Der Förster Kniebusch wanderte langsam, den Drilling auf dem Rücken, durch den nächtlichen Wald. Der Vollmond war schon ziemlich hoch, aber hier unten, zwischen den Stämmen, machte sein Schein die Sicht nur noch ungewisser. Der Förster kannte den Wald, wie ein Städter seine Wohnung kennt: zu allen Tages- und Nachtstunden war er hier schon gegangen. Er kannte jeden Knick des Weges, jeden Wacholderbusch, der – geisternd wie ein gespenstischer Mann – zwischen den hohen Kiefernstämmen auftauchte. Er wußte, das Rascheln eben kam von einem Igel, der auf der Mäusejagd war – aber wenn ihm auch alles vertraut und bekannt war, jetzt ging er nicht gerne durch den Wald.
Der Wald war derselbe geblieben, seit eh und je, aber die Zeiten waren anders geworden, und mit den Zeiten die Menschen. Jawohl, auch früher hatte es Holzdiebe gegeben. Doch das waren immer die gleichen fragwürdigen Gestalten gewesen, deren Erwerb dunkel und deren Ruf noch dunkler war. Man hatte sie gefaßt, sie waren, wie sie waren, und weil sie so waren, wanderten sie ab ins Kaschott. Man hatte es nicht nötig, sich über sie zu ärgern, am Ende hatten sie stets den Ärger und den Schaden von ihrer Dieberei.
Aber hatte es das früher gegeben, daß ein ganzes Dorf, Mann bei Mann und Haus bei Haus, Holz stehlen gegangen war? Man lief und paßte auf und ärgerte sich zu Tode, und erwischte man schließlich einen, so wurde daraus entweder eine Angst vor Rache oder eine Scham, daß solch ein Mann unter die Diebe gegangen war.
In den Jugendtagen des Försters Kniebusch, während seiner ersten Dienstjahre in der Neuloher Forst, hatte es hier auch einen berüchtigten Wilddieb gegeben: den Müller-Thomas, der sich nachher in der Zelle des Meienburger Zuchthauses erhängte. Es hatte einen langen Krieg auf Leben und Tod mit dem Kerl gegeben; List hatte gegen List und Gewalt gegen Gewalt gekämpft, aber es war doch ein Kampf irgendwie mit gleichen Mitteln gewesen … Heute gingen sie ja gar rudelweise mit Armeepistolen und Karabinern auf die »Jagd«! Sie trieben das Wild hoch, wo sie es fanden, sie schonten kein tragendes, kein säugendes Muttertier – sie schossen auf Fasanen, ja, auf Feldhühner mit der Kugel! Wenn es ihnen noch auf die Jagd angekommen wäre wie dem Müller-Thomas oder auf den Braten zur Stillung ihres Hungers – aber sie mordeten einfach aus Mordlust, Mörder, die sie waren – Mörder und Verderber!
Der alte Mann ist jetzt aus dem Hochwald heraus, er geht auf einer schmalen Schneise zwischen Fichtenschonungen. Die Bäumchen sind fünfzehn Jahre alt, sie hätten schon seit zwei, drei Jahren durchforstet werden müssen – aber es sind ja keine Leute zu bekommen! So ist aus den Schonungen eine unsägliche Dickung geworden, ein Gesperr und Gestachel von Zweigen, umgebrochenen Stämmen die Kreuz und Quere – selbst bei Tage kann man keine drei Meter weit hineinschauen! Jetzt im Mondlicht steht das da wie eine schwarze Wand … Wer einen Feind hat, der hier des Weges kommt, braucht sich nur hineinzusetzen in diese Dickung, er kann seinen Mann überhaupt nicht verfehlen!
Der Förster sagt sich umsonst, daß keiner erwarten kann, ihn diese Schneise entlangkommen zu sehen; es ist ein Pirschgang ganz außer der Reihe, und wenn er seinen Mund gehalten hätte, würde es auch diesen Pirschgang nicht gegeben haben! Es kann ihm gar keiner in dem Gekuschel auflauern!
Und doch geht er leiser. Er weiß, wo der moosige Grasstreifen läuft, auf dem sich so sachte gehen läßt, und wenn doch ein Zweiglein unter seinen Tritten knackt, so bleibt er stehen und lauscht, und sein Herz klopft. Er hat die Pfeife längst in die Tasche gesteckt, denn man kann Tabak weit riechen im Walde. Er hält den Drilling schußfertig, denn auch ein unsicherer Schuß ist besser als keiner.
Er ist ein sehr alter Mann, er hätte sich gerne längst zur Ruhe gesetzt. Aber das hat nicht sein können, nun muß er nachts zwischen den Fichtenschonungen laufen, weil ein dummes junges Mädel nicht auf ihr Herz und ihre Briefe passen kann. Es ist ein ganz unsinniger Weg, er bekommt den Bock doch nicht vor die Büchse. Und bekommt er ihn vor die Büchse, trifft er ihn nicht. Und legt er ihn doch auf die Decke, ist es auch egal – die gnädige Frau nicht, der Herr Rittmeister nicht, keines würde sich darüber gewundert haben, wenn das Fräulein Violet erzählt hätte: ihr Pirschgang war umsonst. Siehst du wohl! würde der Rittmeister höchstens gesagt haben. Wärest du schlauer im Bett geblieben, Weio! Und würde sie nur ein bißchen ausgelacht haben.
Aber nein, daran dachten sie nicht. Sie schickten ihn wirklich los auf diesen Bock, er mußte laufen, während die drei die Geschichte mit dem verfluchten Kerl, dem Inspektor Meier, in Ordnung brachten! Wem verdankten sie denn all ihre Wissenschaft? Doch nur ihm allein! Wer hatte diesen pampigen, windigen Leutnant beim Schulzen Haase herausgeholt? Doch nur er allein! Und da sagte dieser junge Schnösel ganz hochnäsig: »Sie können wir hier nicht brauchen, Kniebusch. Sie gehen und schießen den Bock! Aber daß Sie mir hier nicht zwischen den Büschen Eselsohren machen! Ich fahre mit Ihnen Schlitten, Herr!«
Fräulein Violet hatte dabeigestanden, sie hatte jedes Wort dieser hochfahrenden Rede gehört. Es hätte ihr wohl angestanden, ein bißchen dankbar zu sein, aber nein, sie hatte nur gesagt: »Ja, tun Sie das, Kniebusch, und geben Sie sich ein bißchen Mühe, damit ich Papa morgen etwas zu zeigen habe!«
Da blieb nichts übrig, als »jawohl, gnädiges Fräulein« zu sagen, und kehrt marsch in die Wälder! So würde man nie richtig zu erfahren bekommen, was in dieser Nacht mit dem Feldinspektor Meier geschah! Der würde bestimmt nicht den Mund auftun, der Diener Räder würde auch dichthalten, der Leutnant war morgen schon wie weggeblasen, und das gnädige Fräulein war auch nicht für Erzählen, so gerne sie sich etwas erzählen ließ.
Was schaute also heraus bei dieser so genau überlegten Angeberei, die so viel hatte einbringen sollen? Ein nächtlicher Pirschgang durch den Wald und der ewige Haß des kleinen Meier! Und der konnte eine richtige Giftkröte sein, wenn er wütend war!!!
Der Förster Kniebusch bleibt leise seufzend stehen, er trocknet sich die Stirne – es ist heiß, sehr heiß! Aber es ist nicht die schwüle, regendampfende Hitze der stehenden Luft hier im Walde, die ihm so warm macht, es ist der Ärger hier über sich selbst, der ihn erhitzt. Zum tausendsten, zum zehntausendsten Male in seinem Leben nimmt er sich fest vor, nichts mehr zu sehen und zu hören, was ihn nichts angeht, nichts mehr zu reden von dem, was er doch etwa erfährt. Nur noch seinen Weg für sich zu gehen, die paar Jahre, die er noch das Leben hat, nicht mehr klug und weise und schlau und vorausberechnend zu sein – nichts mehr!
Wie um einen Punkt unter diesen unverrückbaren Entschluß zu setzen, wie das Amen in der Kirche, hallt plötzlich ein Schuß durch den Wald!
Der Förster fährt zusammen, er steht da und horcht, ohne den Fuß zu rühren. Es war ein Büchsenschuß: der Knall war scharf wie ein Peitschenknall. Und es war der Büchsenschuß eines Wilddiebes – denn wer sonst soll um diese Zeit noch im Walde unterwegs sein –?
Dies beides ist sicher, aber nicht ganz so sicher kann der Förster die Richtung bestimmen, aus der der Schuß kam. Die hohe Waldwand rings um die Schonung wirft den Schall hierher und dorthin, sie spielt Ball mit ihm. Doch möchte der Förster fast schwören darauf, daß der Schall von dort kam, wohin der Förster unterwegs ist: vom Serradellaschlag des Schulzen Haase! Wo der Sechser sich äste! Ein anderer hatte auf den Bock des gnädigen Fräuleins geschossen!!
Der Förster steht noch immer auf dem gleichen Fleck, auf dem er stand, als der Schuß fiel. Er hat es nicht eilig, innen ist er ganz stahlhart vor Entschlossenheit. Er ist ein Mann, er tut genau das, was er will – sonst nichts! Langsam hängt er den Drilling über die Schulter, langsam zieht er die halblange Pfeife aus der Tasche. Er stopft sie und läßt – nach einem kurzen Zögern – das Streichholz aufflammen. Er zieht kräftig, drückt dann das Streichholz zwischen den Kuppen von Daumen und Zeigefinger aus, klappt, den Tabak noch einmal vorsichtig andrückend, den Nickeldeckel der Pfeife zu und setzt sich in Marsch. Zielbewußt, stahlhart vor Entschlossenheit, entfernt er sich Schritt für Schritt von dem Punkt, auf dem der Schuß gefallen ist! Was dich nicht brennt, das blase nicht. Punktum. Amen.
Nun ist es doch aber so, daß manche Menschen geradezu von Neuigkeiten verfolgt werden, sie mögen wollen oder nicht, während andere durchs Leben wandern und von nichts was hören. Sie bekommen das Brot immer erst, wenn es altbacken ist. Genau besehen, hatte der Förster schon am Nachmittag nicht das geringste dazu getan, Wissenschaft vom Brief des gnädigen Fräuleins zu bekommen. Im Gegenteil, er hatte das Meiersche Geschwätz mit Abscheu zurückgewiesen, er hatte von dieser ekelhaften Prahlerei nichts hören wollen – und schon erfuhr er alles über den Brief!
Der Förster, der sich so gemütlich schmauchend vom Wilddieb entfernt, der alte Kniebusch, der, über seine eigene Schlauheit grinsend, recht geruhig die ungefährlicheren Partien des Waldes so langsam zu begehen entschlossen ist, bis er völlig glaubhaft versichern kann, alle Mühe und aller geduldige Ansitz seien umsonst gewesen, es war kein Bock zu schießen – dieser alte Angstmeier Kniebusch war verurteilt, doch seinen Bock zu schießen – und nun gar ohne Büchse!
Die Neuigkeit, von der er sich so eifrig fortpirschte, kam leise und eilig den Hohlweg zwischen den hohen Tannen, den kein Mondstrahl erhellen konnte, hinuntergeradelt. Der Förster ging schmauchend den Hohlweg hinauf.
Der Anprall war heftig. Aber während für den alten Förster Kniebusch weicher Sand genug dalag, seine alten Knochen zu schonen, hatte auf den Radler ein kräftiger Steinbrocken gewartet: er schlug erst mit der Schulter dagegen, was ihm einen kräftigen Fluch entlockte, trotzdem er noch gar nicht wußte, daß sein Schlüsselbein in diesem Augenblick brach. Dann schrammte er mit seiner Backe auf der recht körnigen Außenseite des Steines entlang. Die Haut ging davon ab, und das rohe Fleisch brannte wie Feuer. Aber das spürte der gestürzte Radler kaum noch, denn unterdes hatte seine Schläfe mit einer vorspringenden scharfkantigen Steinwulst Bekanntschaft geschlossen – und eine Schläfe ist genauso empfindlich wie der Schlaf: von rauhen Störungen sind beide leicht verletzt. Der Radler sagte noch einmal, schon ganz geistesabwesend: »Uch«, und ward nicht mehr gehört.
Der brave Förster Kniebusch saß im Sand und rieb sich sein Dickbein, das die Hauptsache von dem Zusammenprall abbekommen hatte. Er hätte gerne gesehen, daß der andere auf sein Rad gestiegen und weitergefahren wäre, er, der Kniebusch, hätte keinen Einspruch erhoben und keine Fragen gestellt, so stahlhart war sein Entschluß, sich nicht mehr einzumengen.
Er spähte in der Dunkelheit nach dem andern. Da es aber in der Schlucht zwischen den Tannen viel zu dunkel war, überhaupt irgend etwas zu sehen (nur einer, der den Wald wie seine Tasche kannte, durfte es wagen, diesen pechrabenschwarzen Hohlweg hinunterzuradeln!), so bildete sich der Förster allmählich ein, er sähe was. Was er aber zu sehen meinte, war eine dunkle Gestalt, die ebenso wie er im Sande saß und sich den Leib rieb.
Der Förster Kniebusch saß also still und spähte. Er war jetzt ganz sicher, daß der andere auch saß und spähte, daß der andere auch saß und nur auf sein Fortgehen wartete. Zuerst war der Förster unentschlossen, dann aber überlegte er sich den Fall und erkannte: der andere hatte recht. Er als die Behörde gewissermaßen mußte zuerst gehen und dadurch zum Ausdruck bringen, daß er auf die Verfolgung des Falles verzichtete.
Langsam, leise und vorsichtig stand der Förster auf, immer den schwarzen Fleck genau im Auge behaltend. Er machte ein Schrittchen, noch ein Schrittchen – doch beim dritten Schrittchen kam er ein zweites Mal zu Fall, und natürlich gerade über den Mann, von dem er fortging. Der schwarze Fleck war gar nichts gewesen; direkt neben seine allerneueste Neuigkeit setzte sich der Förster, ja teilweise sogar darauf!
Er wäre gerne gleich wieder hochgefahren und losgelaufen, aber er hatte sich in den Rahmen des gestürzten Fahrrades gesetzt, und das hatte mit Kleidern, Pedalen, Kette, Büchsenriemen und Satteltasche einige Verwirrung gegeben, ganz abgesehen von dem Schmerz, den das hastige Niedersitzen auf die dünnen Stahlstangen und zackigen Pedale hervorgerufen hatte.
So saß der Förster da, recht durcheinandergeschüttelt, körperlich wie seelisch, und wenn er zuerst noch gedacht hatte: Ich muß weg!, so konnte er doch allmählich nicht umhin, zu bemerken, daß der Leib, auf dem sein Arm lag, etwas regungsloser war, als er bei einem bewußten, wartenden Menschen gewesen wäre.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der stahlharte Entschluß anderen Entschlüssen Platz machte. Aber schließlich brachte es Kniebusch doch über sich, seine elektrische Taschenlampe einzuschalten. Als das aber erst einmal geschehen und der Lichtkegel auf das bleiche, einseitig geschundene Gesicht des Bewußtlosen gefallen war, da ging es schon rascher, und von der Erkenntnis, daß dies der berüchtigte Schubbejack Bäumer aus Altlohe war, wehrlos wie ein Lamm in seine Hände gegeben, bis zu dem Entschluß, diesen elenden Raufbold und Wilddieb ins Kittchen zu bringen, war nur ein Schritt.
Während der Förster mit Stricken und Riemen aus dem Bäumer ein Paket machte, wie es besser und sicherer keine Packerin eines Warenhauses schnüren kann, dachte er darüber nach, daß er mit dieser »Verhaftung« nicht nur beim alten Geheimrat und jungen Rittmeister großen Ruhm ernten würde. Weil nämlich der Bäumer ein Erzlump, ein Rädelsführer, ein Oberdieb, ein Wilderer und völlig ein Pfahl in jedem Besitzerfleische war – was alles der Sechserbock in seinem Rucksack und der Karabiner am Fahrrad klar bewies! Aber viel wichtiger als dieser Ruhm war dem alten Kniebusch doch, daß er auf diese risikolose Art seinen gefährlichsten Feind für lange Zeit aus dem Wege räumte, der ihm schon oft Prügel angedroht, wenn der Förster es wagen sollte, sein Holzwägelchen einmal zu durchsuchen. Daß dieser gefährliche Feind, der stark für drei war, so wehrlos ihm in die Hände gegeben war, dies mußte wahrhaftig eine Schickung des Himmels sein, die jeden stahlharten Entschluß zu Recht umstieß und weich machte.
Und so zog und schnürte der Förster die Knoten mit einem so innigen Behagen fest, als habe er eben den größten Glücksfall seines Lebens erfahren.
Fräulein Jutta von Kuckhoff hätte ihm freilich sagen können, daß man den Speck erst loben soll, wenn man das Schwein geschlachtet hat.