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»Elena«, flüsterte Dr. Lyle MacAllister zärtlich, als er die junge Frau sanft an der Schulter berührte, um sie zu wecken.
Er sah sie an, und in einer Gefühlsaufwallung zog sich sein Herz zusammen. Sie sah so friedlich aus im Schlaf, so vollkommen – ein Engel inmitten des Chaos und der Hässlichkeit des Krieges. Er wusste, er war dabei, sich hoffnungslos zu verlieben, und er vermochte nichts dagegen zu tun.
Auf der Station 8C des Victoria Hospital in Blackpool war es ruhig. Nur ab und zu war ein ersticktes Stöhnen aus einem der Betten ganz hinten in der Nähe der verdunkelten Fenster zu hören. In einer Ecke brannte eine kleine Lampe, die gerade genug Licht gab, damit die Krankenschwestern nach den Patienten sehen konnten.
Lyle schaute auf die Uhr. Es war nach Mitternacht. Seit vierzehn Stunden war er jetzt auf den Beinen, den größten Teil dieser Zeit hatte er im Operationssaal verbracht. Kein Wunder, dass er erschöpft war. Irgendwo in der Ferne hörte er das Kreischen von Sirenen. Es hatte Wochen gedauert, aber inzwischen empfand er das Geräusch nicht mehr als so schreckenerregend wie zu Beginn des Krieges, ein trauriger Beweis dafür, dass man sich mit der Zeit an alles gewöhnte. Er nahm nicht einmal mehr den stechenden Geruch von Wundbrand wahr, auch nicht den des Desinfektionsmittels Lysol und genauso wenig den Gestank des Todes.
Schwester Elena Fabrizia saß auf einem Korbstuhl neben einem ihrer Patienten. Der Gefreite Norman Mason des Neunten Bataillons vom Royal Lancaster Regiment war auf dem Schlachtfeld in Passendale, Belgien, schwer verwundet worden. Elena hatte er erzählt, er stamme aus Derbyshire, sei verheiratet und habe siebenjährige Zwillingstöchter. Der Krieg dauerte nun schon vier Jahre an, und er hatte sie seit dem Sommer 1914 nicht mehr gesehen. Elena reckte sich und schlug die Augen auf, dann stöhnte sie leise, denn ihr Nacken war vom langen Sitzen steif geworden.
»Bist du etwa seit dem Ende deiner Schicht hier?«, fragte Lyle im Flüsterton.
Er wusste, dass ihre Schicht um sieben Uhr endete, und dachte, sie wäre nach Hause zu ihren Eltern gegangen, aber dass sie hier neben Norman Mason eingeschlafen war, wunderte ihn nicht sehr. Die Hingabe, mit der sie ihren Dienst versah, war nur eines der Dinge, die er an ihr lieben und bewundern gelernt hatte.
»Wie spät ist es denn?«, wollte Elena verschlafen wissen.
Sie richtete das weiße Schwesternhäubchen über ihrem langen dunklen, locker nach hinten gebundenen Haar. Ihre weiße Schürze mit dem großen roten Kreuz, das sie als Krankenschwester zu erkennen gab, trug sichtbare Zeichen der Schmutzarbeit, die sie an diesem Tag verrichtet hatte.
»Viertel nach zwölf«, antwortete Lyle leise.
»Ach du meine Güte. Meine Eltern werden sich Sorgen machen.« Elena richtete sich auf und schaute auf den Mann in dem Bett, neben dem sie saß. »Normans Bein sieht gar nicht gut aus.«
Ihre Stimme zitterte, als sie an den Preis dachte, den er vielleicht für seine Verwundung würde zahlen müssen. Ihre Ausbildung hatte sie in einem kleinen Krankenhaus erhalten, das keine verwundeten Soldaten aufnahm. Vor ein paar Monaten hatte sie sich ins Victoria Hospital versetzen lassen, weil man dort so verzweifelt Personal brauchte. Derart entsetzliche Verwundungen hatte Elena noch nie gesehen, aber sie war zweiundzwanzig und dachte, sie besitze die nötige Reife und genug Sachverstand, um Distanz zu wahren zu dem, was sie sah. Dass sie so sehr betroffen war, weckte bei ihr Zweifel an ihrer Berufung. Aber sie wurde gebraucht. Sie konnte nicht weglaufen.
Normans rechter Wadenmuskel war glatt durchtrennt, der Muskel zwischen Knie und Knöchel völlig zerfetzt. Der Knochen in seinem linken Bein war so zerschmettert, dass er nicht mehr zu retten gewesen war. Das Bein hatte man ihm drei Tage zuvor oberhalb des Knies amputiert.
»Er hat so hohes Fieber, dass ich fürchte, sein Bein wird brandig werden«, fügte Elena hinzu.
Trotz der Kälte draußen stand ihrem Patienten der Schweiß auf der Stirn. Sie beugte sich über ihn und tupfte ihm den Schweiß sanft mit einem Tuch ab.
Am Ende ihrer zwölfstündigen Schicht war Elena noch einmal zu Norman ans Bett gegangen, um nach ihm zu sehen. Das Betäubungsmittel wirkte kaum gegen seine Schmerzen, und so war er über jede Abwechslung froh. Sie war erschöpft gewesen, aber der junge Soldat brauchte Gesellschaft, um ein wenig von seinen Schmerzen abgelenkt zu sein, und das wollte sie ihm nicht versagen. Anfangs war Norman voller Wut und Selbstmitleid wegen des verlorenen Beins gewesen, aber an diesem Abend war das anders. Sein Sinn für die Realität war erwacht, und das Selbstmitleid hatte sich in entsetzliche Angst verwandelt – Angst davor, dass er sterben und seine Mädchen nicht aufwachsen sehen könnte.
Lyle zog Elena weg von Norman. Wenn der junge Soldat auch in den Genuss einiger Minuten gnädigen Schlafs gekommen war, wollte er doch auf keinen Fall Gefahr laufen, dass er plötzlich aufwachte und mit anhörte, was er nun zu sagen hatte.
»Du weißt, dass er womöglich auch das andere Bein verlieren wird, Elena«, flüsterte Lyle. »Die Entscheidung fällt morgen. Falls wir sein Leben nur durch die Amputation retten können, werden wir keine Wahl haben.«
Elena war zu erschöpft, um ihre Gefühle unter Kontrolle halten zu können, und ihre dunkelbraunen Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich weiß. Ich hoffe sehr, dass sein Bein gerettet werden kann. Er hat schon so viel verloren.«
»Ich bin sicher, Elena, seine Frau zieht es vor, einen Mann ohne Beine zu haben, als gar keinen Mann. So solltest du das sehen.«
Elena ließ den Kopf sinken. »Du hast Recht«, flüsterte sie. »Du bist so stark und klug, Lyle. Ich wünschte, ich wäre wie du.«
Bei der Bemerkung zuckte Lyle zusammen. »Ich bin alles andere als vollkommen, Elena. Ich bin bloß ein Mann, der versucht, sein Bestes zu geben. Und das gelingt mir keineswegs immer.«
»Du hast so vielen schon das Leben gerettet. Ich weiß gar nicht, was dieses Krankenhaus ohne dich anfangen sollte, Lyle, und wie ich ohne dich die Tage durchstehen könnte.«
»Du bist stärker, als du denkst, Elena, und du spendest Männern wie Norman so viel Trost. Du solltest nicht unterschätzen, was für ein besonderer Mensch du bist.«
Lyle nahm ihre Hand und führte sie noch weiter von Normans Bett fort. In einer nur schwach beleuchteten Ecke der Station standen sie einander gegenüber. Lyle sah Elena in die Augen. Er hatte gegen die Gefühle für sie angekämpft, aber es fiel ihm schwerer und schwerer, den Ruf seines Herzens zu ignorieren. Er wollte sie küssen, wollte sie wieder und immer wieder küssen.
Elena wurde jäh von ihren Empfindungen überwältigt. Lyle war der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte. Alle Schwestern im Victoria Hospital, egal wie alt sie waren, wurden beinahe ohnmächtig, wenn er in ihre Richtung schaute, er schien das jedoch nicht zu bemerken. Elena war durchaus empfänglich für sein gutes Aussehen, er war groß und blond und hatte grüne Augen, aber sie war aufrichtig davon überzeugt, dass sie als einzige der Schwestern begriff, dass da weit mehr an Dr. Lyle MacAllister war. Er war sensibel und auf eine witzige Art stets zum Flirten aufgelegt. Sogar inmitten all des Entsetzlichen, dem sie sich tagtäglich gegenübersahen, brachte er sie mit seinem wunderbaren Sinn für Humor zum Schmunzeln. Sie verstand gut, weshalb die Wärme seiner Stimme und sein ausgeprägter schottischer Akzent den Patienten solch ein Trost waren. Sie spürte das wahre Ausmaß seines Mitgefühls und seiner Hingabe an die Medizin. Er war ein außergewöhnlicher Mann, und sie hatte sich bis über beide Ohren in ihn verliebt.
Lyle hatte gerade seine Ausbildung in einem Krankenhaus in Edinburgh beendet, als der Krieg ausbrach. Danach hatte er vier Jahre lang im Crichton Royal Hospital in Dumfries, Schottland, gearbeitet, ehe er zusammen mit einigen Kollegen nach England in die Stadt Blackpool ging. Es war eine große Enttäuschung für ihn, dass es ihm in den sechs Wochen seiner Tätigkeit in Blackpool nicht gelungen war, Verbesserungen auf den überbelegten Stationen durchzusetzen, aber die Medikamentenvorräte waren ärgerlich knapp. Ein weiteres Ärgernis, abgesehen von den Verwundeten, die schneller eingeliefert wurden, als man sie behandeln konnte, war die Tatsache, dass die Spanische Grippe Tausende von Menschen in ganz Europa dahinraffte.
In dem Moment, als Lyle Elena Fabrizia zum ersten Mal gesehen hatte, war seine ganze Welt auf den Kopf gestellt worden. Bevor er mit seiner Arbeit am Victoria Hospital begonnen hatte, war er damit zufrieden gewesen, das Leben zu führen, das diejenigen, die ihn liebten, für ihn geplant hatten. Jetzt kam ihm seine Zukunft vor wie ein Stapel Spielkarten, die an einem windigen Tag in alle Richtungen zerstreut worden waren.
»Du solltest deinen Mundschutz tragen, Elena. Allein in den vergangenen vier Tagen sind zwanzig Menschen in diesem Krankenhaus an der Grippe gestorben«, sagte Lyle besorgt. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, sie womöglich zu verlieren.
Elena nickte nur. Sie war zu erschöpft zum Denken, zu erschöpft, sich auch nur zu regen. Im ersten Moment nahm sie kaum wahr, dass Lyle sie an sich zog. Aber dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände, und sie erwiderte seinen Blick. Lyle zog sie in seine Arme, und ihre Lippen fanden sich wie so oft in der letzten Zeit. Sie hörten die Nachtschwestern auf der Station nebenan, also hatten sie einen Moment für sich allein, aber sie mussten vorsichtig sein. Geheimnisse ließen sich in der betriebsamen Umgebung eines Krankenhauses schwer wahren, und sie beide hatten ihre ganz eigenen Gründe dafür, die Tatsache, dass sie sich ineinander verliebt hatten, nicht bekannt werden zu lassen.
»Ich … muss nach Hause«, stammelte Elena benommen. Nicht auszudenken, wie ihr Vater reagierte, wenn er herausfand, was sie hier tat. Zögerlich löste sie sich aus Lyles Umarmung. »Mein Vater könnte nach mir gucken kommen.«
Luigi Fabrizia war sehr streng. Er erlaubte es Elena nicht, mit Männern auszugehen. Auch wenn Luisa Fabrizia eine englische Mutter hatte, war es doch kein Geheimnis in Elenas Familie, dass ihr Vater von ihr erwartete, dass sie einen Italiener, einen Katholiken heiratete. Wüsste er, dass sie sich in einen schottischen Protestanten verliebt hatte, würde er sie zu seiner Familie nach Italien schicken. Deshalb blieben Lyle und Elena nur wenige gestohlene Momente, die sie genossen, wann immer sie konnten.
»Bevor du gehst, muss ich dir noch etwas sagen, Elena«, erklärte Lyle. Er zog sie weg von der Station, in die Abgeschiedenheit eines kleinen Besucherzimmers, in dem einige Holzstühle standen. Der Raum erinnerte Lyle an die vielen Male, die er den Familien seiner Patienten die schlimmsten Nachrichten überbracht hatte. Doch jetzt musste er mit Elena über etwas anderes reden als Patienten, Krankheiten und Tod. »Ich habe vier Tage Urlaub bekommen, Elena, von morgen früh an«, sagte er ernst. »Zeit genug, um nach Dumfries zu fahren.« Er beobachtete, wie sie darauf reagierte, und sah ihre Enttäuschung darüber, dass sie nicht ein wenig Zeit in diesen Tagen miteinander verbringen würden. »Ich muss zu meiner Familie«, fügte Lyle hinzu.
Verzweifelt wünschte er sich, ihr den wahren Grund für seine Fahrt nach Schottland sagen zu können, aber er durfte nicht Gefahr laufen, sie zu verlieren.
»Natürlich musst du nach Hause fahren«, erwiderte Elena und setzte eine tapfere Miene auf. »Deine Familie muss dich ja unendlich vermissen. Ganz sicher ist sie stolz auf die großartige Arbeit, die du leistest, aber ich werde dich vermissen.«
Lyle zögerte. Sollte er Elena mehr über sein Leben in Schottland erzählen? Nein, er brachte es nicht über sich, sie zu verletzen. »Versprich mir, dass du deinen Mundschutz trägst, wenn ich weg bin«, sagte er ernst.
Trotz ihrer Erschöpfung musste Elena lächeln. »Das werde ich«, antwortete sie.
»Elena!«, rief jemand auf dem Korridor.
Sie riss die Augen auf, als sie die Stimme ihres Vaters erkannte. »Das ist mein Papà«, flüsterte sie panisch. »Ich muss gehen. Auf Wiedersehen, Lyle. Pass auf dich auf, und komm zurück zu mir.«
Noch einmal küsste sie ihn flüchtig und eilte dann hinaus.
Es wurde schon dunkel, als Lyle am späten Nachmittag des kommenden Tages in seiner Heimatstadt Dumfries aus dem Zug stieg. Er verließ den Bahnhof, und es fing wie so oft in Schottland an zu regnen, aber er bemerkte es kaum. Seine Gefühle waren in Aufruhr. Lyle steuerte auf direktem Weg das bescheidene Häuschen seiner Eltern auf der Burns Street an.
Sein Vater Tom MacAllister arbeitete seit fast dreißig Jahren als Arzt. Früher hätte man ihn als unermüdlich beschreiben können, aber Mina MacAllister war sich bewusst, dass die Arthritis ihn langsamer machte. Immer öfter schlief er ein, kaum dass er einmal für ein paar Minuten ausruhen konnte. Im Winter, wenn die Schmerzen ihm zu schaffen machten, war er manchmal ruppig, aber seinen Patienten gegenüber stets voller Mitgefühl. Er konnte dickköpfig sein wie ein alter Esel, und doch überraschte er seine Frau Mina immer wieder damit, wie sensibel er seinen Beruf ausübte. Lyle verstand sich gut mit seinem Vater, und der Respekt und die tiefe Zuneigung, die sie füreinander empfanden, waren über die Zeit stetig gewachsen.
In den dreißig Jahren seiner engagierten Arbeit war es durchaus keine Seltenheit gewesen, dass Tom drei Generationen ein und derselben Familie behandelte. Er kümmerte sich um alles, von harmlosen Schnittwunden bis hin zu gebrochenen Herzen. Schon vor dem Krieg hatte er damit begonnen, eine Pastete oder ein Hühnchen, ein paar Eier oder ein Stück Käse als Honorar für seine Dienste zu akzeptieren, wenn die Menschen, die ihn um Hilfe baten, nicht zahlen konnten. Doch jetzt, da die Lebensmittel für alle rationiert waren, lehnte er auch das oftmals standhaft ab. Er wollte nicht, dass ein Kind seinetwegen hungerte. Viele seiner dankbaren Patienten hatten sich deshalb angewöhnt, ihm selbst gezogenes Gemüse vor die Haustür zu legen und dann zu leugnen, dass sie es gewesen waren. Am Vortag war es Lauch gewesen, also hatte Mina Suppe gekocht.
Lyles Mutter stammte ursprünglich aus den Highlands. Sie war eine kräftige, hart arbeitende Frau und oft kurz angebunden mit Leuten außerhalb ihrer engsten Familie. Wer ihr nahestand, kannte ihr weiches Herz und ihre große Liebe zu Tieren. Auch wenn sie selbst wenig zu essen hatten, fand sie immer noch etwas für einen hungrigen streunenden Hund oder eine herrenlose Katze.
Lyles Bruder Robbie war Kaplan bei der Armee. Sie hörten nicht oft von ihm. Sein letzter Brief war aus Italien gekommen, und seine Familie klammerte sich an das Wissen, dass er noch am Leben gewesen war, als er den Brief abgeschickt hatte.
Zu seiner Überraschung traf Lyle bei seiner Ankunft seine jüngere Schwester Aileen zu Hause an. Bei der Arbeit in einer Munitionsfabrik in Newcastle upon Tyne hatte sie sich an der Hand verletzt, und deshalb hatte man ihr zwei Wochen freigegeben.
Nach einem kleinen Schwatz mit Mutter und Schwester über einem dampfenden Teller Lauchsuppe, gefolgt von Hafermehlkuchen und Tee, gingen Lyle und sein Vater auf ein Bier ins Mulligan’s Inn. Eine Weile plauderten sie miteinander über die Leute im Ort und Toms Meinung zu Robbies Arbeit als Kaplan, dann kamen sie auf das Victoria Hospital zu sprechen – auf die Medikamentenknappheit und den Ausbruch von Tuberkulose in Dumfries. Aber Tom spürte, dass Lyle aufgewühlt war, und das führte er nicht auf dessen Arbeit im Hospital zurück. Sein Instinkt funktionierte einwandfrei, wenn es um Menschen, vor allem um seine Familie, ging, und so nahm er an, dass das, was seinem Sohn zu schaffen machte, nichts mit dem Krieg zu tun hatte. Nach einem langen Schweigen brachte er seine Gedanken zur Sprache.
»Dir brennt etwas auf der Seele, mein Junge«, erklärte er sachlich. »Lass hören.« Tom richtete seinen Blick fest auf Lyle.
Plötzlich kam sich Lyle vor, als sei er wieder fünf Jahre alt. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Es ist nichts Wichtiges, Dad. Ich komm schon damit zurecht«, antwortete er. Er war nicht sicher, ob sein Vater ihn verstehen würde.
Tom überlegte einen Moment. »Bestimmt bekommst du die schlimmsten Auswirkungen des Krieges zu sehen, Lyle, da wo du arbeitest. Es ist keine Schande, wenn einen das betroffen macht.«
»Es muss einen einfach betroffen machen, wenn man sieht, wie sinnlos dieser Krieg ist, aber das ist es nicht, was mir auf der Seele brennt, Dad«, gestand Lyle.
»Wenn es nicht der Krieg ist, dann gibt es nur noch eines, das einem Mann die Sinne verwirrt, und das ist eine schöne Frau. Machst du dir Sorgen wegen Millie?«
Lyle trank seinen letzten Schluck Ale und spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Er musste sich seine Schuld von der Seele reden, aber er hatte keine Ahnung, wie sein Vater reagieren würde. »Ich habe mich in eine Schwester aus dem Krankenhaus verliebt«, gestand er, ehe ihn sein Mut verließ. Er sah sich um, wollte sichergehen, dass keiner sein Geständnis gehört hatte, aber von ihnen beiden abgesehen hockten nur noch zwei Männer in einer Ecke der Gastwirtschaft und spielten Karten. »Solche Gefühle habe ich bisher nicht gekannt, Dad. Ich muss immerzu an sie denken, Tag und Nacht.«
Takt war nicht gerade Toms Stärke, aber er nahm sich einen Moment Zeit, um seine Worte sorgfältig abzuwägen. »In Kriegszeiten verhalten sich die Menschen anders, Junge. Sie wissen, dass sie jederzeit von einer Bombe getroffen werden können, also werden sie impulsiv und neigen dazu, nur für den Augenblick zu leben. Gefühle geraten außer Kontrolle.«
»Was willst du damit sagen, Dad? Dass meine Gefühle nicht echt sind?«
Tom sah, dass Lyle gekränkt war. »Deine Gefühle mögen ja echt sein, Junge, aber wenn der Krieg aus ist, und es heißt, das könne sehr bald der Fall sein, wird dieses Mädchen dann immer noch da sein, und wirst du dann immer noch dieselben Gefühle für es hegen?«
»Im Moment weiß ich nur eines sicher: Ich werde Elena Fabrizia lieben, solange ich lebe«, erklärte Lyle beharrlich.
»Wenn sie Fabrizia heißt, ist sie wohl Italienerin«, sagte Tom und runzelte die Stirn.
»Ja, ihre Eltern sind italienische Katholiken.«
»Dann steht dir ziemlich viel Ärger ins Haus, mein Sohn.«
»Wie meinst du das, Dad?«
»Ich habe doch wohl Recht, wenn ich annehme, dass du die Familie dieser Elena noch nicht kennengelernt und auch noch nicht den Segen dieser Leute hast?«
Lyle ließ den Kopf sinken. »Ja, aber unsere Beziehung ist auch erst ein paar Wochen alt.«
»Wenn mich mein Wissen über italienische Katholiken nicht trügt, wird ihr Vater erwarten, dass sie einen Landsmann, einen Katholiken, heiratet, und eine entsprechende Ehe arrangieren. Ein schottischer Protestant wird sein Haus gar nicht erst betreten dürfen.«
Lyle verließ der Mut. »Ich weiß, es wird Hindernisse geben, aber die werden wir aus dem Weg räumen.«
»Das Mädchen wird von der Familie verstoßen werden, Lyle. Hast du denn nicht schon genug Schwierigkeiten?«
Lyle war verzweifelt. »Ich liebe Elena so sehr. Kann ich denn gar nichts tun?«
»Was ist mit Millie? Sie glaubt, dass sie eines Tages deine Frau wird, das ist nicht gerade ein Geheimnis. Deiner Mutter hat sie erzählt, sie habe die Aussteuer zusammen und sogar das Hochzeitskleid schon ausgesucht.«
»Ich habe Millie noch keinen Heiratsantrag gemacht, Dad«, wehrte Lyle ab.
»Das stimmt. Aber sie ist sicher, dass ihr eine gemeinsame Zukunft haben werdet, sofern der Krieg das nicht verhindert. Du solltest sehr vorsichtig sein, ehe du das für etwas wegwirfst, was womöglich nur eine Kriegsromanze ist.«
Es war schon spät, aber Lyle beschloss, Millie noch an diesem Abend aufzusuchen, um mit ihr zu sprechen. Das Herz war ihm schwer, als er jetzt an die Tür des Hauses ihrer Familie klopfte. Lyle hatte seinen warmen Mantel eng um sich gezogen und den Kragen hochgeschlagen, aber er vermochte ihn nicht genügend vor Regen und Wind zu schützen.
Millie öffnete die Tür, und ihre Miene hellte sich auf, als ob hundert Kerzen angezündet würden. »Lyle!«
Sie warf sich Lyle in die Arme und gab ihm einen warmen Kuss auf die vor Kälte ganz blauen Lippen. Sein völlig durchnässter Mantel schien sie gar nicht zu stören.
Lyle hatte sich das Hirn zermartert bei dem Versuch, seine Gefühle für Millie mit denen für Elena zu vergleichen. Ja, er liebte Millie, aber es war nicht dieselbe Liebe, die er für Elena empfand. Wenn er an Millie dachte, dann mit Wärme und Zärtlichkeit. Seit der Schulzeit kannte er die quirlige junge Frau mit den Sommersprossen auf der Nase und den üppigen rostroten Locken, und in den letzten vier Jahren waren sie oft miteinander ausgegangen. Er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart.
Die Art Liebe, die er für Elena empfand, war völlig anders. Sein Herz raste, wann immer er sie sah. Er sehnte sich danach, sie zu berühren, und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick. Der Gedanke, seine Zukunft mit ihr zu teilen und Kinder mit ihr zu haben, erfüllte ihn mit Freude.
»Wieso hast du mir denn nicht Bescheid gegeben, dass du kommst? Ich hätte mich doch hübsch für dich gemacht«, sprudelte es aus Millie heraus, während sie ihn ins Haus zog, weg aus dem kalten Wind. Der November war in diesem Jahr besonders rau. Es regnete und stürmte nahezu jeden Tag. Lyle konnte bis in das kleine Wohnzimmer sehen, in dem ein warmes und einladendes Feuer im Kamin brannte.
»Ich … mein Urlaub ergab sich ganz plötzlich, also dachte ich, ich nutze die Gelegenheit und fahre einfach nach Hause«, antwortete Lyle, als sie das gemütliche Zimmer betraten, wo er sich die Hände am Kaminfeuer wärmte. Sie schwiegen, und in der Stille hörte Lyle jemanden in einem anderen Zimmer husten. »Wie geht es deinen Eltern?«
»Sie sind schon im Bett«, sagte Millie. Auch sie hatte sich bereits bettfertig gemacht. Sie trug einen Morgenmantel und Hausschuhe.
»Tut mir leid, dass ich so spät noch störe«, entschuldigte sich Lyle. »Nach einer Unterhaltung mit Mom und Aileen bin ich noch mit Dad auf ein Bier ins Mulligan’s Inn gegangen. Aileen hat mir von Andrew erzählt. Es geht ihm gut.« Millies Bruder Andrew arbeitete in derselben Munitionsfabrik wie Aileen.
»Das ist schön. Es macht im Übrigen nichts, dass es schon spät ist, Lyle. Du bist da, und das ist die Hauptsache. Mom und Dad wird es leidtun, dass sie dich verpasst haben.« Sie nahm seinen Mantel und hängte ihn zu den anderen an einen Haken. »Eigentlich geht es Dad nicht so gut, deshalb sind Mom und er auch so früh schon ins Bett gegangen.«
Das beunruhigte Lyle. Er mochte Jock Evans. »Dann ist das dein Vater, der da hustet?«
»Ja, er hustet die ganze Nacht und hält uns alle wach.«
»Wie lange geht das schon?«
»Ein paar Tage.«
»War er bei einem Arzt?«
»Du weißt doch, wie mein Vater ist, Lyle.«
»Ja, er sagt, Ärzte sind für kranke Leute da.«
»Stimmt. Sein Husten ist fürchterlich, aber er gibt nicht viel drauf und geht trotzdem zur Arbeit.«
Lyle wusste, dass Jock noch sturer war als sein eigener Vater, aber er war auch ein großer, kräftiger Mann. Es fiel ihm schwer, ihn sich krank vorzustellen.
Lyle setzte sich aufs Sofa, dasselbe Sofa, auf dem er und Millie sich kurz vor seiner Abreise nach Blackpool geliebt hatten. Sie waren in genau der Gemütsverfassung gewesen, die sein Vater zuvor beschrieben hatte. Millie und er hatten sich für die Ehe aufgespart, hatten sich mit Intimitäten zurückgehalten, aber niemand konnte garantieren, dass das Victoria Hospital von Bomben verschont würde, und wenn Lyle nicht wieder nach Hause kommen würde, gäbe es keine gemeinsame Zukunft. So hatten sie etwas riskiert, was sie normalerweise nicht riskiert hätten – um ihre Liebe zu besiegeln.
Lyle starrte in die Flammen des Kaminfeuers und vermied den Blick in Millies vertrauensvolle strahlend blaue Augen. Er suchte nach Worten, um ihr zu sagen, dass er sich in eine andere Frau verliebt hatte, doch wenn sich die Worte auch in seinem Kopf zusammenfügten, wollten sie ihm doch nicht über die Lippen kommen.
»Ich hab dich so vermisst«, sagte Millie, setzte sich neben ihn und drückte ihm die kalten Hände. Sie hatte sich auch nicht so gut gefühlt, aber die Freude, Lyle wiederzusehen, wirkte wie eine Arznei. »Soll ich dir einen heißen Tee machen? Der wärmt dir die Knochen.«
»Nein, es geht schon«, antwortete Lyle.
»Wie ist es denn in Blackpool?«
»Ich habe kaum Gelegenheit, mir was von der Stadt anzusehen«, erwiderte Lyle wahrheitsgemäß. »Im Krankenhaus geht es ziemlich hektisch zu. Wir können kaum Schritt halten mit der nicht abreißenden Zahl von Verwundeten.« Lyle holte tief Luft. »Möglicherweise werde ich jetzt eine ganze Weile nicht mehr nach Hause kommen können, Millie.«
Er wollte ihr sagen, sie solle mit ihrem Leben fortfahren, statt auf ihn zu warten. Doch Millie kam ihm zuvor.
»Ich hoffe, du kannst dich genügend ausruhen, Lyle. Ich weiß ja, mit wie viel Hingabe du arbeitest, aber du brauchst auch Ruhe.«
Er sah, wie Millie enttäuscht die Stirn runzelte, sie hielt aber mit ihren Gefühlen zurück. Stattdessen sorgte sie sich um seine Gesundheit. Das sah Millie ähnlich. Lyle fühlte sich noch schuldiger.
»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte er. Verzweifelt suchte er nach Worten. Wie konnte er ihr sagen, was er ihr eigentlich sagen wollte? Er wechselte das Thema. »Und wie geht es dir?«
Millie erzählte von ihrer Arbeit als Lehrerin und berichtete von gemeinsamen Freunden in der Stadt. Lyle nahm wahr, dass er gar nicht richtig zuhörte. Mit seinen Gedanken war er bei Elena. Das durfte nicht sein. Er konnte Millie nicht weiter belügen. Er musste ihr die Wahrheit sagen. Und zwar jetzt.
»Lyle? Lyle, hörst du mir überhaupt zu? Geht es dir wirklich gut, Lyle? Du weißt, du kannst mir alles sagen«, meinte Millie voller Mitgefühl. »Der Krieg macht dir zu schaffen, nicht wahr? Die fürchterlichen Verwundungen, die du Tag für Tag siehst. Habe ich Recht?«
Lyle kam sich wie das niedrigste Wesen auf Erden vor. Sie merkte, dass etwas mit ihm nicht stimmte, er ertrug den Gedanken jedoch nicht, ihr das Herz zu brechen, gleichzeitig verachtete er sich dafür, dass er so verlogen und feige war.
»Mit den Folgen des Krieges umzugehen ist schwer, Millie. Das hat mich verändert. Ich sehe inzwischen vieles anders.«
»Das verstehe ich, Lyle.« Millie nahm sein Gesicht in ihre Hände. »Aber mich siehst du doch nicht anders, oder?«
Diesen Augenblick sah Lyle als seine Chance. »Du verdienst nur das Beste, Millie. Du bist ein guter Mensch … aber du solltest …« Du solltest dein Leben mit einem anderen Mann teilen, wollte er sagen, aber wieder war Millie schneller.
»Ich verstehe, was du durchmachst, Lyle«, unterbrach sie ihn.
»Wirklich?«, fragte Lyle. Vielleicht würde sie ihn ja wirklich verstehen.
»Ich habe damit gerechnet, dass diese Erfahrung dich verändern würde. Solange sich an deinen Gefühlen für mich nichts ändert, kann ich damit umgehen.«
»Millie, manchmal ändern sich die Umstände …«, versuchte er eine Erklärung, aber sie unterbrach ihn erneut.
»Wenn ich dich jetzt eine ganze Weile nicht sehe, lass mir eine Erinnerung, Lyle. Schlaf mit mir, bitte.«
Lyle war verzweifelt. Ehe er noch etwas sagen konnte, küsste sie ihn leidenschaftlich, zog ihn an sich und legte sich auf dem Sofa zurück. Das Feuer knisterte behaglich, als Millie ihm mit derselben Sehnsucht, die er schon einmal, vor seiner Abreise, bei ihr gesehen hatte, in die Augen schaute.
Lyle verkrampfte sich. »Dein Vater, Millie …«
»Der steht schon nicht auf. Keiner wird uns stören.«
Wieder suchte sie ungeduldig seinen Mund.
»Hör auf, Millie«, sagte Lyle, löste sich aus ihrer ungestümen Umarmung und setzte sich auf.
»Was ist denn?«, fragte Millie mit geröteten Wangen.
Lyle sah, dass sie gekränkt war. Sicherlich fragte sie sich, ob die furchtbaren Erlebnisse im Hospital dazu geführt hatten, dass er nicht mehr mit einer Frau zusammen sein konnte.
»Der Husten deines Vaters hört sich schlimm an. Ich fürchte, es könnte etwas Ernsthaftes sein.«
»Meinst du?« Millie richtete sich auf und zog den Gürtel ihres Morgenmantels, der sich gelöst hatte, zu.
Lyle stand auf. »Ja. Ich muss ihn mir mal ansehen.« Lyle fiel ein, dass er seine Arzttasche nicht bei sich hatte, aber er würde auch ohne sie einen ersten Eindruck vom Krankheitsbild Jocks gewinnen.
Millie erhob sich nun ebenfalls und ging zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Als sie nach ihrer Mutter rief, machte diese fast sofort auf.
»Was ist denn, Millie?«, flüsterte sie.
Es war im Grunde nicht nötig zu flüstern, denn Jock konnte ohnehin nicht schlafen. Millie hörte, wie er nach Atem rang.
»Lyle ist hier, und er will sich Dad mal ansehen«, antwortete Millie mit drängendem Unterton.
Bonnie Evans war erleichtert. Noch eine schlaflose Nacht voller Sorgen würde sie nicht durchstehen.
»Das ist nicht nötig«, rief Jock. »Sag ihm, er soll nach Hause gehen.«
»Das mache ich ganz bestimmt nicht«, zischte Bonnie. Sie nahm ihren Morgenmantel von einem Haken an der Innenseite der Tür, verließ das Schlafzimmer und ging Millie nach in die Küche, wo Lyle wartete.
»Hallo, Lyle«, sagte sie und band sich den Morgenmantel zu, ehe sie vergebens versuchte, ihre widerspenstigen Locken zu zähmen.
»Tut mir leid, dass ich Sie aus dem Bett geholt habe, aber wie sich Jocks Husten anhört, gefällt mir gar nicht«, sagte Lyle.
»Der sture alte Esel will nicht zum Arzt«, jammerte Bonnie. »Ich habe solche Angst, dass er sich womöglich was eingefangen hat … Die Spanische Grippe ist doch im Umlauf.«
»Ach, Mom, das meinst du nicht im Ernst, oder?«, fragte Millie entsetzt.
Bonnies blaue Augen füllten sich mit Tränen. »Doch«, antwortete sie.
»Wir wollen nichts übereilen«, sagte Lyle, während er gemeinsam mit Millies Mutter zum Schlafzimmer ging.
Lyle waren die dunklen Ringe unter Bonnies Augen aufgefallen, und er wusste, dass sie mehr als nur eine schlaflose Nacht gehabt hatte. Als Bonnie Licht im Schlafzimmer machte, fand er seine Vermutung bestätigt. Lyle sah Jock vornübergebeugt auf dem Bettrand sitzen, sein Gesicht hatte eine ungesunde graue Farbe. Mühsam rang er nach Atem. Dieser Zustand war sicherlich nicht innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden eingetreten – er währte schon länger. Lyle konnte sich nicht daran erinnern, Jock jemals so krank gesehen zu haben. Doch sein beharrlicher Stolz schien zu verhindern, dass er selbst das auch so sah. Einsicht war noch nie seine Stärke gewesen.
»Lyle wird nur mal kurz nach dir sehen, Jock«, sagte Bonnie.
»Mach nicht solch einen Aufstand, Frau«, grummelte er. »Ich hab mir bloß eine üble Erkältung eingefangen.«
Er hustete und atmete pfeifend, sein Gesicht lief dunkelrot an.
»Das ist keine Erkältung, und das wissen wir beide«, gab Bonnie verärgert zurück. »Jetzt lass Lyle nach dir sehen. Und du wirst alles tun, was er sagt.« Sie schob Lyle ins Schlafzimmer.
»Guten Abend, Mr. Evans«, sagte Lyle verlegen. »Ihnen geht es nicht ganz so gut, oder, Sir?«
»Ich bin bloß ein bisschen außer Atem, und in der Brust wird es mir so eng. Das vergeht schon wieder, Bonnie hätte Sie nicht belästigen sollen. Bestimmt haben Sie etwas Wichtigeres zu tun.«
»Nein, eigentlich nicht. Ich habe ein paar Tage Urlaub.«
»Dann sollten Sie sich erholen und sich nicht mit mir abgeben«, brummelte Jock, ehe ihn wieder ein krampfartiger Hustenanfall schüttelte.
»Das macht mir keine Mühe, Sir. Ich habe das im Übrigen von mir aus vorgeschlagen, als ich Sie husten hörte. Mir war klar, dass das kein gewöhnlicher Husten ist«, erwiderte Lyle.
Als er ans Bett trat und Jock gründlicher musterte, gab er sich Mühe, seine Besorgnis zu verbergen, weil Bonnie immer noch in der Tür stand – aber ihr entging das nicht. Stark wie ein Ochse, so kannte Lyle Millies Vater von früher, aber jetzt wirkte er sehr krank und doppelt so alt, wie er war.
»Eine Tasse Tee wäre schön, Mrs. Evans«, bat Lyle.
»Aber natürlich.« Bonnie verließ gleich das Schlafzimmer, um Tee zu kochen.
Lyle ging vor Jock in die Hocke. »Ich habe mein Stethoskop nicht dabei. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern mein Ohr an Ihren Brustkorb legen, damit ich Ihre Lungen abhören kann, einverstanden?«
»Na schön«, meinte Jock, dem sichtlich unbehaglich zumute war. »Aber Sie vergeuden Ihre Zeit.«
Jock knöpfte seine Schlafanzugjacke auf, und Lyle legte ihm sein Ohr auf den Brustkorb. Er bat ihn, so tief einzuatmen, wie er nur konnte. Jock bemühte sich, aber das tiefe Einatmen führte zu einem weiteren Hustenanfall. Lyle bemerkte, dass sich Jock die Seite hielt. Entweder hatte er Wasser in der Lunge oder einen Rippenbruch aufgrund des heftigen Hustens.
»Es ist doch bloß eine Erkältung, oder?«, fragte Jock, als er wieder Luft bekam.
»Es könnte eine Lungenentzündung sein, aber durchaus auch etwas anderes«, antwortete Lyle und setzte sich neben Jock aufs Bett. Dann sprach er im Flüsterton. »Mein Vater erzählte mir, jemand bei Ihnen auf der Arbeit habe Tuberkulose. Sie wissen doch, wie ansteckend das ist, nicht, Mr. Evans?«
»Herr im Himmel, sagen Sie bloß nichts zu Bonnie oder Millie«, erwiderte Jock leise und drehte sich zur Tür um.
»Das werde ich nicht, wenn Sie einverstanden sind, im Krankenhaus ein paar Untersuchungen machen zu lassen.«
Wider Erwarten war es nicht schwer, Jock davon zu überzeugen, dass dies unerlässlich war. Lyle verabschiedete sich von ihm und verließ das Schlafzimmer, um in die Küche zu gehen, wo Millie und ihre Mutter auf ihn warteten. Lyle erklärte ihnen gleich, seiner Meinung nach habe Jock nicht die Spanische Grippe.
»Es könnte eine Lungenentzündung sein, aber ehe sich das bestätigt, müssen im Krankenhaus ein paar Untersuchungen durchgeführt werden.«
»Im Krankenhaus«, sagte Bonnie. »Nie und nimmer kriege ich Jock ins Krankenhaus.« Sie reichte Lyle eine Tasse Tee und einen Teller mit Haferplätzchen.
»Er ist schon damit einverstanden«, erwiderte Lyle.
»Was? Mein Jock?«
»Ja, ich habe ihn überzeugt, dass er die Untersuchungen machen lassen muss. Ich glaube, er hätte jetzt auch gern eine Tasse Tee.«
Bonnie goss eine Tasse für ihren Mann ein und brachte sie ins Schlafzimmer.
Millie sah Lyle an. »Du musst meinem Vater ja gehörig Angst gemacht haben, dass er freiwillig ins Krankenhaus geht, Lyle. Sag mir die Wahrheit«, flüsterte sie. »Wird er wieder gesund?«
»Ich bin sicher, dass er wieder gesund wird. Ich habe einen Verdacht – Lungenentzündung.« Er wollte sie nicht beunruhigen und sagte deshalb nicht, dass er in Wirklichkeit Tuberkulose vermutete. Lyle wusste, dass einer von sieben Patienten mit Tuberkulose starb. »Dein Vater ist einer der kräftigsten Männer in Dumfries. Er wird sich wieder erholen.«
»Ich habe gehört, ein Mann bei Dad auf der Arbeit hat Tuberkulose«, sagte Millie. »Ted McNichol ist das. Du erinnerst dich doch noch an Ted, oder?«
»Ja, natürlich«, sagte Lyle. »Du hast doch deiner Mutter nicht von Ted erzählt, oder?«
»Nein«, antwortete Millie. Aber Lyles Frage machte sie nur noch besorgter. »Glaubst du, dass Dad sich angesteckt hat?«
»Schwer zu sagen, Millie. Er wird die Untersuchungen im Krankenhaus abwarten müssen.«
»Ach, Lyle, ich bin ja so froh, dass du hier bist«, sagte Millie. Sie umarmte ihn und fing an zu weinen.
Lyle fühlte sich hilflos. Konnte er ihr jetzt sagen, dass er eine andere liebte? Er hatte es sich so fest vorgenommen, aber es ging einfach nicht. Es war nicht der rechte Zeitpunkt.
Erleichtert und dankbar für den Aufschub verabschiedete Lyle sich von Millie, aber er wusste, er konnte nur vorübergehend aufatmen.
Jock wurde ins Krankenhaus eingewiesen und auf den Kopf gestellt. Als Lyle drei Tage später mit dem Zug nach Blackpool zurückfuhr, lagen die Testergebnisse, die eine Tuberkulose bestätigt oder ausgeschlossen hätten, allerdings noch nicht vor. Lyle hatte beschlossen, sich von Millie zu trennen, ohne ihr von Elena zu erzählen. Aber solange sie sich solche Sorgen um ihren Vater machte, brachte er das nicht übers Herz. Er überlegte, ob er ihre Freundschaft vielleicht per Brief lösen sollte, aber ihm war klar, dass Millie etwas Besseres verdiente. Er wollte nicht feige sein, er schwor sich, zurückzukommen und sich von ihr zu trennen, wenn es ihrem Vater wieder besser ging.