8

Der Hund schlief noch immer, auch die Katze schlief, noch schlief die Georgenkirchstraße.

Das Mädchen Petra Ledig stand in dem Torweg zu den Hinterhöfen des Hauses, im Schatten. Vor ihr flimmerte die Straße von weißer, erbarmungsloser Hitze; das grelle Licht tat in den Augen weh; was sie sah, verlor die Umrisse, schien zu zerfließen. Dann schloß sie die Lider, und nun kam Schwärze in ihren Kopf, Schwärze mit plötzlich aufflackerndem, schmerzendem Purpurrot.

Darein hörte sie Uhren schlagen – es war gut, so verging Zeit. Zuerst hatte sie gemeint, sie müsse irgendwohin gehen, etwas tun. Aber als sie fühlte, wie in den Augenblicken halben Dämmerns die Zeit verrann, wußte sie, daß sie nur hier zu stehen und zu warten hatte. Er mußte ja kommen, jeden Augenblick mußte er kommen, er brachte Geld mit. Dann würden sie losgehen, um die Ecke war ein Bäckerladen, daneben der Fleischer. Sie fühlt, wie sie hineinbeißt in die frische Schrippe: sie kracht, das gelblichbraune Äußere, ihre krosse Hülle zerbricht, kleine flache, spitze Splitter bleiben am Rande. Das Innere ist weißlich locker.

Nun schiebt sich wieder etwas Rötliches dazwischen, sie versucht es zu erkennen bei geschlossenen Augen, sie kann das auch, denn es ist ja nicht außer ihr, es ist in ihr, in ihrem Hirn: kreisrunde, kleine, rötliche Flecke. Was kann das nur sein –? Und plötzlich weiß sie: es sind Erdbeeren! Natürlich, sie ist ja weitergegangen, sie steht gar nicht mehr in dem Bäckerladen, sie ist in einem Gemüsegeschäft. In einem Spankorb liegen die Erdbeeren. Sie duften frisch, sie riecht es – oh, wie sie es riecht! Die Erdbeeren liegen auf grünen Blättern, die auch frisch sind … Es ist alles sehr milde und sehr frisch – nun läuft auch noch Wasser, ganz klar und kühl …

Mühsam reißt sie sich von ihrem Traumbild los, aber das Wasser läuft so eindringlich, es plätschert so, als habe es ihr etwas zu sagen. Langsam öffnen sich ihre Augen, langsam erkennt sie wieder den Torweg, in dem sie noch immer steht, die gleißende Straße – endlich den Mann vor sich, der etwas zu ihr sagt, einen ältlichen Mann mit gelbem, dürrem Gesicht und gelbgrauen Koteletten, einen steifen schwarzen Hut auf dem Kopf.

»Wie –?« fragt sie mit Anstrengung und muß es noch einmal fragen, denn beim ersten Male gab es in dem dürren, vertrockneten Munde nur ein kleines, unverständliches Geräusch.

Mancher ist in der Zeit, da sie hier stand, an ihr vorübergegangen. Sah er wirklich die Gestalt im Torgang, beschattet vom offenstehenden Torflügel, ging er nur schneller. Es ist arme Gegend und blutarme Elendszeit, überall, zu jeder Tagesstunde stehen die Elendsgestalten von Frauen, Mädchen, Witwen, Hunger und Elend in den Gesichtern, die unmöglichsten Fetzen auf den Leib gezogen, der – allerletzte Rettung – noch einen Käufer finden soll. Die um ihre Rente gebrachten Kriegswitwen, die Arbeiterfrauen, denen der Wochenlohn auch des nüchternsten, des fleißigsten Mannes mit jeder Dollarentwertung aus der Hand gelistet wird, Mädchen, fast noch Kinder, die das Elend der kindlichen Geschwister nicht mehr ansehen können – jeden Tag, jede Stunde, jede Minute schlagen sie die Tür ihrer Höhlen, in denen Hunger ihr Geselle, Sorge ihr Bettgenosse war – schlagen sie die Tür endgültig hinter sich zu und sprechen: »Jetzt tue ich es! Für was denn aufbewahren? Für ein noch größeres Elend? Für die nächste Grippe? Für Armenarzt und Armensarg? Alles flieht, eilt, hastet, verändert sich – und ich soll mich bewahren?!«

Da stehen sie, in jedem Winkel, zu jeder Zeit, frech oder verängstigt, geschwätzig oder wortlos, bittend, bettelnd: »Ach, nur eine Tasse Kaffee und eine Schrippe …«

Es ist arme Gegend, Georgenkirchstraße. Der Kassierer der Gasgesellschaft, der Zwischenmeister der Konfektion, der Briefträger – sie gingen nur ein wenig schneller, als sie das Mädchen sahen. Sie verzogen nicht das Gesicht, kein freches Wort, kein Scherz, kein Gedanke an Mätzchen. Nur schnell weiter und vorbei, damit nicht ein Wort, ein Flehen, ein doch zu Herzen gehendes Flehen jenes Herz zu einem Geschenke verführt, das nicht gegeben werden darf. Denn auf jeden wartet zu Haus die gleiche Sorge, jedem im Nacken hockt der böse Gnom – wer weiß, wann meine Frau, meine Tochter, mein Mädchen so stehen wird, im Schatten des Torflügels den ersten Tag, bald aber auf heller Straße! Nichts gesehen haben und vorbei, kein Murmeln erreicht unsere Ohren. Allein bist du, allein bin ich, allein sterben wir alle – rette sich, wer kann!

Aber nun ist eben doch einer vor Petra stehengeblieben, ein älterer Herr mit Melone, gelblichem Eulengesicht und gelben Eulenaugen.

»Wie –?« hat sie schließlich ganz deutlich gefragt.

»Na, Fräulein!« Er schüttelt ein bißchen mißbilligend den Kopf. »Ob hier Pagels wohnen?«

»Pagels –?« Er will also nicht so etwas, er fragt nach Pagels. Pagels, mehrere Pagels, mindestens zwei. Sie möchte verstehen, wer das ist, was er will, vielleicht ist es für Wolfgang wichtig … »Ja –?« Sie versucht, sich zusammenzunehmen, dieser Herr will etwas von ihnen. Er darf nicht erfahren, daß sie zu Wolfgang gehört, sie, die so im Torweg steht. »Pagels –?« fragt sie noch einmal, um Zeit zu gewinnen.

»Ja, Pagels! Na, Sie wissen es wohl nicht! Bißchen getrunken, was?« Er zwinkert mit den Augen, er scheint ein ganz gutmütiger Mann zu sein. »Müssen Sie nicht tun, Fräulein, am Tage. Abends meinethalben. Aber am Tage ist es ungesund.«

»Doch, Pagels wohnen hier«, sagt sie. »Aber sie sind nicht da. Sind beide weggegangen.« (Denn er darf nicht hinauf zur Thumann – was würde er da alles zu hören bekommen, es könnte Wolfgang schaden!)

»So? Beide weggegangen? Wohl zur Trauung, wie? Dann müssen sie aber zu spät gekommen sein. Das Standesamt ist schon dicht gemacht.«

Auch das weiß er! Wer kann es bloß sein? Wolfgang hat immer gesagt, er hat keine Bekannten mehr.

»Wann sind sie denn weggegangen?« fragt der Herr wieder.

»Vor einer halben Stunde. Nein, schon vor einer Stunde!« sagt sie hastig. »Und sie haben mir gesagt, sie kommen heute nicht wieder.«

(Er darf nicht zur Thumann hinauf! Nur nicht!)

»So, haben sie Ihnen das gesagt, Fräulein?« fragt der Herr, plötzlich mißtrauisch. »Sie sind wohl befreundet mit Pagels?«

»Nein! Nein!« protestiert sie hastig. »Sie kennen mich nur vom Sehen. Es ist nur, weil ich hier immer stehe, daß sie es mir gesagt haben.«

»So …«, sagt der Herr nachdenklich. »Na, dann danke ich auch schön.« Und er geht langsam durch den Torweg auf den ersten Hof.

»Ach bitte!« ruft sie mit schwacher Stimme, geht sogar einige Schritte hinter ihm her.

»Was denn noch?« fragt er, dreht sich um, geht aber nicht wieder zurück. (Er will durchaus hinauf!)

»Bitte!« sagt sie flehentlich. »Das da oben sind so schlechte Leute! Glauben Sie nicht, was Ihnen die von Herrn Pagel sagen. Herr Pagel ist ein sehr feiner, ein sehr anständiger Mann – ich, ich habe nie etwas mit ihm zu tun gehabt, ich kenne ihn wirklich nur vom Sehen …«

Der Mann steht mitten im grellen Sonnenschein auf dem Hof. Er sieht scharf zurück auf Petra, aber er kann sie sicher nicht genau erkennen, wie sie dasteht im dämmrigen Torweg, eine leichte, schwache Gestalt, den Kopf ein wenig vorgebeugt, die Lippen halb geöffnet, gespannt nach der Wirkung ihrer Worte ausschauend, die Hände flehentlich auf die Brust gelegt.

Er reibt den gelbgrauen Bart nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger; nach einem langen Überlegen sagt er: »Keine Angst, Fräulein. Ich glaube auch nicht alles, was mir die Leute erzählen.«

Es klingt nicht bissig, vielleicht ist es gar nicht auf sie gemünzt, es klingt sogar freundlich.

»Ich kenne den jungen Herrn ganz gut. Ich habe ihn gekannt, als er noch so klein war …«

Und er zeigt einen unwahrscheinlich winzigen Abstand von der Erde. Damit aber ist es genug – er nickt Petra noch einmal zu und verschwindet endgültig im Durchgang zum zweiten Hof.

Petra aber gleitet zurück in ihren Schutzwinkel hinter dem Torflügel. Sie weiß jetzt natürlich schon, sie hat alles falsch gemacht, sie hätte diesem alten Herrn, der Wolfgang schon als Kind gekannt hat, gar keine Auskunft geben müssen, nein, sie hätte sagen müssen: Ich weiß nicht, ob hier Pagels wohnen …

Aber sie ist zu müde, zu zerschlagen, zu krank, um darüber weiter nachzudenken. Sie will hier nur stehenbleiben und warten, bis er wieder zurückkommt. Dann wird sie ihm die erhaltene Auskunft vom Gesicht ablesen. Sie wird ihm sagen, was für ein wundervoller Mensch Wolfgang ist, der nie etwas Böses tut, nie jemandem Übles zufügt … Und während sie den Kopf an die kühle Wand legt, die Augen schließt und diesmal fast unwillig die Schwärze kommen spürt, die Fernsein von ihrem Ich und ihren Sorgen bedeutet – währenddem versucht sie, den alten Herrn auf seinem Wege über den Hinterhof zu begleiten. Dann treppauf bis zur Tür der Frau Thumann. Sie meint ihn klingeln zu hören, und nun möchte sie über sein Gespräch mit Frau Thumann nachdenken … Sie wird reden, die Frau, ach, sie wird reden, alles auskramen, sie beide mit Dreck bewerfen, über das verlorene Geld jammern …

Doch plötzlich taucht ihrer beider Zimmer auf, diese häßliche Höhle ist übergoldet vom Schein ihrer Liebe … Ferner und ferner verklingt die Stimme der Pottmadamm, hier haben sie beide gelacht, geschlafen, gesprochen, gelesen … Er stand zähneputzend am Waschtisch, sie sagte etwas …

»Jetzt versteh ich nichts!« schrie er. »Red lauter!«

Sie tat es.

Er putzte. »Lauter! – Verstehe kein Wort, noch lauter!«

Sie tat es, er putzte, schäumte. »Lauter, sag ich!«

Sie tat es, sie lachten …

Hier waren sie gemeinsam gewesen, zusammen, sie hatte auf ihn warten dürfen, nie umsonst …

Und plötzlich sah sie, in einem raschen, schmerzenden Blinzeln, die Straße, wußte, sie ging weiter … Märchenbrunnen … Hermannspark … weiter, immer weiter, immer noch Stadt … Und nun Land, endloses Land, mit Feldern und Wäldern, Brücken, Büschen … Und wieder Städte voller Häuser mit Torwegen, und wieder Land und Wasser, ungeheure Meere … und wieder Länder und Land und Stadt, unfaßbar … Und die Möglichkeit, hinauszugehen, alles hinter sich zu lassen, die tausend Möglichkeiten des Lebens, an jeder Ecke, in jedem Dorf … Alles dieses aber, verwirrte es sich in ihrem Hirn, will ich hingeben und dich anbeten, wenn du mir unser Zimmer wiederschenkst und das Warten auf ihn in ihm …

Langsam wurde es schwarz. Alles löschte aus, die Welt wurde undeutlich. Die Schwärzefetzen flogen darüber hin, verdeckten sie … Einen Augenblick meinte sie noch die Gardinen des Zimmers zu sehen, gelblichgrau, schlaff und reglos in der ungeheuren Schwüle hängend – dann verlöschte auch das zu Nacht.

Aber auch die Nacht barg keine Ruhe für sie, nun leuchtete es rot in ihr auf, mit einem glühenden, bösen Rot … ach, der Hund von drüben war aufgestanden. Größer und größer werdend, kam er über die Straße auf sie zu. Sein gähnender Rachen mit den spitzen, scharfen Eckzähnen war schon über ihrem Kopf. Böse rot die Augen, böse rot die drohenden Fänge, und nun legte er mit ungeheurem Gewicht seine Pfote auf ihre Schulter, sie schreit vor Angst, aber kein Ton drang bis an ihr Ohr. Sie sinkt hin …

Der Diener Ernst, die Hand auf ihrer Schulter, sagt mahnend: »Fräulein, bitte! Fräulein!!«

Von weit her sah ihn Petra kommen und fragte doch gleich, als habe die Frage seit seinem Fortgehen dringend in ihr gewartet: »Was haben die gesagt?«

Der Diener bewegte zweifelnd die Schultern. Dann: »Wo ist der junge Herr hin?« Er sieht sie zögern, er sagt beruhigend: »Vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren, ich bin bloß der Diener von seiner Tante. Ich erzähl schon nichts, was ich nicht will.«

Und sie, da er doch Schlimmeres nicht erfahren kann, als er oben schon gehört haben wird: »Fort. Geld besorgen.«

»Und ist nicht wiedergekommen?«

»Nein. Noch nicht. Ich warte.«

Sie standen beide eine Weile schweigend da, sie geduldig wartend, was das Schicksal und vielleicht dieser Mann für sie bereithielt, er unschlüssig, ob er so einfach fortgehen könne, seiner Herrin zu berichten. Unschwer war zu erraten, was Frau Generalmajor von Anklam über dieses Mädchen dachte, was sie zu tätiger Hilfe sagen würde. Immerhin …

Der Diener Ernst trat langsam aus dem Torweg auf die Straße, sah unschlüssig auf und ab, der Erwartete war nicht zu sehen … Einen Augenblick hatte er den Gedanken, einfach fortzugehen. Er glaubte genau zu wissen, daß dieses Mädchen ihn mit keinem Wort daran hindern würde. Es war die einfachste Lösung, jede andere konnte ihm Schwierigkeiten bei Exzellenz machen. Oder aber ihn Geld kosten – und je wertloser das vom Diener Ernst in einem Menschenalter ersparte kleine Kapital wurde, um so fester hing er an diesen Scheinen mit den unsinnigen Zahlen. Zu Haus in seiner kleinen Kammer füllte er eine blecherne Teepackung nach der andern mit ihnen …

Trotzdem …

Er sah noch einmal die Straße auf und ab: nichts. Zögernd, ein wenig unwillig über sein eigenes Tun, ging er in den Torweg zurück und fragte ebenso widerwillig: »Und wenn der junge Herr nun kein Geld bringt?«

Sie sah ihn nur an, mit einer leichten Bewegung des Kopfes – schon die vage Aussicht in diesen Worten, Wolfgang könne doch noch kommen, wenn auch ohne Geld, belebte sie.

»Und wenn er gar nicht wiederkommt, was tun Sie dann!«

Ihr Kopf sank ein wenig nach vorn, die Lider schlossen sich – ohne daß ein Wort laut wurde, war klar genug, wie gleichgültig ihr dann alles war.

»Fräulein«, sagte er zögernd, »ein Diener verdient nicht viel. Und dann habe ich ja auch all mein Erspartes verloren, aber wenn Sie dies nehmen wollen …«

Er versucht, ihr einen Schein in die Hand zu schieben. Er hat ihn aus der abgegriffenen, dünnen Brieftasche gewählt: »Fünfzigtausend.« Und da sie ihre Hand zurückzieht, dringender: »Nein, nein, Sie können das ruhig nehmen. Es ist ja nur das Fahrgeld, damit Sie auch nach Haus kommen.« Er stutzt, überlegt. »Sie können doch hier nicht so weiterstehen! Sicher haben Sie irgend jemand Verwandtes, zu dem Sie erst einmal fahren können.«

Wieder bricht er ab. Ihm ist eingefallen, daß sie in diesem Aufzug, die Beine bis über die Knie nackt, nur in vertretenen Hausschuhen, mit einem jämmerlichen Herrenpaletot, der zuviel Brust sehen läßt, unmöglich auf eine Elektrische steigen kann.

Er steht da, betreten, verlegen, fast schon ärgerlich. Er möchte ja helfen, aber Herrgott! – wie hilft man denn da? Er kann sie doch nicht mit sich nehmen, einkleiden – und schließlich: was dann?!

»O Gott, Fräulein!« sagt er plötzlich traurig. »Wie hat es nur der junge Herr so weit kommen lassen können?!«

Petra aber hat nur eines verstanden. »Sie meinen also auch, daß er nicht wiederkommt?«

Der Diener bewegt die Schultern. »Wie kann ich das wissen? Haben Sie sich denn gezankt? Sie wollten doch heute heiraten?«

Heiraten – richtig! Das Wort erreicht sie noch, sie hat gar nicht mehr daran gedacht. »Wir heiraten heute, ja …«, sagt sie und lächelt vage. Sie erinnert sich, daß sie heute den Namen »Ledig« verlieren sollte, der immer etwas gewesen war wie ein Makel. Sie erinnert sich daran, wie sie erwachte und nicht nach seiner Geldtasche zu sehen wagte und doch noch sicher war: heute würde es sein! Dann waren die ersten Zweifel gekommen, seine unentschlossene Haltung, als sie ihn drängte, dann forderte, dann bat … Und wie sie gefühlt hatte, beim Zuschlagen der Tür schon: heute wird es nun doch nicht sein!

Aber plötzlich dann (und unbegreiflich, doch geschehen: der Hunger hatte ihr brennendes Hirn selbst das vergessen lassen) – plötzlich war vor dem Spiegel die Erkenntnis über sie gekommen, das Wissen, daß er wohl gegangen, aber doch bei ihr geblieben war, ewig unverlierbar in ihr. Was dann geschehen war: das bettelnde Hocken in der Thumannschen Küche mit dem Schielen nach Idas Schnecken, die Austreibung, das tatenlose Warten hier im Durchgang – das hatte nur der Hunger gemacht, arglistiger Feind im Leib und Hirn, der sie hatte vergessen lassen, was nie vergessen werden durfte: dies in ihr.

Was war denn los mit ihr? War sie denn verhext und verzaubert?! Sie hatte es doch immer noch geschafft in ihrem Leben, die Mutter hatte sein mögen mit ihr so roh, wie sie nur konnte – ein paar Tränchen, aber weiter! Die liebenswürdigen Kavaliere mit den messerscharfen Bügelfalten auf der Mädchenjagd mochten nachher noch so gemein und geizig sein – die Zähne zusammen, aber weiter! Wolfgang mochte wiederkommen oder nicht wiederkommen – schlimm, traurig, böse … Aber zweiundzwanzig Jahre lang hatte sie nur um der eigenen Person willen jeden Dreck gefressen – und jetzt sollte sie hier stehen, tatenlos, bestellt und nicht abgeholt – da zum ersten Male im Leben ein anderes auf sie angewiesen ist, auf sie ganz allein, und keine andere Frau auf der Welt kann sie ersetzen – einfach lächerlich!

Eine Fülle von Gedanken strömt auf sie ein, sie kann es alles gar nicht so schnell erfassen. Nachdem der Hunger ihren armen Kopf eine Zeit in Schwärze und vage Träume versenkt hat, macht er ihn jetzt überlebendig, ganz wach und klar: Es ist aber alles ganz einfach. Sie hat für jemanden zu sorgen, und da dieser Jemand in ihr ist, muß sie zuerst für sich sorgen – nichts ist selbstverständlicher. Alles andere findet sich dann schon.

Und während sie dies denkt, denkt sie auch schon anderes in ihrem Kopf. Sie macht Pläne, was sie zu tun hat, später, aber auch jetzt gleich. Und darum sagt sie plötzlich ganz klar und bestimmt: »Ja, es ist nett von Ihnen, daß Sie mir das Geld geben wollen. Ich kann es sehr gut gebrauchen. Danke schön!«

Der Diener sieht sie verblüfft an. Es ist nur der Bruchteil einer Minute vergangen, seit er sie daran erinnert hat, daß sie heute heiraten wollte. Der Diener Ernst kann nicht ahnen, welche Gedanken dieser eine Satz in ihrem Hirn wachgerufen hat, was alles sie in diesen wenigen Sekunden erlebte und plante. Er sieht nur die Veränderung in ihrem Gesicht, das plötzlich nicht mehr schlaff, das voller Leben ist, sogar Farbe hat es bekommen. Er hört plötzlich statt der zögernden, halblauten Sprache einen energischen Ton, fast schon Befehl. Ohne auch nur zu überlegen, hat er ihr das Geld in die Hand gelegt.

»Na, Fräulein«, sagt er überrascht und wieder leise geärgert, »plötzlich sind Sie ja so munter! Warum denn? Das Standesamt ist schon zu. Ich glaube wirklich, Sie haben einen sitzen.«

»Nein«, antwortet sie. »Mir fiel nur plötzlich etwas Gutes ein. Und daß ich Ihnen so komisch vorkomme, liegt nicht am Trinken. Aber ich habe nichts gegessen, ziemlich lange schon, und davon wird einem so komisch im Kopf …«

»Nichts gegessen!« empört sich nun wirklich der Diener Ernst, der all sein Lebtage stets zur bestimmten Stunde seine bestimmte Mahlzeit gegessen hat. »Nichts zu essen! Aber so etwas sollte der junge Herr nun wirklich nicht machen!«

Sie sieht ihn an, mit einem halben, verlorenen Lächeln. Sie weiß, was in seinem Kopf vorgeht, was er denkt und voller Empörung fühlt, und sie muß über ihn lächeln. Denn dieses Mal, da der brave, wohlerzogene Diener Ernst, ergraut im Umgang mit den ersten Kreisen, wirklich einmal für sie Stellung nimmt und gegen den jungen Herrn, dieses Mal spürt sie so recht, wie weit Menschen voneinander leben. Der junge Herr hätte sie schlecht behandeln dürfen, er hätte sie betrügen dürfen, er hätte sie sitzenlassen dürfen – das alles hätte den guten Diener Ernst (und seine meisten Mitmenschen) nicht gar so sehr empört. Aber daß er ihr nichts zu essen gab –! Nein, so etwas tat man nun wirklich nicht!!

Er betrachtet sie mit gerunzelter Stirn, sie kann ihm ansehen, vor wie großen Entschlüssen er steht, da macht sie es ihm leicht. »Wenn Sie mir bloß ein paar Schrippen holen wollten!« sagt sie. »Hier gleich um die Ecke ist ein Bäckerladen. Und dann brauchen Sie sich keine Sorgen mehr um mich zu machen. Sobald ich ein bißchen gegessen habe, komme ich schon zurecht. Ich habe einen Plan …«

»Natürlich hole ich Schrippen«, sagt er eifrig. »Und vielleicht sonst noch etwas, etwas zu trinken, Milch, ja?«

Er hastet davon, er geht in drei, vier Läden: Butter, Brot, Semmeln, Wurst, ein paar Tomaten … Er denkt nicht mehr an sein Geld, die Ersparnisse … Die Tatsache, daß ein Mensch Hunger hat, aber nichts zu essen, hat ihn ganz verwirrt. So etwas hätte der junge Herr nicht tun dürfen, denkt er immer wieder. Sie mag sein, wie sie will, aber hungern lassen – nein!

Er ist gelaufen, hat sich und die schläfrigen Ladeninhaber gehetzt, alles mußte eilig gehen, schnell. Am liebsten hätte er gesagt: Bitte, es ist nämlich für einen Menschen, der verhungert … – Aber nun, da er zurückkommt, steht er noch verwirrter: sie ist nicht da. Nicht im Torweg, auf der Straße nicht, auch nicht auf dem Hof. Sie ist fort!

Zögernd entschließt er sich, noch einmal zu der Thumann hinaufzusteigen, sicher nicht sehr gerne, denn diese hemmungslos Geschwätzige hatte für ihn eine gar zu fatale Ähnlichkeit mit Ihrer Exzellenz, Frau Generalmajor Bettina von Anklam. Aber er bekam nur die Ida zu sehen, halb schon gewerblich, halb noch häuslich bekleidet, was ihn ziemlich erschreckte. Und diese junge Dame erkundigte sich sehr ungnädig bei ihm, ob es wohl piepe in seinem Hirnkasten, denn: »Det Aas kommt mir nich wieder rin! Wenn die bloß schellt, hat se schon ’ne Schelle! Nee, wat sich solche Leute alles einbilden –!«

Diener Ernst steigt wieder treppab, geht wieder über die Höfe, kommt wieder in den Torgang.

Im Schatten des Torflügels steht niemand. Kopfschüttelnd geht er auf die Straße: nichts. Diese Tüten und Päckchen mit Lebensmitteln, diese Flasche voll Milch, das kann er doch nicht mit zu seiner Herrschaft nehmen. Fräulein sähe es sicher, und sicher erzählte Fräulein es Ihrer Exzellenz.

Er kehrt wieder um, baut seine Besorgungen im tiefsten, dunkelsten Winkel hinter dem Torflügel auf und geht endgültig ab, nicht ohne sich noch häufig umzusehen. Erst als er in der Untergrund sitzt, denkt er nicht mehr zurück, kann er wieder vorausdenken.

Was sage ich bloß Exzellenz –?!

Nach sorgfältiger Überlegung beschließt er, möglichst wenig zu sagen.

Wolf unter Wölfen
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