Es fing damit an, daß das Telefon läutete auf dem Büro.
Wolfgang Pagel war grade dabei, eine telegrafische Postanweisung auszuschreiben an die gnädige Frau, und Amanda Backs war eine Treppe darüber damit beschäftigt, sich warm und wetterdicht einzupacken für eine Radfahrt durch Winterwind und Herbstregen nach der Kreisstadt. Denn dort auf dem Postamt mußte die Anweisung aufgegeben werden, und die beiden einsamen Hühner wußten niemanden sonst in Neulohe, dem sie das Geld gerne anvertraut hätten, runde zweitausend Rentenmark …
Da also klingelte das Telefon …
Das Telefon klingelt verschieden, es klingelt mal hell, mal dunkel, mal nüchtern und gleichgültig und nun wieder herrisch und eilig … Und danach haben wir unsere Vorahnungen, was das für ein Gespräch sein könnte, und manchmal treffen unsere Vorahnungen sogar ein …
Pagel sah kurz auf zu dem dunkel und herrisch klingelnden Apparat –: Das ist etwas! dachte er, nahm den Hörer ab und meldete sich als Gutsverwaltung Neulohe.
Eine ziemlich grobe Stimme verlangte Frau von Prackwitz zu sprechen.
»Frau von Prackwitz ist nicht zu sprechen«, antwortete Pagel. »Frau von Prackwitz ist verreist.«
»So«, sagte die grobe Stimme, wie es schien, etwas enttäuscht. »Ausgerechnet jetzt ist sie verreist. Wann kommt sie denn zurück?«
»Das kann ich nicht sagen, diese Woche nicht mehr. Kann ich ihr etwas ausrichten? Hier spricht der Inspektor von Neulohe.«
»Sie sind also noch da?«
»Ich weiß nicht, was Sie eigentlich wollen«, rief Pagel etwas ärgerlich. »Wer sind Sie denn eigentlich?«
»Dann bleiben Sie auch da!« sagte die grobe Stimme, und Pagel hatte das Gefühl, der andere hing ab.
»Halt!« schrie Pagel. »Wer Sie sind, möchte ich wissen …«
Aber im Apparat summte es nur, summte, summte …
»Hör zu, Amanda«, sagte Pagel, »was eben hier geschehen ist …«
Und er erzählte es ihr.
»Und was denken Sie sich dabei?« fragte Amanda. »Das ist einer, der hat Sie bei der Gnädigen verklatschen wollen, oder er hat Sie auch nur so auf den Arm nehmen wollen …«
»Nein, nein«, sagte Pagel zerstreut. »Ich denke immer …«
»Nun, was denken Sie –?« fragte Amanda.
»Ich denke immer, es könnte irgendwie mit Fräulein Violet zusammenhängen.«
»Mit der Violet? Aber wieso denn? Warum soll sich denn einer wegen Fräulein Violet so dußlig am Apparat benehmen?! Nee, nun geben Sie mir mal die zweitausend Mark, die Anweisung ist wohl fertig? Ich muß sehen, daß ich wegkomme. Bei völliger Nacht möchte ich auch nicht in diesem Wetter zurückstrampeln müssen.«
»In einem Augenblick bin ich mit meiner Schreiberei fertig«, sagte Pagel und setzte sich wieder daran.
Das Telefon klingelte, es klingelte hell und lange, gewissermaßen langweilig und blechern.
»Ein Händler«, sagte Pagel zu Amanda, nahm den Hörer und meldete die Gutsverwaltung Neulohe.
Es kam aber Berlin …
»Die gnädige Frau«, flüsterte Pagel zu Amanda.
Es kam aber ein Händler, es kam ein großer Handelsmann.
»Sind Sie da, junger Mann?« rief die bekannte Krähstimme.
»Jawohl, Herr Geheimrat!« rief Pagel, grinste und warf Amanda einen erheiterten Blick zu. »Pagel heiße ich übrigens.«
»Na, denn is ja jut … Sehen Sie, det hatte ich nu schon janz wieder vajessen. Is unhöflich, aber nicht zu ändern. – Nu hören Sie mal gut zu, junger Mann …«
»Pagel ist mein Name.«
»Nu ja, det weiß ick ja jetzt!« rief der Geheimrat etwas ärgerlich. »Ich muß es ja nicht grade am Telefon auswendig lernen! Bedenken Sie, det Jespräch kostet einszwanzig, und det ist leider mein Jeld, wat es kostet … Nu hören Sie also mal gut zu …«
»Ich höre, Herr Geheimrat.«
»Ich komme mit dem Zehnuhrzug heute abend an. Da schicken Sie mir den Hartig zur Bahn mit den beiden ollen Kutschbraunen …«
Die sind ja verkauft! wollte Pagel sagen, aber dann: Lieber nicht, er wird’s von selbst merken.
»Und Decken schicken Sie mit – daß mir die Zossen am Bahnhof gut zugedeckt sind! Der Hartig ist man dußlig – der hat wohl seinen Verstand unter die vielen Kinder aufgeteilt –«
Pagel platzte los.
»Na, sehen Sie, da lachen Se schon«, sagte der Geheimrat zufrieden. »Hoffentlich lachen Sie morgen früh auch noch, wenn ich da bin. Ick bringe nämlich noch ’nen Herrn mit, so ’nen Bücherrevisor … Soll kein Mißtrauensvotum gegen Sie sein, aber wo mein Herr Schwiegersohn so heimlich ausgekniffen ist, müssen wir doch was machen wie ’ne Bestandsaufnahme und Kassen- und Bücherübergabe. – Das verstehen Sie doch, junger Mann?!«
»Verstehe ich vollkommen, Herr Geheimrat. – Pagel war mein Name.«
»Ist doch alles in Ordnung, Mensch?« fragte der Geheimrat mit plötzlicher Besorgnis.
»Alles in Ordnung«, sagte Pagel grinsend. »Sie werden es ja selbst sehen, Herr Geheimrat!«
Amanda hätte fast losgequietscht. Sie hörte längst am Hörer mit.
»Na also!« sprach der Geheimrat. »Ja, Frollein vom Amt, ick habe gute Nachrichten, ick lege noch drei Minuten zu. – Nu aber fix, junger Mann. Also lassen Sie zwei Zimmer in meinem Katen heizen, mein Schlafzimmer und das kleine Fremdenzimmer. – Meine Frau bleibt erst noch mal hier. Die will erst hören, daß die Luft wieder rein ist bei euch in Neulohe.« Wieder mit Besorgnis: »Es ist doch nicht noch mehr passiert bei euch?«
»Doch, allerlei, Herr Geheimrat.«
»Mensch, erzählen Sie mir das bloß nicht am Telefon, das höre ich morgen alles noch viel zu früh. – Die Amanda, die Dicke mit den Knallbacken, wissen Se …«
Amanda hätte fast ja gesagt …
»Die kann ja nu mal Mädchen für alles spielen. Ja, und mein Arbeitszimmer soll sie auch heizen. Aber nicht das Eßzimmer. Sparen müssen wir, Geld wird immer knapper. Und eure Wirtschafterei – sagen Sie mal, Herr Pagel, haben Sie so ’n bißchen Geld in der Kasse?«
»Wenig, Herr Geheimrat. Genauer gesagt: nichts!«
»Aber wie denkt ihr euch denn das?! Ich denke, ihr habt ein bißchen Pacht zusammengekratzt? Ihr könnt doch nicht so einfach … Na also, davon reden wir morgen ernsthaft. – He, und noch eins, Herr Pagel! Der Förster, der olle Kniebusch, liegt denn der noch immer faulkrank im Bett –?«
»Nein, Herr Geheimrat! Ich denke, Ihre Tochter hat Ihnen das geschrieben? Der Förster ist doch gestorben, der Förster ist doch –«
»Schluß!« schrie der Geheimrat wütend. »Schluß! Hätte ich doch die drei Minuten nicht draufgelegt. Nischt wie schlechte Nachrichten … Also um zehne, um zehne an der Bahn! Mahlzeit!«
»Und keine Frage nach seiner Enkelin!« sagte Pagel zu Amanda und hängte an. »Sohn wie Vater, eine Wichse!«
»Na ja«, sagte Amanda, »was soll er denn so tun?! Der ist doch bloß froh, wenn er seinen Hof wiederhat! Aber wie ich das schaffen soll – jetzt noch aufs Postamt und dann die Zimmer im Schloß richten, ein bißchen warm sollen sie doch auch sein …«
»Geben Sie mir das Geld wieder«, sagte Pagel, nahm es, sah Amanda an und steckte es in seine Brieftasche. »Ich hab so ’ne Ahnung, als wenn ich morgen fliegen lernte, und da kann ich es ja schließlich der Gnädigen persönlich bringen. Sparen wir noch das Porto.«
»Schön«, sagte Amanda. »Ich will sehen, daß ich ein paar Frauen aus dem Dorfe kriege. Es muß ja schließlich auch etwas zu essen dasein.«
»Immer los! Ich werde mich noch ein bißchen hinter meine Geschäftsbücher setzen, es hilft zwar auch nichts, in Ordnung kommen die nie, aber ich könnte doch mal versuchen, so etwas wie einen Kassenbestand festzustellen …«
Er setzte sich hin. Als er mit dem Geheimrat gesprochen hatte, war er noch ganz vergnügt und aufgeräumt gewesen, aber nun war die gute Laune verflogen. Wenn er sich jetzt den ollen Rauschebart vorstellte und sein Gebrüll, und wie er rot anlief, und wie er einem auf die Pelle rückte, und wie er roch, und wie er jeden Einspruch niederschrie, und wie er feucht sprühte, wenn er wütend war … Verdammt noch mal, es würde morgen ein sehr bescheidener Tag werden, er, der einzige Prügelknabe für all und jedes. Und was das schlimmste war, er war seiner Nerven auch nicht mehr ganz sicher. Und er haßte es, die Beherrschung zu verlieren. Es machte ihn hinterher ganz elend!
Aber deswegen kneifen?
Nie!
Unterdessen hatte sich wie ein Lauffeuer im Dorf die Kunde verbreitet, der alte Herr komme heute abend zurück und die Weiber putzten schon im Schlosse … Und zwanzig Männlein und Weiblein machten sich ein Gewerbe und gingen am Schloß vorüber, und wenn sie wirklich die Fenster im Zimmer des alten Herrn erleuchtet und offen sahen, so nickten sie zufrieden mit dem Kopfe. Und sie freuten sich sehr auf das, was es morgen früh geben würde –!
Alle hatten sie vergessen, wie sehr sie einmal den jungen Pagel begrüßt hatten, wie sie ihn gerne gemocht und »Junkerchen« genannt hatten und wie glücklich sie gewesen waren, nach dem unanständigen Negermeier den anständigen Pagel bekommen zu haben. Alle promenierten sie am Bürofenster vorüber und versuchten hineinzuschielen, und die Neugierigsten dachten sich ein Anliegen aus, und noch nie war Pagel so oft und so sinnlos bei dem Addieren seiner Millionen-, Milliarden- und Billionenkolonnen gestört worden.
Kamen die Neugierigen aber wieder heraus, so fragten die andern: »Ist er noch da?«
Und wenn die Späher antworteten: »Er sitzt und schreibt«, so schüttelten sie die Köpfe und sagten: »Er hat ja wohl gar keine Scham im Leibe. Packt er denn nicht wenigstens?«
»Was soll er denn packen?« fragten sie wieder. »Der hat bestimmt seinen Kram in Sicherheit gebracht, so oft wie der die letzten Tage in die Stadt gefahren ist!«
Und sie waren sich gar nicht einig, was sie nun eigentlich wünschen sollten: daß Pagel hierbliebe und nach riesigem Krach ins Kittchen wanderte oder daß der Pagel ausrisse und der Alte sich die Platze ärgerte. Beides war schön!
»Paß auf, morgen früh ist er weg!« sagten die einen.
»I wo«, meinten die andern. »Der ist so schlau – den legt nicht mal der alte Herr rein! Das ist der gerissenste Kerl, den wir je auf dem Hof gehabt haben.«
»Eben! Weil er das ist, ist er morgen früh weg.«
Und das war er denn ja auch.