm ins Gras.

»Das ist mein Albtraum.«

»Was passiert darin?«, fragte Pete.

»Ich versuche, nach Hause zu gehen. Aber ich laufe immer zu schnell, und irgendwie hüpfe ich auch zu hoch. Deshalb entferne ich mich immer weiter.«

Pete lächelte sie an. Er verstand sie gut.

»Ich vermisse Cheesles«, sagte Bronny.

»Den Strand«, sagte Pete.

»Straßenbahnen.«

»Leute, die auf der Straße grüßen.«

»Schokoladenkekse in Form von Teddybären.«

»Ist Ursula deine Schwester?«, fragte Pete.

»Ja, sie ist einundzwanzig. Sie ist Papas Doppelgängerin.«

»Ist sie das auf dem Foto in deinem Zimmer?«

»Wann hast du das gesehen?«

»Als ich reingekommen bin, um nachzuschauen, was es mit dem Lärm auf sich hatte … Sie sieht aus wie du«, sagte Pete.

»Sie hat Glück gehabt. Sie hat die tollen Haare und die langen Beine abbekommen. Und das helle Köpfchen.«

»Sie sieht genau aus wie du«, sagte Pete.

»Nein, ich bin die Doppelgängerin meiner Mutter.«

Bronny sagte Pete nicht, dass ihre Mutter acht Jahre zuvor gestorben war. Sie verzichtete darauf, ihre lebhafteste Erinnerung zu beschreiben: das erstickte Geräusch, mit dem ihre Mutter um Luft gerungen hatte, als sie ins Schlafzimmer gerannt war, und wie ihre Mutter eine zehnjährige Fremde am Fußende des Bettes angeschrien hatte: »Wer ist das? Schafft die hier raus!« Sie erzählte ihm nicht, dass sie bei ihrem Tod nicht geweint hatte, weder bei der Beerdigung noch bei späteren Besuchen auf dem Friedhof, niemals seitdem. Sie hatte ihre Tränen bei sich behalten, und sie waren zu winzigen Kugeln versteinert. Manchmal fühlte sie die winzigen, harten Steinkugeln in ihrem Magen.

»Sie muss sehr schön sein«, sagte Pete.

»Mmm.« Ehe alles in Schrecken umschlug, war ihre Mama tatsächlich eine schöne Frau gewesen.

Bronny erzählte Pete jedoch ein paar andere Sachen. Von der Schinkenfabrik, wo sie einmal in der Woche Speckscheiben zum Sonderpreis kaufte und den traurigen Anblick der Schweine zu ignorieren versuchte, die entweder dicht gedrängt in Gattern vor dem Gebäude standen oder drinnen in Kesseln brodelten.

Sie erzählte ihm von dem Tag, an dem sie den Lunapark in St. Kilda besucht hatten. Ursula hatte seit Jahren darum gebettelt, dass sie hinführen, und ihr Vater hatte schließlich nachgegeben und drei Ganztageskarten gekauft.

»Ich war fünfzehn«, sagte Bronny und erzählte, wie sie nicht nur während der gesamten Autofahrt herumgemosert hatte – »Ich will da nicht hin! Ich will da nicht hin!« –, sondern sich auch geweigert hatte, in irgendeine der Achterbahnen und Geisterbahnen zu steigen.

»Ich habe mit verschränkten Armen unter einem riesigen Schlund gesessen«, sagte Bronny.

Als ihr Vater zum zwanzigsten Mal herausgekommen war und sie gebeten hatte, sich wenigstens versuchsweise zu amüsieren, hatte sie sich zu einem Eis überreden lassen. Während die Bedienung blauen Sirup über das Eis goss, sah sie, dass Ursula an der berühmten alten Achterbahn aus Holz anstand. Sie rannte zu der Warteschlange, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten, aber als sie dort ankam, saß Ursula bereits im ersten Wagen. Bronny sprang über die Abtrennung und schrie sie an, dass sie aussteigen solle. Menschen stürben bei solchen Fahrten! Blieben mit dem Kopf nach unten stecken und stürben! Sie zerrte Ursula am Kragen, indes die Betreiber den Sicherheitsdienst riefen.

»Sie haben eine lebenslange Besuchssperre über uns verhängt«, sagte Bronny zu Pete. »Ursula hat drei Wochen lang nicht mehr mit mir gesprochen.«

Bronny erzählte ihm, wie sie in der Schule gerade so über die Runden gekommen war und als Archivkraft in der Münzanstalt gearbeitet hatte. Sie glaubte ihm anzumerken, dass er sich fragte, warum sie im Vergleich zum Rest ihrer Familie so wenig zustande gebracht habe, und sie entschuldigte sich schon dafür, ehe er überhaupt fragen konnte.

»Ich habe nie kapiert, was ich an einer Uni soll. Warum soll ich mich dafür abrackern?«, sagte sie.

Sie erzählte ihm, dass der obdachlose Mr Todd immer glücklich gewirkt habe. Er hatte so lange auf der Erde geschlafen, dass er schließlich wie ein Teil der Landschaft wirkte. Genau wie das alte Gefängnisgebäude aus blauschwarzem Sandstein, aus dem angeblich Ned Kellys Vater getürmt war.

»Was ist aus Mr Todd geworden?«, wollte Pete wissen.

»Irgendein Gutmensch hat ihn sich geschnappt und in eine Anlage für betreutes Wohnen gesteckt. Sie haben ihn gebadet und den Schmutz abgeschrubbt, und dann ist er gestorben.«

»Einfach so?«

»Ich denke, es war der Schmutz, der ihn zusammengehalten hat.«

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Pete half ihr vom Boden hoch. Sie gingen zur anderen Seite des Parks, überquerten einige Straßen, schlenderten erst an Geschäften und Cafés, dann an Häusern und kleinen Gärten vorbei. In einer kleinen Gasse hinter einer Reihe großer, weißer Stadthäuser blieb Pete stehen.

»Riech mal«, sagte er.

Bronny schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein. »Eukalyptus.«

»Den haben bestimmt ein paar heimwehkranke Aussies wie wir gepflanzt.« Pete zeigte auf den riesigen Eukalyptusbaum, der in einem der Gärten stand. Einige Äste reckten sich über die Gasse. Pete hob den Arm und zupfte eine Handvoll Blätter ab.

»Eines Tages soll so einer in meinem eigenen Garten stehen«, sagte er und legte die Blätter in Bronnys Hand.

An diesem Tag gingen sie lange spazieren. Zuerst in einen Gärtnereimarkt, wo Pete einen dreißig Zentimeter hohen Eukalyptusbaum für Bronny kaufte.

»Was für einen Topf?«, fragte sie Pete.

»Gelb.«

Pete trug das Bäumchen in seinem sonnengelben Topf durch London. Unterwegs blieb er stehen, um ihr noch etwas zu zeigen.

»Weißt du, wo wir sind?«

»Nein.«

»Bucks Row. Genau hier hat Polizeiwachtmeister John Neil die Leiche einer auf dem Rücken liegenden Frau gefunden. Jemand hatte ihr die Kleider hochgezogen, aus ihrer Kehle sickerte Blut …«

»Igitt!«

Pete stellte den Topf hin und sprach lebhaft weiter.

»Der erste richtige Serienmörder. Jedenfalls der erste, über den die Leute in der Zeitung lesen konnten, dessen Schicksal sie verfolgt haben, als wäre er eine Berühmtheit. Jack the Ripper. Man nimmt an, dass er fünf Frauen verstümmelt hat … einigen hat er sogar die Organe rausgerissen …«

»Sei still!«

Pete legte eine Hand auf Bronnys Kehle und die andere um ihre Taille, um seiner Erzählung mehr Nachdruck zu verleihen.

»Er packte sie und ließ sie vorsichtig zu Boden gleiten, ehe er ihnen die Kehle aufschlitzte.«

Bronny sah Pete in die Augen, als er sie so zurückgebeugt hielt. Hätten sie gerade getanzt, wäre dies eine ziemlich romantische Situation gewesen.

»Dann hat er etwas von ihnen als Andenken behalten. Eine Niere zum Beispiel.«

»Halt den Mund!« Bronny schaffte es, sich aufzurichten. Sie lief davon. Pete hob den Topf vom Boden und rannte ihr nach. Er kicherte.

***

Sie kehrten in den Park zurück und legten sich ins Gras. Einer von ihnen musste sich als Erster hingelegt haben. Hätte man sie später gefragt, hätte keiner gewusst, wer der Erste gewesen war. Aber nun lagen sie still und behaglich da und schauten in dasselbe Stück Himmel. Bronny schlief ein, und als sie von den Geräuschen des Abends geweckt wurde, lag Pete immer noch in derselben Position.

»Das ist das erste Mal, dass ich mit einem Mann geschlafen habe«, sagte Bronny und räkelte sich.

»Machst du Witze?«

»Nö.«

»Na, geschlafen vielleicht. Aber gevögelt hast du schon, oder?«

Bronny versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube, und er krümmte sich – erst vor Schmerz, dann vor Lachen. Schweigend gingen sie in das besetzte Haus zurück. Irgendwas zwischen ihnen war jetzt anders als vorher. Sie schwiegen, aber die Behaglichkeit war dahin.

Die dunkle Treppe
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