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Vignette

»Du bist so schrecklich still, Lyle«, sagte Alison. »Denkst du an Marcus Corradeo?«

Seit zehn Minuten waren sie in der Luft, und er hatte noch kein Wort gesprochen. Sie hatte über die seltsamen Ereignisse nachgedacht, die sich auf dem Weg nach Barkaroola zugetragen hatten, und Schlüsse gezogen, die zu unglaublich schienen, um sie laut auszusprechen. Lyle sollte, so dachte sie, erzählen, was passiert war, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er erst sprechen würde, wenn ihm der Zeitpunkt richtig schien.

»Ja«, gab Lyle zu. »Und an Elena denke ich auch.«

»Elena!«

»Neil hat mir vorhin gesagt, dass Aldo nie wieder gehen wird. Sein Leben wird von jetzt an nicht mehr dasselbe sein, und auch nicht das Leben seiner Familie.« Er dachte auch, dass Aldo jetzt auch wusste, dass Marcus nicht sein Sohn war. Innerhalb weniger Stunden war sein Leben völlig auf den Kopf gestellt worden.

Alison war schockiert. »Was für eine Tragödie, Lyle«, sagte sie mit aufrichtigem Bedauern. »Die Farm werden sie jetzt wohl nicht mehr halten können, es sei denn, sie finden jemanden, der die Leitung übernimmt.« Ihr war klar, dass die Umstellung ihres Alltagslebens nur eine der Sorgen der Familie war. Nach dem, was Marcus zu seiner Mutter gesagt hatte, war offensichtlich, dass es noch ganz andere Probleme gab.

»Die Farmer hier haben schrecklich zu kämpfen – die seltenen Regenfälle, die entsetzliche Hitze, die Heuschreckenplagen und die Sandstürme. Die Corradeos hatten wohl besonders hart zu kämpfen, wenn Elena gezwungen war, in der Stadt zu arbeiten«, sagte Lyle.

Alison warf ihrem Verlobten einen Blick zu. Er starrte nachdenklich aus dem Fenster, fasziniert vom Schatten ihres Flugzeugs, der ihnen lautlos über die rotbraune Landschaft unter ihnen folgte.

»Mir hat Elena Corradeo heute schrecklich leidgetan. Ihr Sohn war so wütend auf sie«, sagte Alison. Sie hatte einen Verdacht, jetzt musste sie das Gespräch vorsichtig in die Richtung lenken, die ihr Aufschluss darüber gab, weshalb Lyle sich so besonders für die Corradeos engagierte.

Lyle schwieg einen Moment, dann fasste er einen Entschluss. »Du solltest etwas wissen, Alison. Marcus ist auch mein Sohn.« Er sah die Überraschung in den Augen seiner Verlobten, als er sich zu ihr umwandte. »Das habe ich erst heute erfahren, Marcus hat es mir erzählt. Er hat ein Gespräch seiner Eltern mit angehört. Ich hätte es womöglich nicht geglaubt, aber Marcus hat die gleichen Krampfattacken wie mein Sohn Jamie. Und das ist erblich.«

Auch wenn Alison dieser Gedanke entfernt schon gekommen war, hatte sie doch damit gerechnet, dass Lyle ihr eine andere Erklärung dafür geben würde, dass er derart verstört gewesen war, nachdem er Marcus gefunden hatte. Es war ein Schock für sie, als er ihre Ahnungen jetzt bestätigte. Wie sollte es nun mit Lyle und ihr weitergehen? Würde sie einen Mann heiraten wollen, der ein Kind mit einer anderen Frau hatte?

Alison versuchte, ganz ruhig zu bleiben. »Was für eine verrückte Art herauszufinden, dass du wieder Vater bist«, sagte sie leise. Lyle nickte nur. »Willst du mir erzählen, wie es kommt, dass du einen Sohn mit Elena Corradeo hast, Lyle?«, fragte sie dann. Sie wollte ihn nicht damit durchkommen lassen, dass er einfach nur schwieg.

»Ich will es versuchen, ich schulde dir so viel, Alison«, sagte Lyle. Dann verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck. »Zusammen mit einigen anderen Ärzten aus Schottland wurde ich ins Victoria Hospital nach Blackpool geschickt, um dort im letzten Kriegsjahr auszuhelfen. Damals traf ich mich schon einige Jahre mit Millie. Ich wusste, sie und sowohl ihre als auch meine Eltern waren zu der Annahme gekommen, dass wir eines Tages heiraten würden, und ich gebe zu, dass ich allen Plänen zustimmte – bis ich Elena kennenlernte.«

»Hast du Millie nicht geliebt, Lyle?«

»Ich dachte, ich liebte sie. Erst als ich mich hoffnungslos in Elena verliebte, die als Krankenschwester im Hospital arbeitete, erfuhr ich, wie sehr ein Mann eine Frau wirklich lieben kann. Natürlich war es Millie gegenüber unfair, dass ich in eine andere Frau verliebt war, und ich hatte vor, mich von ihr zu trennen. Ich wartete ab, bis ich einen dreitägigen Urlaub hatte, denn ich wollte kein Feigling sein und sie über die Trennung per Brief informieren. Bei meinem ersten Urlaub zu Hause wurde ihr Vater krank, und ich konnte ihr das Herz nicht brechen, solange sie sich solche Sorgen um ihn machte. Bei meinem zweiten Urlaub teilte sie mir mit, sie sei schwanger. Ich war am Boden zerstört, aber mir war klar, ich musste mich meinem Kind zuliebe anständig verhalten. Ich trennte mich von Elena, um Millie zu heiraten, aber so schwer ist mir nie etwas im Leben gefallen. Natürlich wusste ich nicht, dass Elena auch schwanger war. Vielleicht wusste sie es zu dem Zeitpunkt ja auch noch nicht. Sie hatte sich mit der Spanischen Grippe angesteckt, als ich in Schottland war, das hat es vielleicht erschwert, die Anzeichen zu erkennen.«

»Aber als sie Aldo heiratete, hat sie doch bestimmt gewusst, dass sie dein Kind erwartete«, sagte Alison. Es war eher Feststellung als Vorwurf, aber es brachte sie dazu, über Elenas Charakter nachzudenken.

»Ihre Eltern sind strenggläubige italienische Katholiken. Aldo ist offensichtlich einige Jahre älter als Elena und auch Italiener, also kannst du beinahe sicher sein, dass ihr Vater die Ehe mit ihm arrangiert hat. Ich nehme an, dass sie zu dem Zeitpunkt viel zu viel Angst davor hatte, den Eltern oder Aldo die Wahrheit zu sagen. Anständige italienische Mädchen lassen sich nicht einfach so ein Kind anhängen.«

»Die Wahrheit wäre womöglich nie ans Licht gekommen, hätte Millie nicht Aldo aufgesucht«, bemerkte Alison schließlich.

»Eines ist mir wirklich ein Rätsel, Alison. Wie hat Millie bloß die Wahrheit herausgefunden, da nicht einmal ich eine Ahnung hatte?«

»Hat sie je erfahren, dass du dich vor deiner Ehe mit Elena getroffen hast?«

»Nicht dass ich wüsste. Aber einer der Ärzte, mit denen ich in Blackpool in derselben Pension wohnte, stammte auch aus Dumfries. Alain McKenzie kannte Millie und ihre Familie gut. Er wusste auch, dass ich eine Beziehung mit Elena hatte. Vielleicht hat er es Millie ja erzählt.«

»Da hast du so einiges, worüber du jetzt nachdenken musst, Lyle«, sagte Alison.

»Ja«, erwiderte er. »Ich fasse es immer noch nicht, dass ich wieder einen Sohn habe.«

»Willst du eine Beziehung zu ihm aufbauen?«

Lyle dachte einen Moment nach. »Ich war Vater mit Leib und Seele, Alison. Und als ich Jamie verlor, war ich am Boden zerstört, ich glaube kaum, dass ich darüber je hinwegkomme. Mir ist, als hätte mir Gott ein Geschenk gemacht, einen zweiten Sohn. Ich kann immer noch kaum glauben, was für ein wunderbarer Junge Marcus ist. Aber er sieht in Aldo seinen Vater, und ich bezweifle, dass sich das je ändern wird.«

»Es wird für alle eine schwierige Zeit. Du musst einfach abwarten und sehen, was passiert«, sagte Alison verständnisvoll.

»Ich weiß, ich werde Geduld haben müssen«, erwiderte Lyle. Es war für Alison auch nicht einfach, und er war dankbar, dass sie so mitfühlend reagierte. »Aber ich hoffe, dass Marcus und ich eines Tages eine Beziehung zueinander aufbauen können.«

»Willst du mich immer noch heiraten, Lyle?«, frage Alison unvermittelt.

»Natürlich will ich das«, antwortete Lyle, den die Frage überraschte. »Wieso sollte ich nicht?«

»Dein Leben wird sich in absehbarer Zeit verändern, und ich frage mich nur, wo in deinem neuen Leben ich einen Platz haben werde.«

Lyle sah Alison an. »Du bist ein ganz besonderer Mensch, Alison, und du warst mir eine sehr große Hilfe. Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst«, sagte er. »Vielleicht ändert sich mein Leben ja gar nicht so sehr, wie du vermutest.«

Blind vor Tränen stolperte Elena über die steinige Straße nach Barkaroola. Als sie schließlich das kaputte Tor zur Auffahrt der Farm erreichte, war es schon dunkel, und sie war körperlich völlig erschöpft. Von Weitem sah sie einen Lichtschein in einem der Ställe, und so wusste sie, dass Billy-Ray noch da war, doch das Haus lag im Dunkeln.

Langsam ging Elena auf die Veranda zu, lief die Stufen hinauf und trat ein. Im Haus machte sie eine Laterne an. Sie musste Feuer machen und etwas trinken. Elena schenkte sich gerade ein Glas Wasser ein, als sie Schritte auf der Veranda hörte.

»Wie geht’s dem Boss, Missus?«, fragte Billy-Ray, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte.

»Ich habe nicht noch einmal nach ihm gesehen, Billy-Ray«, sagte Elena. »Ich war bei meinen Eltern zu Hause.«

»Ich hab den Lieferwagen nicht die Auffahrt raufkommen hören, Missus.«

»Ich bin zu Fuß gekommen«, erklärte Elena.

»Das ist ein langer Fußmarsch, Missus«, sagte Billy-Ray, der sich wunderte, wieso ihr Vater oder ihre Mutter sie nicht nach Hause gefahren hatte, aber er war zu höflich, zu fragen.

»Ja«, gab Elena zurück. »Danke, dass du so lange geblieben bist, Billy-Ray. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du morgen zur Arbeit kommen könntest.«

»Ich werde hier sein, Missus. Gleich als Erstes morgen früh mache ich die Arbeit, die der Junge sonst immer am Wochenende gemacht hat.«

»Ich helfe dir, Billy-Ray«, sagte Elena. »Marcus … wird vorerst nicht mehr auf die Farm kommen.«

Billy-Ray nahm an, der Junge wollte in der Nähe seines Vaters bleiben. »Ein Neffe von mir wohnt für eine Weile bei mir, Missus. Sein Name ist Matari. Er ist ein bisschen älter als Marcus. Wenn es Ihnen recht ist, kommt er her und hilft hier aus.«

»Das wäre wunderbar, Billy-Ray, aber ihn bezahlen – das kann ich mir nicht leisten.«

»Der braucht kein Geld, Missus. Der ist schon froh, wenn er ab und zu was zu beißen kriegt, wenn Sie was entbehren können.«

Elena war erleichtert. Billy-Rays Neffe würde eine Riesenhilfe sein. »Ich bin sicher, ich werde etwas zu essen für ihn auftreiben, Billy-Ray«, sagte sie. »Danke!«

Am nächsten Morgen in aller Frühe meldete sich Neil Thompson per Funk auf Barkaroola.

»Aldo hat gestern Nachmittag gespürt, dass er kein Gefühl mehr in den Beinen hat, Elena. Ich musste ihn ruhigstellen, weil er regelrecht hysterisch wurde. Leider war Ihr ältester Sohn da, er hat die Verzweiflung seines Vaters mitbekommen.«

»Also weiß Marcus jetzt, dass sein Vater dauerhaft gelähmt sein wird?«, fragte Elena besorgt.

»Er ahnt es wohl, aber ich habe es nicht bestätigt. Ich glaube, es wäre gut, wenn ich heute Vormittag mit Aldo rede und ihm die Wahrheit sage. Ich rufe an, weil ich dachte, Sie wollten vielleicht dabei sein.«

Elena überlegte. Sie musste ehrlich sein. Aldo würde sich zu sehr aufregen, wenn er sie sähe. »Es ist besser, wenn ich nicht dabei bin«, sagte sie. Sie war sicher, dass Neil anderer Meinung war, aber sie konnte ihm nicht erklären, warum sie diese Entscheidung getroffen hatte. »Außerdem, jetzt, da Aldo im Krankenhaus ist, gibt es auf der Farm so viel zu tun.«

Neil stutzte einen Moment. »Verstehe. Ich dachte ja nur, Aldo braucht vielleicht ein wenig Trost von Ihnen«, sagte er dann.

»Glauben Sie mir, Neil, er ist lieber allein«, erwiderte Elena. »Over und Ende.«

Den Rest des Tages arbeitete Elena viel. Es war leichter für sie, wenn sie sich beschäftigte. Es hielt sie davon ab, die Kinder zu vermissen. Billy-Rays Neffe war eifrig und eine große Hilfe, aber als schließlich die Sonne am westlichen Horizont versank, war Elena vollkommen erschöpft. Sie machte eine Kleinigkeit zu essen, Eier auf Toast, und teilte die Mahlzeit mit Billy-Ray und seinem Helfer, ehe die beiden sich auf den Nachhauseweg machten.

Auch der folgende Tag verlief ähnlich. Elena, Billy-Ray und Matari arbeiteten hart, dann aßen sie gemeinsam etwas. Am späten Nachmittag zog Elena sich zurück. Sie kochte Tee und setzte sich mit einer Tasse ermattet auf die Veranda. In der Nacht zuvor hatte sie wenig geschlafen und viel nachgedacht. Ihr war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Elena versuchte sich vorzustellen, wie sie sich um Aldo kümmern, einen Großteil der Farmarbeit erledigen und gleichzeitig noch in der Stadt arbeiten sollte. Es war einfach nicht möglich.

Der Motor eines Flugzeugs ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Ob Lyle einen Krankenbesuch bei einem ihrer Nachbarn machte? Sie sah, wie die Maschine über der Farm kreiste und dann auf einer der Koppeln hinter den Ställen zur Landung ansetzte. Lyle stieg aus, eine rote Staubwolke verflüchtigte sich in den Himmel. Alison schien in der Maschine zu warten, denn Lyle machte sich allein auf den Weg zum Haus. Er besuchte also nicht einen Kranken in ihrer Nachbarschaft.

Elenas Herz schlug wie wild, als sie ihn auf sich zukommen sah. Sie wusste, warum er kam. Er wollte wissen, weshalb sie ihm nie erzählt hatte, dass sie einen gemeinsamen Sohn hatten. Wieder einmal musste sie sich stellen. Elena stand auf, als Lyle die Treppen zur Veranda hochkam.

»Wie geht es dir, Elena?«, fragte er.

»Mir geht’s gut«, antwortete sie. Erleichtert nahm sie wahr, dass man aus seiner Stimme keine Wut heraushörte. »Wieso bist du hier? Hat sich Aldos Zustand verschlimmert?«

»Nein. Aber tatsächlich komme ich gerade aus dem Krankenhaus. Ich habe versuchte, Aldo zu sehen, aber er wollte mich nicht in seiner Nähe wissen.« Lyle erwähnte nicht, dass Aldo ihn mit den unflätigsten Flüchen belegt und eine Bettpfanne nach ihm geworfen hatte.

»Neil hat sich gestern Morgen über Funk gemeldet und gemeint, er wolle Aldo sagen, dass er nie wieder gehen können wird. Am Nachmittag hat er sich dann noch mal gemeldet. Aldo hat keine Reaktion gezeigt, als er ihm erklärte, er werde den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen, er verlangt lediglich, dass man ihn in Ruhe lässt. Neil meint, dass sei der Schock, die Wahrheit brauche wohl Zeit, ehe sie bei ihm ankommt.«

»Ich würde sagen, das ist jetzt passiert, und es ist kein Wunder, dass er verbittert ist. Deswegen kann ihm keiner Vorwürfe machen«, sagte Lyle.

Elena ließ den Kopf sinken, als sie an all das dachte, was Aldo zu ihr gesagt hatte. Die Schuldgefühle drohten, sie zu erdrücken.

»Tut mir leid, Elena. Ich bin nicht gekommen, um dir Gewissensbisse zu machen. Ich verstehe, weshalb du getan hast, was du getan hast.«

Elena schaute auf. »Stimmt das?«, meinte sie überrascht. »Du bist nicht wütend?«

»Ich habe kein Recht, wütend zu sein. Ich habe dich verlassen, um eine andere Frau zu heiraten, die von mir schwanger war. Ich muss die Verantwortung für die Situation übernehmen, in die du geraten bist. Ich weiß, dein Vater hätte nicht gerade freundlich reagiert, wenn du ihm erzählt hättest, dass du ein Kind von mir erwartest.«

»Er hätte mich aus dem Haus geworfen und mich enterbt«, sagte Elena. Sie verschwieg Lyle, dass ihr Vater genau das jetzt getan hatte. Sie wollte kein Mitleid von Lyle.

»Deine Beziehung zu mir hat dir nichts als Kummer eingebracht, oder?«, fragte Lyle.

»Sie hat mir Marcus gegeben, der von Anfang an das Licht meines Lebens war«, gestand Elena. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen, aber sie verbat sich, sentimental zu werden.

»Wie wird es jetzt mit dir weitergehen?«, wollte Lyle wissen.

»Das weiß ich noch nicht. Es ist meine Pflicht, mich um Aldo zu kümmern, und dann habe ich ja schließlich drei Kinder, die mich brauchen. Marcus ist im Moment sehr wütend auf mich, aber ich hoffe, dass er mir mit der Zeit vergeben kann.«

Das hoffte auch Lyle. »Er ist ein Prachtjunge.« Er dachte daran, wie gut sie sich verstanden hatten, ehe sie herausfanden, dass sie Vater und Sohn waren. »Wusstest du, dass du schwanger warst, als ich dir eröffnete, ich würde Millie heiraten?«

»Nein, das habe ich erst eine Zeit später herausgefunden. Ich hatte damals die Grippe, falls du das noch weißt.« Lyle nickte. Wie hätte er das vergessen können? »Ich dachte, mein Monatszyklus wäre deshalb durcheinandergeraten. Als ich es sicher wusste, war meine erste Eingebung, es dir zu erzählen, Lyle, aber …«

»Ich hatte meine Wahl getroffen«, gab Lyle niedergeschlagen zu. Bereuen konnte er diese Wahl allerdings nicht, wenn er an Jamie dachte und daran, wie viel Glück der Junge in sein Leben gebracht hatte.

»Ja. Und ich traf meine Wahl. Mein Vater wollte, dass ich Aldo heiratete, also tat ich das. Die Eheschließung erfolgte schon sehr bald, er war überzeugt, dass Marcus sein Sohn war. Ich weiß, das war nicht ehrlich, aber ich fühlte mich so allein, und weil ich noch so jung war, hatte ich große Angst vor meinem Vater.« Wenn sie ehrlich war, jagte er ihr manchmal immer noch Angst ein.

»Das verstehe ich doch, Elena, aber hättest du mir je erzählt, dass Marcus mein Sohn ist?«, fragte Lyle.

»Ich weiß es nicht. Ganz ehrlich nicht«, gab Elena zurück. »Ich hatte immer Angst, dass Marcus mich hassen würde, wenn er es herausfinden sollte. Ich hätte wissen müssen, dass Lügen stets ans Licht kommen, sogar hier draußen, und es ist noch nie etwas Gutes dabei herausgekommen, wenn man Menschen belügt, die man liebt.«

Lyle verstand sie so gut. »Eines Tages wird er dir vergeben, Elena«, sagte er.

Elena sah Lyle an. »Wirst du mir je vergeben?«, fragte sie.

»Ich habe dir nichts zu vergeben«, antwortete er. Er starrte ins Leere, dachte an die Jahre mit Marcus, die ihm entgangen waren, und wurde plötzlich ganz traurig.

»Hast du deiner Verlobten erzählt, dass Marcus dein Sohn ist?«, fragte Elena.

»Ja«, erwiderte Lyle. »Alison hat es großartig aufgenommen.«

»Das … das freut mich sehr für dich, Lyle«, sagte sie, doch ihr Herz verkrampfte sich vor lauter Kummer.

So viele Jahre hatte sie da gesessen, wo sie gerade jetzt saß, und hatte darüber nachgedacht, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, hätte sie Lyle geheiratet. Er war die Liebe ihres Lebens gewesen, ein wunderbarer Mann. Und ein wunderbarer Mann war er immer noch, so fürsorglich und so attraktiv und ein hingebungsvoller Arzt. Und wieder einmal würde er eine andere heiraten.

»Ich mache mir Sorgen um dich, Elena«, sagte Lyle jetzt.

»Das brauchst du nicht. Es ist alles in Ordnung mit mir«, erwiderte sie. »Ich verdiene, was immer jetzt auf mich zukommt. Meine Lügen sind der Grund dafür, dass Aldo nie wieder gehen wird.«

»Du kannst dir doch nicht die Schuld an seinem Unfall geben«, rief Lyle entsetzt.

»Wieso nicht? Hätten meine Lügen ihn nicht derart erschüttert, wäre er nicht von dem Windmühlenturm gefallen.« Elena fühlte sich so elend, wenn sie an Aldos Schicksal dachte.

»Tag für Tag werde ich zu Unfällen auf Farmen gerufen, Elena.«

»Das mag ja stimmen, aber dieser eine Unfall ist meinetwegen passiert«, konterte Elena.

Lyle verstand auf einmal, wieso sich Elena die Schuld geben wollte. Hatte er nicht dasselbe getan, als Jamie bei dem Unfall ums Leben kam? »Wie willst du das schaffen, dich um einen Mann im Rollstuhl kümmern, um drei Kinder, um die Farm?«, fragte Lyle. Er dachte daran, dass Aldo ihr darüber hinaus das Leben vermutlich zur Qual machen würde, aber er traute sich nicht, das zu sagen.

»Ich habe keine Ahnung, ich weiß nur, dass ich es irgendwie schaffen muss«, erklärte Elena tapfer.

»Keiner würde dir Vorwürfe machen, wenn du weggehen solltest«, sagte Lyle.

Elena riss die Augen auf. »Wie kannst du so etwas nur sagen? Es ist meine Pflicht, mich um meinen Mann zu kümmern und das Bestmögliche für die Kinder zu tun.«

Lyle nickte. Er sehnte sich so sehr danach, über Marcus und über ihre gemeinsame Vergangenheit zu reden, doch wie schon bei ihrer ersten Begegnung schien es, als wollte Elena weder seine Sorge um sie noch eine Schulter zum Anlehnen. Sie war von so grimmigem Stolz und Unabhängigkeitsstreben erfüllt.

»Solltest du je irgendetwas brauchen …«, begann er dennoch.

Elena sah das Mitleid in Lyles Blick, und das kränkte sie mehr, als alle verletzenden Worte es vermochten. »Ich komme schon zurecht, Lyle«, unterbrach sie ihn und versuchte, die Gefühlsregungen aus ihrer Stimme herauszuhalten.

Lyle spürte, dass Elena kurz davor war, die Nerven zu verlieren, deshalb hielt er sich mit weiteren Ausführungen zurück. »Solltest du mich brauchen, ich bin nur einen Funkruf weit entfernt«, sagte er nur kurz. »Ich könnte mir denken, dass Marcus nichts mit mir zu tun haben will, aber wenn sich das je ändert, lass es mich bitte wissen.«

»Das werde ich«, versprach Elena und biss sich auf die zitternde Unterlippe. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt, Lyle.«

Lyle sah in ihre samtig braunen Augen. Verzweifelt wünschte er sich, sie in die Arme zu nehmen, sie zu halten, aber er wusste, dass sie das nicht wollte. Und so wandte er sich um und ging einfach weg.

Elena hielt ihre Gefühle unter Kontrolle, bis die Maschine der Fliegenden Ärzte nur noch ein Pünktchen an dem unermesslich weiten blauen Himmel war. Dann ging sie ins Haus, brach zusammen und begann, haltlos zu schluchzen. Sie weinte um alles, was sie verloren hatte, aber vor allem weinte sie um den Mann, der ihr vor so vielen Jahren das Herz gestohlen und es nie zurückgegeben hatte.