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Vignette

Zehn Tage blieb Elena auf der Farm, und nicht ein einziges Mal bat Aldo sie um Hilfe. Er mühte sich damit ab, sich allein anzuziehen, sich allein zu waschen und allein in den Rollstuhl hineinzukommen und wieder heraus. Beim leisesten Anzeichen von ihr, ihm helfen zu wollen, brüllte er sie an. Sie war so verärgert und entnervt, dass sie ihn am liebsten angeschrien hätte. Nach ein paar Tagen gab sie es auf, ständig um ihn herum zu sein, und erledigte stattdessen einfach ihre Aufgaben. Aldo sah, dass sie und Billy-Ray so hart arbeiteten, dass sie am Abend völlig erschöpft waren. Es machte ihn wütend, dass er nicht mehr tun konnte, aber er wollte immer noch nicht zugeben, dass es falsch war, auf der Farm bleiben zu wollen.

Aldo ließ Billy-Ray eine Rampe bauen, die von der Veranda herunterführte, um Elena zu beweisen, dass er unabhängig war. Er kam die Rampe fortan herunter, aber der Boden war uneben und steinig, und das machte es ihm schwer, den Rollstuhl über das Gelände zu bewegen. Auch kam er allein die Rampe nicht wieder hinauf. Er bat Billy-Ray, eine Seilkonstruktion anzubringen, damit er sich wieder hochziehen konnte, das war das einzige Zugeständnis, das er machte. Billy-Ray um Hilfe bitten zu müssen, war für Aldo genauso fürchterlich, wie Elena zu fragen.

Aldo traf Vorkehrungen, mehr Vieh zu veräußern, weil er hoffte, von dem Geld Saatgut kaufen zu können, doch die Viehpreise hatten einen nie dagewesenen Tiefstand erreicht. Er war gezwungen, die Tiere wegzuschenken oder aber dabei zuzusehen, wie sie verhungerten. Das machte ihn nur noch mutloser.

Elena wusste, dass ihnen sehr bald das Geld ausgehen würde, sie musste also wieder zurück zur Arbeit in die Stadt.

»Den Lohn für Billy-Ray können wir uns im Höchstfall noch eine weitere Woche leisten«, teilte sie Aldo mit.

Aldo gab dazu keinen Kommentar ab. Dass er sich schlichtweg weigerte, offen über die Dinge zu reden, machte Elena erneut wütend. Sie hatte gehofft, er würde sich ändern, aber davon war nichts zu spüren.

Gegen Mitte ihrer zweiten Woche zu Hause fasste Elena einen Entschluss. Sie packte ihren Koffer und stellte ihn auf die Veranda. Dann ging sie in den Stall, um Billy-Ray zu bitten, ihr Pferd vor den Wagen zu spannen.

»Es tut mir leid, aber wir können uns deinen Lohn nicht länger leisten, Billy-Ray«, sagte sie. »Du warst ein tüchtiger Arbeiter und ein guter Freund noch dazu. Ich wünschte, die Dinge lägen anders.«

»Ich weiß, Missus. Sie und der Boss sind immer gut zu mir gewesen. Machen Sie sich nur keine Sorgen. Ich werde was anderes finden.«

»Ich mache mir aber doch Sorgen, Billy-Ray, denn du verdienst wirklich etwas Besseres als das hier. Ich muss zurück an meine Arbeit in die Praxis, ich werde also in die Stadt ziehen, wo ich ein Haus mieten will«, fügte Elena hinzu. »Ich möchte, dass mein Mann mit mir umzieht, denn das wäre das Beste. Aber im Moment will er der Wahrheit, dass er auf der Farm nicht mehr arbeiten kann, noch nicht ins Auge sehen.«

»Lassen Sie den Boss ganz allein hier, Missus?«

»Ich kann ihn nicht zwingen, mitzukommen. Ich hoffe, er kommt von allein zu dem Schluss, dass er auf der Farm nicht mehr leben kann.«

»Ich werde nach ihm sehen«, erklärte Billy-Ray mit gewohnter Loyalität.

»Wir können dich noch eine Woche bezahlen. Wenn diese Woche um ist, Billy-Ray, will ich, dass du von der Farm wegbleibst. Das ist die einzige Möglichkeit, den Boss dazu zu bringen, sich der Realität zu stellen.« Billy-Ray sah Elena ungläubig an. »Es ist zu seinem Besten, Billy-Ray, glaub mir«, fügte Elena hinzu.

Der Viehtreiber nickte.

Elena ging zurück ins Haus. Aldo saß auf der Veranda und schaute nachdenklich über das Land, das er so liebte, seinen Gesichtsausdruck vermochte sie nicht zu deuten. Er schien entschlossen, sie nicht anzusehen, aber sie erkannte an seinem verkniffenen Mund, dass er sehr wohl wusste, dass sie ihn verlassen würde.

»Aldo, ich ziehe in das Haus der Castlemaines auf der Patterson Street. Es ist klein, aber schön möbliert. Von da habe ich es nah zur Arbeit und die Kinder nah zur Schule. Ich möchte, dass du mitkommst, aber ich kann dich nicht dazu zwingen. Wenn du beschließt, dass es Zeit ist, die Farm zu verlassen, melde dich über Funk bei Mr. Kestle, ich komme dann und hole dich ab.«

Aldo drehte den Kopf zu ihr und sah sie herausfordernd an, aber immer noch sagte er kein Wort. In dem Moment brachte Billy-Ray Pferd und Wagen vors Haus. Elena wuchtete ihren Koffer in den Wagen und verabschiedete sich von Billy-Ray. Ein paar Augenblicke später machte sie sich auf den Weg über die Auffahrt Richtung Straße. Sie hätte sich gern umgedreht, aber sie redete sich gut zu, stark zu sein. Es war eine der schwersten Entscheidungen, die sie je getroffen hatte. Als sie schließlich auf die Straße abbog, sah sie vor lauter Tränen nichts mehr.

Elena zog noch am selben Tag in das Haus auf der Patterson Street. Am Abend brachte Luisa Dominic und Maria, die beiden waren schon ganz aufgeregt vor lauter Freude darüber, in einem neuen Haus mit einem großen Garten wohnen zu können. Marcus weigerte sich standhaft, mit umzuziehen. Er warf nicht mal einen Blick auf das Haus. Elena bekümmerte das, aber sie betete täglich, dass er eines Tages in der Lage wäre, ihr zu verzeihen.

»Wie wird Aldo denn nur ohne dich zurechtkommen, Elena?«, fragte Luisa. Auch wenn sie ihn nicht ausstehen konnte, wollte sie doch nicht, dass er verhungerte. »Wie wird er sich denn allein etwas zu essen machen?«

»Das weiß ich nicht, Mamma, aber er hat es sich in den Kopf gesetzt, dass er mich nicht braucht. Ich hoffe nur, er kommt bald zur Vernunft.«

Luisa mochte kaum glauben, dass Elena Aldo sich selbst überlassen hatte, aber ihr war klar, dass die Familie Geld brauchte. »Kann er denn jetzt mit dem Funkgerät umgehen?«

»Ich habe ihm schon oft gezeigt, wie er jemanden über Funk verständigen kann. Wenn er verzweifelt genug ist, findet er es schon heraus.«

»Was, wenn … wenn er da draußen stirbt?«

»Das passiert schon nicht, Mamma. Nicht mal Aldo wäre so stur, einfach zu verhungern.«

Am kommenden Abend kam Luisa erneut in die Patterson Street, um kurz nach ihrer Tochter und den Kindern zu sehen. Sie brachte etwas Fleisch mit, da sie ja wusste, dass Elena nicht in den Laden kommen wollte, solange Luigi ihr zürnte.

»Mr. Kestle hat noch nichts von Aldo gehört«, berichtete sie Elena. »Meinst du nicht, du solltest mal nach Barkaroola rausfahren und nach ihm sehen?«

»Wenn ich das mache, werde ich in Versuchung sein, für ihn zu kochen und zu waschen und allerlei sonstige Arbeiten zu verrichten. Damit wäre der Zweck meines Fortgehens von der Farm verfehlt. Er hat Eier von den Hühnern, also verhungern wird er schon nicht. Solange ich da war, hat er es geschafft, ins Hühnergehege zu kommen und sie zu füttern. Es war schwer, aber Hilfe wollte er nicht annehmen. Also, was kann ich da machen? Ich kümmere mich um die Kinder und verdiene unseren Lebensunterhalt. Ein erwachsener Mann, der stur ist wie ein alter Esel, steht auf meiner Prioritätenliste nicht ganz oben, auch wenn er mein Ehemann ist.« Elena achtete Aldos Mut, aber seine Sturheit machte sie verrückt.

»Ich bewundere deine Charakterstärke, Elena«, sagte Luisa.

»Ich wünschte, Papà würde auch irgendetwas an mir bewundern, Mamma«, erwiderte Elena. Es bedrückte sie, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.

Luisa wurde traurig. »Er ist genauso stur wie dein Mann. Vielleicht sogar noch sturer. Ich sehe, dass ihm das schwer zu schaffen macht, aber er würde sich lieber einen Arm abhacken, als das zuzugeben. Männer und ihr dämlicher männlicher Stolz!«

In der Nacht lag Elena wach und grübelte. Sie machte sich Sorgen um Aldo und darüber, ob sie das Richtige getan hatte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn aus dem Rollstuhl fallen und nicht wieder aufstehen können. Die Sorge um ihn machte das reinste Nervenbündel aus ihr. Sie dachte auch an Marcus. Das Herz tat ihr weh, denn sie vermisste ihren ältesten Sohn so sehr. Sie fragte sich, ob Gott sie wohl für ihre Sünden bestrafte, aber andererseits wusste sie auch, dass sie allein die Verantwortung trug. Sie hatte ihren Vater durch ihre Lügen so enttäuscht. Elena betete, er möge sie eines Tages verstehen. Auch Lyle ging ihr nicht aus dem Kopf. Er hatte weit mehr als das übliche Maß an Kummer zu tragen, aber wenigstens bekam er sein Happy End.

Luigi verabschiedete sich gerade von einem Kunden, als Elena am Tag darauf seinen Laden betrat. Ungläubig musterte er sie, und seine Gesichtszüge wurden hart wie Stein. Er bemerkte die dunklen Ringe unter ihren Augen und war entsetzt darüber, wie dünn sie geworden war, aber das zeigte er nicht.

»Ich nehme ein Pfund Rindergehacktes«, sagte Elena und legte das Geld passend auf die Theke.

Luigi wollte ihr schon sagen, sie solle den Laden sofort verlassen, als eine seiner besten Kundinnen durch die Tür hereinkam.

»Guten Tag, Luigi. Hallo, Elena«, sagte Mrs. Foggarty fröhlich. Sie war die Frau des Bürgermeisters und hatte sieben Kinder zu ernähren, und so kaufte sie immer viel Fleisch. »Wie geht es Aldo, Elena? Es hat mir so leidgetan, als ich das von seinem Unfall hörte.«

»Es geht ihm so gut, wie man das erwarten kann, danke, Mrs. Foggarty«, antwortete Elena unbehaglich. Sie schaute ihrem Vater nicht in die Augen, aber sie sah zu, wie er das Rinderhackfleisch einwickelte und auf die Theke legte. »Danke, Papà«, sagte sie und verließ schnell den Laden.

Elenas Herz klopfte wie wild, als sie zurück in ihr Haus auf der Patterson Street ging. Doch sie hatte das Eis gebrochen, und sie war ein ganz kleines bisschen stolz auf sich.

Luigi fragte seine Frau nie, wie es seiner Tochter ging, aber sie erzählte immer mal wieder einem Kunden, der nach Elena fragte, von ihr, und so erfuhr Luigi, was sich im Leben seiner Tochter tat. Damit konnte er leben und seinen Stolz wahren.

Einen Tag später kam Elena wieder in den Laden. Diesmal bediente ihr Vater gerade eine Kundin, und so musste sie warten, bis sie an der Reihe war. Als er mit der Kundin fertig war, sah er Elena an.

»Ein Pfund Eintopfrindfleisch, bitte«, verlangte sie.

Es folgte ein Moment angespannten Schweigens, und Elena rechnete schon damit, er würde sie auffordern zu gehen, aber dann betrat wieder eine Kundin, Mrs. Marshall, den Laden. Luigi machte das Fleisch für Elena fertig, und während Mrs. Marshall laut überlegte, ob sie Würstchen nehmen sollte oder lieber Rindfleisch, legte Elena stillschweigend eine Pfundnote auf die Theke. Luigi wickelte ihr Fleisch ein, dann wünschte Elena Mrs. Marshall noch einen schönen Nachmittag und verließ den Laden.

Luigi bediente Mrs. Marshall, und als sie gegangen war, fiel sein Blick auf Elenas Pfundnote. Er wollte sie gerade in die Kasse legen, als ihm auffiel, dass auf dem Geldschein etwas geschrieben stand. Luigi stutzte und setzte seine Brille auf. Es tut mir leid, las er. Ein paar Sekunden starrte Luigi auf die Worte, ehe er begriff, dass seine Tochter sie geschrieben hatte. Eine einsame Träne lief ihm die Wange hinunter. Er wischte sie weg und zog die Nase hoch, doch das Herz tat ihm weh. Er vermisste Elena so sehr. Er hätte es ja nie im Leben laut gesagt, aber seine Wahl eines Ehemannes für seine Tochter war nicht die beste gewesen. Es hatte keinen glücklichen Tag für Elena gegeben, seit sie nach Australien gekommen waren. Dafür fühlte er sich verantwortlich. Jetzt, da ihr Mann im Rollstuhl saß und seine Familie nicht versorgen konnte, war ihr Leben noch schwerer geworden.

Als Elena das nächste Mal in den Laden kam, war Luigi allein.

»Ein Pfund Bratenfleisch bitte, Papà«, sagte sie. Wieder legte sie eine Pfundnote auf die Theke.

Luigi holte einen Rinderbraten, schnitt ein Stück ab und wickelte es ein. Er packte noch ein paar Würstchen dazu, dann legte er alles zusammen auf die Theke.

Elena war verblüfft und schwieg einen Moment lang. Ihr Vater nahm die Pfundnote, die sie hingelegt hatte, und legte einen Zehn-Shilling-Schein und ein paar kleinere Münzen neben das Fleisch. »Das Bratenfleisch ist im Angebot diese Woche«, erklärte er ernst. In die Augen schaute er seiner Tochter dabei nicht.

»Danke«, sagte Elena und nahm das Wechselgeld, ehe sie den Laden verließ.

Luigi griff nach der Pfundnote, mit der Elena bezahlt hatte, und setzte seine Brille wieder auf. Dann besah er sich den Geldschein genauer. Auf der einen Seite stand nichts, aber als Luigi den Schein umdrehte, entdeckte er zwei Worte. Verzeih mir. Er seufzte vernehmlich.

Elena war schon wieder halb zu Hause, als sie die Münzen, die sie in der Hand hielt, ins Portemonnaie steckte. Dann musterte sie den Zehn-Shilling-Schein, den ihr Vater ihr als Wechselgeld gegeben hatte. Sie blieb wie angewurzelt stehen, und die Tränen strömten ihr übers Gesicht. Auf dem Geldschein standen die vier Worte, auf die sie gehofft hatte. Ich hab dich lieb. Ihr Herz jubelte vor Freude.

Als Luisa am Abend vorbeikam, sah sie gleich, dass etwas an ihrer Tochter anders war. »Ist Aldo endlich zur Vernunft gekommen, Elena?«, fragte sie.

»Nein, Mamma. Aber Papà hat mich immer noch lieb«, erklärte sie freudestrahlend.

Luisa war überrascht. »Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte sie. Sie nahm den Bratengeruch wahr, aber sie hatte Elena am Tag zuvor kein Bratenfleisch mitgebracht.

»Nicht so direkt, Mamma. Aber ich weiß, dass er mich immer noch liebt, und das genügt mir.«

»Woher … woher willst du das wissen, Elena?« Luisa freute sich für ihre Tochter, aber sie verstand das alles nicht.

Elena holte den Geldschein hervor und zeigte ihn glücklich strahlend ihrer Mutter. Ungläubig schaute Luisa darauf. »Dein Papà … hat das geschrieben?«, fragte sie.

Luigi war kein Mann, der seine Gefühle zu erkennen gab, also mochte sie das kaum glauben. Sie meinte, Elena habe da etwas missverstanden. Die auf den Geldschein gekritzelte Botschaft musste von jemand anderem stammen und für jemand anderen bestimmt sein.

»Ja, Mamma. Ich habe auf eine Pfundnote Verzeih mir geschrieben und damit Fleisch bei ihm bezahlt. Als ich aus dem Laden kam, sah ich das.«

Luisa bekreuzigte sich und sprach ein Gebet. Wenn sie emotional betroffen war, sprach sie immer Italienisch. Elena sah ihre Mutter voller Zuneigung an. Luisa brach in Tränen aus und umarmte ihre Tochter. Als sie sich die Augen getrocknet hatte, sah sie, dass das Strahlen, das Luisa so lange nicht mehr auf dem Gesicht ihrer Tochter gesehen hatte, wieder erloschen war.

»Jetzt muss nur noch mein Sohn mir verzeihen«, sagte Elena.

Luisa nickte traurig. Marcus hatte bisher durch nichts zu erkennen gegeben, dass er seiner Mutter vergab.