2

Seit meinem elften Lebensjahr war ich nicht weiter als bis Melbourne gekommen, und selbst das war nur ein Tagesausflug gewesen. Wir hatten uns die Pinguine auf Port Phillip Island angeschaut. Der erste Ausflug ohne unsere Mutter sollte uns eigentlich aufheitern, aber mir waren die Reihen mit Touristen und watschelnden Pinguinen erschreckend gleichartig vorgekommen. Ich weiß noch, wie traurig ich es gefunden hatte, dass beide am selben Ort gelandet waren und mehr oder weniger dasselbe taten.

Ich hatte einen vagen Plan gehabt: zu reisen, sobald ich mein Ergebnis kannte, um aus den verbleibenden Jahren das Beste zu machen. Deshalb hatte ich einen Reisepass beantragt und ihn am Morgen vor der Untersuchung in meine Umhängetasche gesteckt. Aber bei der Blutabnahme ahnte ich schon, dass meine Reise wohl kaum Spaß machen würde, wenn ich von meinem bevorstehenden Tod wüsste. Nein, das wäre zweifellos eine Spaßbremse ersten Ranges.

Nichtwissen war es, was ich brauchte. Und deshalb musste ich jetzt abhauen.

Der einfache Flug kostete achthundert Dollar. Das waren zwei Drittel der Summe, die ich bei einem Job zurückgelegt hatte. Sechs Monate lang hatte ich in der Münzanstalt von Craigieburn buchstäblich Geld gemacht. Ich bezahlte mein Ticket und lief so schnell wie möglich zum Abfertigungsschalter. Was würde passieren, wenn Papa und Ursula mich aufspürten? Was sollte ich ihnen sagen? Was tun, wenn sie mich anflehten zu bleiben?

»Wie viele Koffer?«

Das war der Abfertigungstyp von der Quantas, und er schien schon eine ganze Weile mit mir gesprochen zu haben. Geistesabwesend hatte ich mir ausgemalt, wie Papa und Ursula durch das Krankenhaus und den Park gerannt waren, ehe sie meinen Zettel unter dem Scheibenwischer fanden:

Lieber Papa, liebe Ursula,


tut mir leid, aber ich will’s nicht wissen. Ich werde nicht zulassen, dass diese Sache von mir Besitz ergreift. Genau das passiert seit Jahren. Ich habe wertvolle Lebenszeit vergeudet. Jetzt fliege ich nach London, um zu leben, und es wird mir gut gehen. Ich liebe euch beide mehr denn je und mehr als alles andere auf der Welt.


Eure Bronny

»Keine?«, fragte der Abfertigungstyp barsch. »Was soll das heißen: ›keine‹?«

»Ich reise mit leichtem Gepäck«, sagte ich.

Er hob die Brauen, ehe er mir die Bordkarte aushändigte, und ich eilte im Laufschritt zum Flugsteig – nur für den Fall, dass sie jetzt gerade auf dem Parkplatz ankämen und losrannten, um mir »Halt!« nachzurufen. Anhalten war das Letzte, wonach mir der Sinn stand.

***

Ich leide unter Höhenangst. Also schloss ich die Augen und erinnerte mich an die Worte meines Vaters, nachdem er mich dazu überredet hatte, den Wachturm unseres alten Gefängnisses hochzusteigen. Als ich die letzten Stufen der steinernen Wendeltreppe hinter mir gelassen hatte und ins Freie getaumelt war, hatte ich mich einer atemberaubenden Aussicht gegenübergesehen – und einer wackligen Holzabsperrung, die jeden Moment in sich zusammenzufallen drohte.

»Weiteratmen!«, hatte mein Vater gesagt. »Tiefe Züge. Nicht drüber nachdenken. Stell dir einfach vor, du stündest auf Terrakotta.«

Das hatte mich zwar zum Kichern gebracht, aber gegen die Angst half es nicht – damals so wenig wie heute.

Vielleicht half ja Alkohol.

Zwei Stunden später schlürfte ich meine siebte Bacardi-Cola. Ich hatte eine Sitzreihe ganz für mich allein. Inzwischen fühlte ich mich ganz munter und war sogar mutig genug, einen kurzen Blick aus dem Fenster zu werfen. Unter mir erstreckte sich Australien, und ein Ende war nicht in Sicht. Bislang hatte ich in einem Australien der natürlichen Grenzen gelebt (das Bergland, Melbourne, die alte Eisenbahnlinie, die Farm der O’Hairs) und die gewaltige Ausdehnung meines Heimatlandes niemals richtig begriffen. Es wollte einfach kein Ende nehmen. Von Sitz 23b aus ähnelte Australien einem endlosen, trockenen Pfannkuchen.

Ich hatte all meinen Mut sammeln müssen, um den ersten Drink zu bestellen, weil ich keine Ahnung hatte, ob man dafür extra bezahlen musste. Dies war der erste Flug meines Lebens, und ich wusste nichts über die Sitten und Gebräuche an Bord eines Flugzeugs. »Haben Sie noch einen Wunsch?«, fragte die Stewardess, und ich war zu nervös, um »Ja« zu antworten. Also schaute ich zu, wie in mehreren Reihen Drinks bestellt wurden, und erst als ich mir absolut sicher war, dass das nichts kostete, orderte ich in rascher Folge sieben Gläser.

»Ich bin Bronny!«, sagte ich zu dem Typen auf Platz 24c. »Ich habe zu viel getrunken.«

»Du solltest nie einem Mann sagen, dass du zu viel getrunken hast«, entgegnete er ohne die Spur eines Lächelns.

»Alles klar«, sagte ich und lehnte mich mit hochrotem Kopf zurück. Was hatte er mir damit sagen wollen?

»Was bedeutet es, wenn ein Typ sagt: ›Erzähl einem Mann nie, dass du zu viel getrunken hast?‹«, flüsterte ich der Frau auf Platz 23a zu.

»Dass er ein Arschloch ist«, sagte sie, und ich lächelte. Aber ich wusste nicht, warum ich lächelte, und ich hatte schon wieder keine Ahnung, was gemeint war.

Als Nächstes ging ich auf die Toilette und kotzte in eine Metallschüssel, die von jedem Hinterteil zu künden schien, das auf ihr gesessen hatte: Blutflecken, an den Rändern klebender Dünnpfiff, eine lose baumelnde Toilettensitzabdeckung, ein Gummihandschuh. Ich trug meinen Teil zu der Geschichte bei (Bacardi-Cola und neuartig geformte Cheesles), warf zwei Tictacs ein und kehrte an meinen Platz zurück. Dann schlief ich für sehr lange Zeit.

Wie sich herausstellte, dauert eine sehr lange Zeit auf Langstreckenflügen zweieinhalb Stunden. Bis zum Umsteigen in Singapur blieben mir danach immer noch zwei Stunden. Ich hatte einen Kater, meine Beine zuckten nervös, der flache, trockene Pfannkuchen unter mir war schwarzem, unheimlich wirkendem Wasser gewichen, und dann ließ der Pilot auch noch verlauten, dass wir in zehntausend Metern Höhe flögen. Zehntausend Meter! Das ist wirklich viel. Ich schloss die Augen und betete zu Gott – falls es ihn gäbe –, ob ich, wenn ich denn schon abstürzen müsse, wenigstens so langsam heruntertrudeln könne (mit vier nacheinander abnippelnden Motoren), dass noch genug Zeit bliebe, um meinen Lieben Abschiedsbriefe zu schreiben, ehe wir auf den zementharten Ozean knallten.

Ich wurde ein bisschen panisch. Was wollte ich hier eigentlich? Ich hatte kein Geld, keine Bekannten, keine Klamotten und keinen Job in Aussicht. Also bat ich um Stift und Papier, und mir war völlig egal, was ich als Fluggast der Quantas durfte oder nicht. (Der Gruppe von Schulabgängern in Reihe elf und zwölf nach zu urteilen, durfte man so ziemlich alles, wonach einem der Sinn stand – inklusive sich aus größerer Entfernung gegenseitig Cashewnüsse in den Mund zu werfen.) Nach dem Eintreffen der Schreibutensilien nahm ich einen zweiten Brief an Papa und Ursula in Angriff:

Lieber Papa, liebe Ursula,


ich habe eine Fehler gemacht. Ich habe keine Bekannten, keine Klamotten und keinen Job in Aussicht. Ich werde so lange sparen, bis ich nach Hause zurückfliegen kann …

Ich zerriss den Brief. Was brachte es, wenn sie sich Sorgen machten? Bis zur Zwischenlandung blieben sowieso nur noch zehn Minuten.

Ich verließ das Flugzeug und schlurfte in ein riesiges Flughafengebäude. Unzählige Menschen gingen zielstrebig auf oder neben automatischen Laufbändern. Alle schienen genau zu wissen, wo sie hinwollten. Ich folgte ihnen, hüpfte auch auf das Laufband und hielt mich vorsichtig an der seitlichen Begrenzung fest.

In diesem Moment sah ich den Typen von Sitz 24c wieder. Hamish hieß er und war ziemlich klein. Er trug eine John-Lennon-Brille und hatte rote Lippen. Ich lächelte ihn an.

»Immer noch betrunken?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Das erste Mal, oder?«

»Ja.«

Ich weiß nicht mehr, ob er mir gefolgt ist oder ich ihm. Ich weiß nur, dass ich den gesamten Zwischenstopp in Gesellschaft von Hamish aus Toronto verbracht habe, der gerade von der Beerdigung einer Freundin in Ballarat nach London zurückkehrte. Während der nächsten beiden Etappen unserer Reise saß ich neben ihm, und er redete mir gut zu, während ich mehrere ausgewachsene Panikattacken durchlebte. Ausgelöst wurden sie jeweils durch: a) Turbulenzen, b) ein unidentifiziertes Flugobjekt nicht weit von der Tragfläche unterhalb meines Fensters entfernt, c) einen Fluggast, der seine Tasche (Bombe) ein wenig zu fest an sich gepresst hielt, d) einen Boxkampf zwischen einem nüssewerfenden Schulabgänger und dem Vater eines Kleinkinds, das versehentlich zwischen die Linien geraten war. Wir schauten unzusammenhängende Teile aus drei Filmen. Wir standen in Heathrow in der Warteschlange, als mich Hamish zu meinem Schrecken darüber aufklärte, dass ich kein EU-Mitglied sei und folglich in der anderen Warteschlange anstehen müsse, bei all den Chinesen und Arabern. Dann fuhren wir gemeinsam mit der U-Bahn zu einem Hostel namens Royal, in dem Hamish ein Internetcafé betrieb. Er sagte mir, dass das Royal gut und sauber und total angesagt sei. Außerdem käme jeden Morgen eine Reinigungsfirma vorbei, um Gelegenheitsarbeiter zu rekrutieren.

***

»Wir sind ausgebucht«, sagte der Typ, der das Hostel führte und musterte mich von Kopf bis Fuß, ehe er Hamish seinen Schlüssel aushändigte. »Du hättest besser über das Internet gebucht.« Am liebsten hätte ich laut losgeheult. Mit vierhundert australischen Dollar war ich in London eingetroffen, und ich hatte gehofft, dass die reichen würden, bis ich meinen ersten Job gefunden hatte. Aber als ich in Bayswater ankam, waren schon hundertfünfzig Dollar weg. Mir blieb gerade noch genug Geld für drei Übernachtungen in einer Absteige wie dem Royal, und selbst die hatten kein Zimmer mehr für mich.

Ich zog meine Windjacke aus und ließ mich auf eine Bank plumpsen. Mein Kopf war wirr, und meine Beine waren schwach. Ich trug Jeans, Turnschuhe und ein ärmelloses T-Shirt, und am Morgen zuvor hatte ich in der Aufregung um meinen bevorstehenden Tod ganz vergessen, einen BH anzuziehen.

»Na, sieh mal einer an«, sagte der Manager, ließ den Blick an mir entlangwandern und wandte sich seinem Computerbildschirm zu. »Da ist doch noch eins frei.«

Die dunkle Treppe
titlepage.xhtml
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_000.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_001.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_002.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_003.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_004.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_005.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_006.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_007.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_008.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_009.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_010.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_011.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_012.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_013.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_014.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_015.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_016.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_017.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_018.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_019.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_020.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_021.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_022.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_023.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_024.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_025.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_026.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_027.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_028.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_029.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_030.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_031.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_032.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_033.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_034.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_035.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_036.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_037.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_038.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_039.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_040.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_041.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_042.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_043.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_044.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_045.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_046.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_047.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_048.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_049.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_050.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_051.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_052.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_053.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_054.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_055.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_056.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_057.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_058.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_059.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_060.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_061.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_062.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_063.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_064.html
CR!BH72CSCYK926N8A46PRGWDDPZN9T_split_065.html