32
»Ich muss Marcus finden«, sagte Elena und lief zu dem kleinen Tor, das hinter dem Haus ihrer Eltern zu dem Stall führte, in dem sie Pferd und Wagen untergebracht hatten.
»Warte, Elena«, kommandierte Luigi. »Mit dem Pferdewagen holst du ihn nie und nimmer ein. Das arme Pferd ist auch nicht mehr das jüngste. Und wir wissen doch gar nicht, in welche Richtung er gefahren ist. Wir müssen den Sergeant benachrichtigen, der wird dann eine richtige Suchaktion in die Wege leiten.«
»Wenn wir das machen, wird Marcus Ärger bekommen, weil er ohne Führerschein gefahren ist«, sagte Luisa besorgt. »Er würde außerdem wegen Diebstahls verhaftet.« Der Sergeant der Stadt war bekannt für seine Härte, hatte einen tadellosen Ruf und statuierte nur allzu gern ein Exempel an der Jugend im Ort. Er war beim Militär gewesen, in Nordirland. Obwohl er im Allgemeinen allen Ärger von der Stadt fernhielt, stand er im Ruf, niemals Gnade vor Recht ergehen zu lassen, nicht mal ein klein wenig. »Sogar wir könnten Ärger kriegen, weil wir ihn den Lieferwagen haben fahren lassen.«
»Marcus wird noch viel mehr Probleme bekommen, wenn er den Wagen zu Schrott fährt und sich verletzt oder wenn er sich irgendwo verirrt, wo ihn keiner findet«, sagte Luigi wütend. Ihm war klar, dass er sich gerade das Schlimmste ausmalte, aber diese Gedanken ließen sich nun mal nicht vermeiden. »Wir müssen ihn finden, und zwar schnell.«
Was er auch sagte, war, dass er den Lieferwagen gerade mit Fleisch beladen hatte, das schnell ausgeliefert werden musste, eine größere Bestellung fürs Krankenhaus, das auch am Sonntag Ware bekam. Luigi sorgte sich, denn das Fleisch würde bald verderben, da es nicht gekühlt war, aber Luigis größte Sorge galt seinem Enkel.
»Ich bin sicher, Papà, dass Marcus nach Hause will. Lass mich nachsehen, ob er da ist, ehe wir den Sergeant benachrichtigen. Wenn er nicht auf der Farm ist und ich ihn auch nirgends auf dem Weg entdecke, melde ich mich über Funk bei Mr. Kestle, dann kann ein Suchtrupp nach Marcus Ausschau halten.«
Zögerlich erklärte sich Luigi bereit zu warten; er hoffte, dass keiner seinen Enkel am Steuer des Lieferwagens gesehen hatte, aber er wusste, er würde krank vor lauter Sorge sein, bis man ihn fand.
Auf dem Weg zur Farm grübelte Elena darüber nach, weshalb Marcus so verstört gewesen war. Vielleicht macht er sich zu große Sorgen um Aldo, dachte sie. Dass Marcus die Wahrheit herausgefunden hatte, hielt sie für unmöglich, also was hatte ihn so verstört?
Elena entdeckte keine Spur von Marcus oder dem Lieferwagen, also betete sie, dass er auf der Farm war. Dort war jedoch auch nichts von ihm oder dem Lieferwagen zu sehen. Billy-Ray bestätigte, dass Marcus nicht da gewesen war, und erkundigte sich besorgt nach Aldo.
Elena hielt es für das Beste, ehrlich zu sein. »Der Boss hat viele Knochenbrüche, Billy-Ray, aber der Doktor sagt, sie werden heilen. Allerdings hat er leider auch gesagt, dass Aldo nie wieder laufen wird.« Sie gab sich Mühe, nicht zu weinen, aber es fiel ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten, weil sie das Entsetzen im Blick ihres Viehtreibers sah und weil das bloße Aussprechen des Satzes die furchtbare Tatsache noch realer werden ließ. »Er kann die Arme bewegen, also so gesehen hat er Glück«, fügte sie hinzu und unterdrückte ein Schluchzen.
»Vielleicht irren sich die Ärzte ja auch, Missus. Der Boss ist ein kräftiger Mann. Wenn er es sich in den Kopf setzt, etwas zu erreichen, dann kann nichts und niemand ihn aufhalten.«
»Ich weiß, Billy-Ray, aber ich glaube, diesmal wird die reine Willenskraft ihm nicht weiterhelfen. Die Ärzte haben ihm bis jetzt noch nicht in aller Deutlichkeit gesagt, wie schwer seine Verletzungen sind. Das wird ihn sehr treffen. Er ist ein stolzer Mann, und er lebt für seine Arbeit auf der Farm.«
»Das tut mir wirklich furchtbar leid, Missus, aber ich will gern mehr arbeiten, wo der Boss doch jetzt im Krankenhaus ist.«
»Danke, Billy-Ray, aber ich bin nicht sicher, wie es in Zukunft mit der Farm weitergehen wird. Ich weiß, du machst dir Sorgen, du hast schließlich eine Familie zu ernähren, aber mein Mann hat ja nie der traurigen Tatsache ins Auge gesehen, dass die Farm kein Geld abwirft.«
Billy-Ray nickte, aber Elena sah deutlich, wie besorgt er war.
»Aber als Erstes muss ich jetzt Marcus suchen«, sagte Elena.
»Soll ich losreiten und nach ihm Ausschau halten, Missus?«
»Nein, aber danke, Billy-Ray. Du musst hier weiter nach dem Rechten sehen. Ich werde in nächster Zukunft sehr auf dich angewiesen sein.«
»Ich lasse Sie schon nicht im Stich, Missus.«
Elena ging ans Funkgerät, weil sie sich bei Mr. Kestle melden wollte, aber dann kam ihr eine Idee. Sie rief stattdessen spontan im Büro der Fliegenden Ärzte an und fragte Mrs. Montgomery, ob es möglich sei, eine Nachricht an Lyle weiterzuleiten.
»Sind Sie noch im Krankenhaus in Winton, Mrs. Corradeo?«, fragte Mrs. Montgomery.
»Nein, ich bin zu Hause.«
»Als ich das letzte Mal mit Dr. MacAllister sprach, meinte er, er wolle ins Krankenhaus von Winton zurück und nach Ihrem Mann sehen. Dessen Verletzungen machen ihm wirklich Sorgen. Nach meinen Berechnungen sollte er inzwischen dort sein.« Mrs. Montgomery war sehr tüchtig in ihrem Job. Sie wusste stets genau, wie lange die Flüge zu den unterschiedlichen Zielorten dauerten, und irrte sich selten.
»Oh, danke, Mrs. Montgomery. Ich melde mich über Funk beim Krankenhaus. Over und Ende.«
Elena erreichte das Krankenhaus in Winton sofort. Mrs. Skivers, die dort den Funk betreute, holte Lyle, der gerade auf dem Weg zu Aldo war. Elena platzte sofort mit ihren Sorgen heraus. Sie erzählte Lyle, was passiert war, und erklärte ihm, Marcus sei so verstört wegen Aldo, dass er den Lieferwagen genommen habe und verschwunden sei.
»Ich mache mir wirklich Sorgen, Lyle. Er könnte sich verirren, und er hat kein Wasser dabei.«
»Hast du den Polizisten am Ort benachrichtigt? Er könnte eine Suchaktion organisieren.«
»Nein, ich hatte ja gedacht, er wollte nach Hause.«
»Alison und ich fliegen sofort Richtung Barkaroola, Elena«, sagte Lyle. »Von da werden wir aus der Luft Ausschau nach ihm halten. So haben wir eine größere Chance, ihn schnell zu finden. Over und Ende.«
Elena war Lyle unendlich dankbar.
Lyle entdeckte den weißen Lieferwagen auf einem unbefestigten Pfad, weitab von der Straße auf halber Strecke zur Barkaroola Farm. Der Pfad wurde schon seit Jahren nicht mehr befahren. Er führte zu den Überresten einer Pionierhütte am Ufer des Diamantina River. Gelegentlich kampierten dort Aborigines. Das Sonnenlicht spiegelte sich glitzernd auf dem Metalldach des Lieferwagens. Lyle bat Alison, über dem Gebiet zu kreisen, damit er sich überzeugen konnte, ob der Wagen, den er entdeckt hatte, tatsächlich der gesuchte war, denn er wurde teilweise von Akazienbüschen verdeckt. Als er sicher war, bat er Alison, die Maschine auf der Straße zu landen.
»Sollten wir nicht zuerst Mrs. Corradeo holen?«, fragte Alison. »Das ist vielleicht besser für Marcus, wenn er so verstört war.«
»Nein, der Junge könnte womöglich sofortige ärztliche Hilfe brauchen«, antwortete Lyle.
»Soll ich mitkommen?«, fragte Alison, als Lyle nach der holprigen Landung aus dem Flugzeug stieg.
»Nein, bleib du bei der Maschine, für den Fall, dass jemand vorbeikommt«, sagte Lyle. Elena könnte kommen und dann nicht wissen, was sie denken sollte, wenn sie das verlassene Flugzeug auf der Straße sah. »Ich komme zurück, sobald ich kann.«
Lyle griff nach seinem Arztkoffer und machte sich auf den Weg, doch bald merkte er, dass das Gebiet vom Boden aus ganz anders aussah. Der Pfad war nicht einmal zu sehen. Er wurde seit vielen Jahren nicht mehr befahren und war von Büschen überwuchert, voller Steine und gesäumt von Spinifex, einem Süßgras. Immer wieder drehte Lyle sich nach dem Flugzeug um, das er als markanten Orientierungspunkt benutzte. Er war froh, dass das Gelände zum Fluss hin leicht abfiel.
Lyle fragte sich, warum Marcus versucht hatte, den Lieferwagen seines Großvaters von der Straße herunterzulenken. Wollte er ausreißen? Natürlich hatte der Unfall seines Vaters ihn verstört, Vater und Sohn standen sich bestimmt sehr nahe. Beinahe den Vater zu verlieren war wahrscheinlich das Schlimmste, was er in seinem jungen Leben bisher erlebt hatte, und er wusste wohl nicht, wie er damit umgehen sollte. Es erinnerte Lyle daran, wie er sich gefühlt hatte, als er seinen Vater verlor, und er war zu dem Zeitpunkt schon ein erwachsener Mann gewesen. Lyle hoffte, dem Jungen ein wenig Trost und Unterstützung bieten zu können. Außerdem war er froh darüber, dass er etwas für Elena tun konnte. Er schuldete ihr so viel.
Als Lyle den Lieferwagen erreichte, sah er, dass die Tür an der Fahrerseite offen stand, der hintere Reifen auf der Beifahrerseite steckte in einem Bodenloch fest. Man konnte erkennen, dass der Reifen durchgedreht hatte, Marcus musste versucht haben, wieder aus dem Loch herauszukommen. Aber wo war er jetzt? Lyle hoffte, dass er nicht in Panik geraten war und irgendwo in der gleißenden Nachmittagssonne umherlief. Man trocknete schnell aus bei der Hitze. Eingeborene Fährtensucher halfen manchmal, der Zeitfaktor war dann von ausschlaggebender Bedeutung. Sie könnten auch versuchen, Marcus mit dem Flugzeug zu finden, aber aus der Luft war es ebenfalls schwierig, einen Menschen auszumachen, wenn die Landschaft nicht ganz karg war.
Lyle machte eine Ansammlung von Felsen etwa eine halbe Meile in westlicher Richtung aus – er hoffte, dass Marcus vernünftig genug gewesen war, Schutz zu suchen. Als er zurückschaute, erkannte er gerade noch das Flugzeug in der Ferne. Es war sein einziger Orientierungspunkt. Schnell machte er sich auf den Weg zu den Felsen.
Als Lyle bei den Felsen ankam, huschten ein paar Gelbfuß-Felskängurus auf, die hier Zuflucht gesucht hatten. Es waren schöne kleine Tiere mit weichem dunkelbraunem Fell und goldgelben Pfoten, was ihnen den Namen gab. Auch zahlreiche Skinke sonnten sich auf den Felsen. Ein paar schlüpften schnell in die Spalten zwischen den uralten Felsblöcken, andere erstarrten in der Hoffnung, durch ihre Umgebung getarnt zu sein. Sie beobachteten den Eindringling mit schlangenähnlichen Augen. Solche Geschöpfe aus der Nähe zu sehen war immer ein Vergnügen für Lyle, aber diesmal war er mit den Gedanken bei Marcus. Lyle machte sich daran, das felsige Gelände zu umrunden. Er achtete sorgsam darauf, wohin er die Füße setzte, denn Schlangen sonnten sich gern in der Nähe von Felsen, und er wollte es nicht riskieren, gebissen zu werden.
Marcus saß am Fuß eines Felsblocks, die Arme um die Knie geschlungen, und starrte in die Ferne. Lyle sah, dass er geweint hatte, und er spürte eine große Sympathie für den Jungen. In diesem Moment vermisste er Jamie so sehr, dass er sich körperlich krank fühlte.
»Marcus«, sagte Lyle leise, in der Hoffnung, ihn nicht zu erschrecken, der Junge sollte nicht glauben, vor ihm weglaufen zu müssen.
Marcus’ Kopf fuhr herum, und er riss die blutunterlaufenen Augen weit auf. Dann kam er auf die Füße und lief auf Lyle zu.
»Geht es dir gut?«, fragte Lyle und breitete die Arme aus. Marcus war sicher überglücklich, ein bekanntes Gesicht zu sehen, und eine Umarmung tat ihm jetzt bestimmt gut. Weiter kam Lyle jedoch nicht. Marcus holte aus und schlug ihn mit der Faust mitten ins Gesicht. Vor Schreck wich er zurück. Er stolperte und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Seine Augen fingen an zu tränen, Marcus hatte ihn an der Nase getroffen. »Marcus! Warum tust du das?«, rief er bestürzt.
»Sie haben meine Mutter im Stich gelassen, als sie Sie brauchte, und jetzt ist das Leben von uns allen kaputt«, schrie Marcus ihm entgegen.
Lyle war fassungslos. »Deine Mutter im Stich gelassen! Wovon redest du, Marcus?«
»Das wissen Sie ganz genau«, brüllte der Junge voller Wut.
Lyle holte ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und tupfte sich das Gesicht ab, er blutete aus der Nase. »Nein, ich habe keine Ahnung«, sagte er verwirrt.
»Sie haben meine Mutter verlassen, als sie mich erwartete. Wie konnten Sie ihr das antun?«
»Als sie dich erwartete? Marcus, wie kommst du nur auf so einen Gedanken? Ich bin doch nicht dein Vater.«
»Sie lügen!«
Marcus fing an zu weinen. Lyle hatte ihn nicht haben wollen. Und es kränkte ihn zutiefst, dass er das nicht einmal zugeben wollte. Er wandte sich um und lief wieder in Richtung Lieferwagen. Genau dort holte Lyle den Jungen ein. Er packte ihn am Arm und hielt ihn auf.
»Marcus, bleib stehen! Wir müssen reden«, sagte er.
»Lassen Sie mich los!« Marcus war rot vor Zorn und versuchte, Lyle abzuschütteln.
»Nein, Marcus. Erst erzählst du mir, wie du auf so eine Idee kommst«, sagte Lyle und zwang sich zur Geduld.
Marcus funkelte ihn an, seine Unterlippe zitterte, so aufgeregt war er. »Ich habe gehört, wie sich meine Eltern im Krankenhaus unterhalten haben. Ich habe gehört, wie meine Mutter zugab, dass ich nicht Papàs Sohn bin. Mein Papà hat sie prostituta genannt. Ich bin ja vielleicht noch ein Kind, aber ich weiß, was das bedeutet. Er hat gesagt, Sie seien mein Vater, und sie hat das nicht geleugnet.«
Lyle war total perplex, er war sicher, dass dies ein Missverständnis war. »Das kann nicht sein, Marcus. Ich habe deine Mutter zum letzten Mal im November 1918 gesehen. Du bist im Jahr darauf im selben Monat geboren. Du kannst also gar nicht mein Sohn sein. Es ist einfach nicht möglich.« Er versuchte, so sanft wie nur möglich mit dem Jungen zu sein, denn er war offensichtlich verwirrt und vielleicht zu jung, um etwas über die Dauer von Schwangerschaften zu wissen. »Du musst dich verhört haben.«
»Ich bin am 2. August geboren«, erklärte Marcus mit Bestimmtheit. »Und ich weiß, was ich gehört habe.«
Überrascht riss Lyle die Augen auf. »Das … das kann nicht sein«, sagte er verwundert. »Deine Mutter hat mir doch gesagt, wann du geboren bist …«
»Ich werde doch wohl noch mein Geburtsdatum kennen, und jetzt lassen Sie mich los«, wütete Marcus.
Er riss seinen Arm aus Lyles Umklammerung, aber dazu brauchte er nicht viel Kraft. Lyle war vor Erschütterung wie gelähmt. Als zu ihm durchdrang, was Marcus gesagt hatte, begriff er, dass Elena ihn bewusst angelogen hatte. Ungläubig starrte Lyle Marcus an. Auf einmal wurde ihm ganz schwindlig. Er lehnte sich an den Lieferwagen und starrte ins Leere, ohne von der Landschaft irgendetwas wahrzunehmen. In Gedanken war er wieder im Jahr 1918, als er Elena sagte, er wolle Millie heiraten, weil diese ein Kind von ihm erwartete. Wieso hatte ihm Elena nicht gesagt, dass auch sie schwanger war? Die Antwort lag auf der Hand. Entweder hatte sie es noch nicht gewusst oder sie war zu gekränkt, weil er sie wegen einer anderen verließ.
Marcus war plötzlich verunsichert. Warum reagierte Lyle so geschockt? Er war alt genug, um zu erkennen, dass dies kein vorgetäuschter Schock war. In einer Mischung aus Wut und Faszination darüber, wie hilflos Lyle auf einmal zu sein schien, musterte er ihn schweigend. Schließlich machte er ein paar Schritte auf ihn zu.
»Sie haben das wirklich nicht gewusst?«, fragte Marcus.
Lyle schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung. Ich wäre nie nach Schottland zurückgegangen, hätte ich davon gewusst.«
Marcus wollte ihm glauben, aber er hatte immer noch Bedenken. »Wieso haben Sie meine Mutter verlassen? Haben Sie sie nicht geliebt?«
»Ich habe sie mehr geliebt, als du je ahnen wirst«, flüsterte Lyle.
»Dann hat sie also Sie verlassen. Sie hat uns beide betrogen, und dafür hasse ich sie.« Marcus setzte sich in Bewegung. Er hatte das Flugzeug in der Ferne entdeckt, da musste die Straße sein.
Endlich löste Lyle sich aus seiner Starre. »Warte, Marcus«, sagte er.
Marcus wartete nicht, aber Lyle holte ihn am Rand der Straße ein. Und gerade in diesem Moment kam Elena mit ihrem Pferdewagen angefahren.
Elena hatte auf eine Nachricht von Lyle gewartet, und als sie nicht kam, hatte sie gebetet, er möge Marcus gefunden haben. Sie machte sich so große Sorgen, dass sie nicht länger zu Hause sitzen konnte, sondern wieder losfuhr, um erneut ihren Sohn zu suchen.
»Marcus«, rief sie und sprang vom Wagen. »Du lebst.« Sie war so erleichtert, dass ihr schwindlig wurde.
Elena rannte auf Marcus zu, doch ehe sie ihn in die Arme nehmen konnte, fing er an, sie wütend anzuschreien. »Du hast mich mein ganzes Leben lang angelogen«, rief er anklagend. »Ich hasse dich, ich hasse dich so sehr!« Elena blieb wie angewurzelt stehen. So hatte ihr Sohn noch nie in seinem Leben mit ihr gesprochen. »Wie konntest du mir das antun, wie konntest du Papà das antun?«
»Marcus«, fragte Elena leise. »Was meinst du denn?« Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, hatte sie tief in ihrem Innern ein seltsames Gefühl.
»Papà ist gar nicht mein Vater, richtig? Und du hast das vor mir verheimlicht.«
Elena fehlten die Worte. Hatte Aldo Marcus schon erzählt, dass er nicht sein Vater war? Das hielt sie für unwahrscheinlich. Auf einmal fiel ihr ein, dass sie im Krankenhaus beim Öffnen des Vorhangs geglaubt hatte, jemanden aus dem Zimmer huschen zu sehen. Marcus! Jetzt machte das alles einen Sinn. Sie hatte sich nicht getäuscht. Marcus musste ihr Gespräch mit Aldo mit angehört haben – eine entsetzliche Vorstellung. Elena sah Lyle an, sah an seinem Gesichtsausdruck, dass auch er wusste, dass Marcus sein Sohn war.
»Was ist hier los?«, fragte Alison und schaute verwirrt von einem zum anderen.
Sie hatte die Auseinandersetzung vom Flugzeug aus beobachtet und war gekommen, um zu erfahren, warum alle so unglücklich schienen, jetzt, da sie Marcus gefunden hatten. Sie konnte nicht ahnen, dass es zwischen Elena und Lyle einmal eine innige Verbindung gegeben hatte, dass sie einmal ineinander verliebt gewesen waren.
»Ich hasse dich, weil du mich angelogen hast, und das werde ich dir nie verzeihen«, brüllte Marcus seine Mutter an. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und setzte sich in Bewegung in Richtung Stadt.
»Wo willst du hin?«, rief Elena ihm hinterher.
»Zu Nonna. Ich komme nie mehr nach Hause zurück.«
Gekränkt zuckte Elena zusammen. »Den ganzen Weg in die Stadt schaffst du nicht zu Fuß, Marcus. Lass mich dich fahren.«
»Nein. Ich will nicht in deiner Nähe sein«, rief Marcus wütend, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Ich nehme den Lieferwagen«, sagte Lyle. »Damit hole ich ihn schnell ein, und dann fahre ich ihn in die Stadt.« Er konnte Äste und kleinere Steine um den Reifen legen, der in dem Schlagloch festsaß. So würde er ihn einigermaßen mühelos freibekommen.
Elena bemerkte, dass Lyle wie unter Schock stand. Seine Stimme war vollkommen monoton. Sie warf Alison einen Blick zu, die peinlich berührt schien, weil sie unfreiwillig solch persönlichen Familiengeheimnissen beigewohnt hatte.
»Wenn Sie in die Stadt wollen, Elena, kann ich auf die Farm rauskommen und Sie abholen«, bot sie an.
»Da wäre ich Ihnen wirklich dankbar«, erwiderte Elena. Weder Aldo noch Marcus wollten sie sehen, aber sie musste in der Nähe der beiden sein.
Lyle kam wie in Trance auf sie zu. »Wir müssen reden, Elena«, sagte er ernst.
»Jetzt nicht, Lyle. Mein Mann und mein Sohn brauchen mich. Um sie muss ich mich als Erstes kümmern«, sagte sie so kühl sie konnte. »Danke, dass du den Lieferwagen zurückbringst und nach Marcus Ausschau hältst. Das weiß ich sehr zu schätzen.«
Sie kletterte auf den Pferdewagen und wendete das Pferd. Lyle und Alison schauten ihr schweigend hinterher.
»Wenn ich zurück in der Stadt bin, warte ich mit dem Flugzeug hinter dem Krankenhaus, Lyle«, sagte Alison geduldig.
Sie wusste, der Flug zurück nach Cloncurry würde ihnen Zeit zum Reden geben.