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Vignette

In den Wochen nach Jamies Beerdigung sprachen seine Eltern kaum ein Wort miteinander. Millie weinte den ganzen Tag und die ganze Nacht und ließ ihre Verzweiflung und Wut an Lyle aus, was sein eigenes Leid nur noch vergrößerte – wenn das überhaupt möglich war. Mehr als einmal wurde Millie so hysterisch, dass Tom MacAllister ihr ein Beruhigungsmittel geben musste. Lyles Anblick allein brachte sie schon in Rage. Sie ertrug es nicht, mit ihrem Mann im selben Zimmer zu sein, geschweige denn ein Gespräch mit ihm zu führen. Schließlich wurde es so schlimm, dass Bonnie Millie zu sich nach Hause holte.

Lyle war zerfressen von Schuld – eine Last, die beinahe zu schwer war, als dass er sie hätte tragen können. Das leere Haus brachte ihm seinen Verlust nur noch mehr zu Bewusstsein, also verbrachte er seine Tage mit Spaziergängen über einsame Wege, allein mit seinen quälenden Gedanken. So verging Stunde um Stunde, und oft kehrte er erst in die Stadt zurück, wenn es schon dunkel war. Er aß kaum genug, um bei Kräften zu bleiben, und weil er nachts auch nicht zur Ruhe kam, streifte er durch die dunklen Straßen von Dumfries. Der Milchmann und der Bäcker sahen ihn manchmal, aber sie erkannten den angesehenen Arzt, der eher aussah wie ein heruntergekommener, ausgezehrter Landstreicher, kaum wieder.

Seinen Patienten konnte Lyle nicht mehr in die Augen sehen, für sie war sein Anblick mehr als besorgniserregend. Freunde und Verwandte versuchten ihm seine Schuldgefühle zu nehmen, indem sie ihm wiederholt erklärten, dass er den Unfall seines Sohnes nicht hätte verhindern können. Doch Lyles Gefühle schwankten zwischen Wut, Trauer, Kummer und unerträglichem Schmerz. Seine einzige Quelle der Lebensfreude war nicht mehr. Er wollte nicht mehr leben, aber er hatte auch nicht den Mut, aus dem Leben zu scheiden.

Irgendwann kam der Tag, an dem Millies Schmerz in eine andere Phase trat. Gegen Bonnies Rat bestand sie darauf, wieder zu Hause einzuziehen, denn sie glaubte, Lyle zu brauchen. Aber nichts hatte sie auf Lyles Anblick vorbereitet. Sie versuchte, mit ihm zu reden, doch er hatte sich völlig zurückgezogen und ihr nichts zu sagen. Lyle ignorierte jeden Versuch Millies, ihm zu helfen. Als sie nicht mehr weiterwusste, schlug sie vor, den Priester der Familie um ein Gespräch zu bitten, aber Lyle weigerte sich beharrlich auch dagegen. Millie wurde schließlich wütend, denn sie sah seine Haltung als Zurückweisung ihrer Person.

Tom und Mina MacAllister wollten einschreiten, aber Lyle lehnte auch die Hilfe seiner Eltern ab. Dann verschwand er für Wochen. Alle waren krank vor Sorge. Millie weigerte sich zu glauben, dass er sie tatsächlich verlassen hatte, und so ließ sie die Leute nach ihm suchen, darunter auch die örtliche Polizei. Eines Tages tauchte Lyle wieder auf. Er war ausgezehrter denn je und emotional genauso distanziert wie zuvor, aber er sah gepflegter aus. Er gab keinerlei Erklärungen für seine Abwesenheit ab und wollte niemandem sagen, wo er gewesen war. Lyle bestand jedoch darauf, wieder arbeiten gehen zu können.

Im Laufe der nächsten Wochen spielte sich im Leben der MacAllisters eine gewisse Routine ein. Millie und Lyle redeten zwar nicht wieder miteinander, Lyle kehrte jedoch in seine Praxis zurück. Nach und nach nahm er zu. Er kümmerte sich um seine Patienten, aber emotional blieb er distanziert, vor allem Millie gegenüber.

Das Schweigen im Haus war eine Qual für Millie. Sie versuchte immer wieder, Lyle in ein Gespräch zu ziehen, aber seine Antworten waren einsilbig, und über Jamie wollte er gar nicht reden. Millie war enttäuscht, dann wandelte sich die Enttäuschung in Wut. Wenn sie vor lauter Verzweiflung einen Wutausbruch bekam, verließ Lyle einfach das Haus und ging spazieren, was Millie nur noch wütender machte. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie ihm die Schuld an Jamies Tod gegeben hatte, aber auch darauf reagierte Lyle nicht. Sie versuchte, über den Schmerz zu sprechen, den der Verlust ihres Sohnes bei ihr ausgelöst hatte, versuchte, sich mehr und mehr zu öffnen, doch Lyle schwieg beharrlich. Schließlich fragte Millie ihn, ob er die Scheidung wolle.

»Willst du die Scheidung?«, war seine Antwort.

»Nein, Lyle. Ich will meinen Mann zurück«, erwiderte Millie.

Lyle schwieg. Dieses Mal verließ Millie das Haus.

In den kommenden Monaten begann Millie, mit ihren Eltern auszugehen. Sie spielte Bingo mit ihrer Mutter oder sah ihrem Vater zu, wenn er Darts spielte. Millie hatte nie viel Alkohol getrunken, aber das änderte sich jetzt. Sie stellte fest, dass es ihr besser ging, wenn sie ein paar Gläser Whisky trank. Sie und Lyle sahen sich kaum noch. Er arbeitete viel, und wenn er einmal ein paar Stunden freihatte, ging er spazieren, allein. Dass Lyle darauf bestand, in Jamies Bett zu schlafen, empfand Millie als eine weitere Zurückweisung, als ein Zeichen dafür, dass sie ihren Mann nie zurückbekommen würde.

Lyle fiel es kaum auf, dass Millie immer später am Abend nach Hause kam. Auch dass sie getrunken hatte, fiel ihm nicht auf, bis es so schlimm wurde, dass sie nachts immer wieder stolperte und fiel und sich blaue Flecken oder sogar schlimmere Verletzungen zuzog. Lyle begann, sich Sorgen zu machen. Er begriff, dass das Millies Art war, mit Jamies Tod umzugehen, aber er wusste, dass sie sich auf einen gefährlichen Weg begeben hatte.

»Du solltest nicht so viel trinken«, sagte er eines Morgens, als sie am Küchentisch saß und ihren schmerzenden Kopf mit der Hand stützte. Es waren die ersten Worte, die er seit einer Woche an sie richtete, und es klang mehr wie Kritik, nicht wie Sorge.

Millie wurde wütend. »Warum nicht?«, fuhr sie ihren Mann an.

»Du schadest deiner Gesundheit«, erklärte Lyle kühl.

Millie traute ihren Ohren nicht. Ärger kochte in ihr hoch. »Ach, tatsächlich, Dr. MacAllister? Vielleicht würde ich nicht so viel trinken, wenn ich einen Mann hätte, zu dem ich nach Hause kommen könnte, aber leider habe ich keinen. Ich habe einen Mann ohne Gefühle, einen Mann, der alle Menschen aus seinem Leben ausgeschlossen hat«, fauchte sie. Millie verlor den Kampf gegen ihre Emotionen und fing an zu weinen, was sie nur noch wütender machte.

Lyle ertrug es kaum, für noch etwas anderes die Schuld zugewiesen zu bekommen. Er merkte, wie seine Gefühle außer Kontrolle gerieten, aber er wollte keinen erneuten Rückschlag. Wortlos verließ er das Haus.

Das war der Tropfen, der für Millie das Fass zum Überlaufen brachte. Sie hätte einen tröstenden Arm gebraucht, ein Zeichen von Lyle, dass alles vielleicht wieder normal würde, doch das hatte sie nicht bekommen. Was konnte sie nur tun?

Es dauerte eine Weile, bis Lyle merkte, dass Millie nicht mehr so häufig trank. Sie schien ein wenig Abstand gewonnen zu haben. Obwohl sie noch sehr um Jamie trauerte und es kaum aushielt, wenn etwas sie an ihn erinnerte, hatte er sie morgens auch schon einmal ein Liedchen summen hören, wenn sie die Hausarbeit machte. Sie verbrachte immer noch viel Zeit außer Haus, aber es kam ihm nie in den Sinn, dass es einen bestimmten Grund dafür geben könne.

Tom MacAllister war es schließlich, der das Gespräch mit Lyle suchte.

»Ich habe Gerüchte dahingehend gehört, dass Millie sich mit einem anderen Mann trifft«, begann Tom vorsichtig. »Ich war mir nicht sicher, ob ich dir das erzählen sollte, aber ich finde besser, du hörst es von mir als von einem anderen.« Lyle sah seinen Vater nachdenklich an. »Du führst doch sowieso keine richtige Ehe mehr seit dem Tod des kleinen Jamie«, sagte Tom. Sie saßen im Mulligan’s Inn und tranken ein Bier, das erste Bier seit Jamies Tod. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass ihr das Haus verkauft und euch trennt. Machst du das nicht, wirst du wie ein Idiot dastehen, Junge.«

Eine Scheidung war normalerweise nicht das, wozu Tom raten würde, aber er hatte Millie einfach nicht vergeben können, dass sie seinem Sohn die Schuld am Tod seines Enkels gab. Er war davon überzeugt, dass ihr Verhalten Lyle beinahe zerstört hätte.

»Bist du dir da auch sicher, Dad?«, fragte Lyle.

Er konnte sich kaum vorstellen, dass es stimmte, was sein Vater ihm da erzählte. Eine Überraschung hätte es eigentlich nicht sein sollen, denn Millie war jung, und ihre ehelichen Beziehungen hatten sie längst eingestellt, doch die Tatsache, dass er daran nie gedacht hatte, erschütterte Lyle.

»Ich habe es aus verschiedenen Quellen, also würde ich sagen, es muss wohl was Wahres dran sein. Überraschend ist es im Grunde nicht, oder, Junge? Seit dem Tod des kleinen Jamie habt ihr doch gar kein richtiges Leben mehr geführt. Ich verstehe ja, wie du dich fühlst, aber emotional so kühl und distanziert zu sein führt immer zu Problemen.«

Es entstand ein langes Schweigen. Dann begann Lyle zu sprechen. »Jamie war der einzige Grund dafür, dass ich Millie geheiratet habe«, gab er zu. Es war das erste Mal, dass er das laut aussprach, seit er seinem Vater von Millies Schwangerschaft erzählt hatte. »Wäre sie nicht schwanger gewesen, hätte ich Elena Fabrizia geheiratet, die Frau, die ich geliebt habe, das wissen wir beide.«

»Und nun, da du Jamie verloren hast, bist du verbittert«, sagte Tom.

»Ich kann nicht ändern, was geschehen ist, aber es gibt keine Freude mehr in meinem Leben, Dad. Jamie war mein Leben. Er war der Grund dafür, dass ich morgens aufgestanden bin. Mich um die Kranken in Dumfries zu kümmern ist einfach nicht genug. Und wahrscheinlich wird es auch nie genug für mich sein.«

Tom war erschüttert, als er seinen Sohn so reden hörte. »Du bist ein guter Arzt, Lyle. Einer der besten. Ich glaube, du leidest unter Depressionen, und das ist nur verständlich. Aber es dauert schon zu lange. Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Ich mag vielleicht nie mehr glücklich werden, aber ich komme schon wieder in Ordnung, Dad«, antwortete Lyle.

Tom war sich da nicht so sicher. Das war nicht das, was er hatte hören wollen.

Lyle stellte Millie nicht zur Rede, aber er beobachtete sie fortan genauer. Sie verwandte tatsächlich mehr Sorgfalt auf ihre äußere Erscheinung und verbrachte einen Großteil ihrer Zeit außer Haus. Oft kam sie erst in den frühen Morgenstunden wieder zurück. Es war durchaus möglich, dass sie eine Affäre hatte.

Eines Sonntagnachmittags beschloss Lyle, Millie zu folgen, als sie das Haus verließ. Sie hatte erzählt, sie wolle zu ihrer Mutter und würde erst spät wieder zurückkommen. Normalerweise gab seine Frau ihm nie Auskunft darüber, wohin sie ging, also war Lyles Argwohn geweckt. Tom hatte nicht sagen können, wer ihr angeblicher Liebhaber war, aber Lyle wollte es wissen. Eifersucht empfand er nicht, doch wenn es stimmte, dass Millie Trost in den Armen eines anderen Mannes gefunden hatte, würde sich ihrer beider Leben ändern.

Lyle blieb in diskreter Entfernung zu Millie. Ihr Ziel war tatsächlich das Haus ihrer Mutter. Eine halbe Stunde lang hielt er Wache von einem nahe gelegenen Geschäft aus, dann zog er den Schluss, sein Vater müsse sich geirrt haben. Millie schien ihm nichts zu verschweigen. Lyle glaubte, die Klatschmäuler verbreiteten Lügen, weil er und Millie so viel Zeit ohne einander verbrachten. Erleichtert ging er nach Hause und wurde bald aufs Land zu einem kranken Kind gerufen.

Als Lyle gegen sieben Uhr nach Hause kam, rechnete er damit, Millie anzutreffen, sie war aber nicht dort. Erst kurz vor Mitternacht hörte er, wie sich der Schlüssel in der Haustür drehte. Millie kam herein, schloss leise die Tür und begann, die Treppe hinaufzuschleichen, ohne Licht zu machen. Ihren Mann, der im Dunkeln im Wohnzimmer saß, sah sie nicht.

»Du bist aber lange bei deiner Mutter gewesen, Millie«, sagte Lyle.

Millie schrak zusammen und wirbelte herum, die Hand aufs Herz gepresst. »Du hast mir einen Schrecken eingejagt, Lyle«, sagte sie atemlos. »Was sitzt du denn hier im Dunkeln?«

Lyle ignorierte ihre Frage. »Bonnie und Jock gehen früh zu Bett, also was kannst du bis um diese Zeit in ihrem Haus gemacht haben?«

»Ich … habe Sylvia McDonald besucht. Ihr geht es seit einiger Zeit nicht so gut.« Kaum hatte Millie das gesagt, bereute sie ihre Worte auch schon.

»Sie war noch gar nicht in der Praxis«, sagte Lyle, stand auf und ging auf die Treppe zu. Millies Gesicht wurde vom Licht der Straßenlaterne, das durch die Glasscheibe neben der Haustür schien, erhellt.

»Das stimmt. Das war sie nicht …«, stotterte Millie. »Aber ich habe ihr dazu geraten.«

»Ich mache morgen einen Besuch bei ihr«, sagte Lyle.

Millie erschrak sichtlich. »Das musst du nicht, Lyle. Sie kommt schon in die Praxis, wenn sie einen Arzt braucht.«

»Das macht mir keine Mühe«, erklärte Lyle bestimmt.

Millie presste die Lippen fest zusammen. »Lass gut sein, Lyle«, sagte sie dann und machte sich daran, die Treppe weiter hochzugehen.

Doch Lyle hielt sie auf. »Wieso, Millie? Wird Sylvia etwa sagen, dass du heute Abend gar nicht bei ihr warst, wenn ich sie frage?«

Millie drehte sich um und funkelte ihren Mann wütend an. Es überraschte ihn, den Trotz in ihrer Miene zu sehen.

»Willst du … mir etwas Bestimmtes vorwerfen, Lyle?« An ihrer Ehrlichkeit hatte er bisher nie gezweifelt.

»Ich möchte wissen, ob du mir die Wahrheit sagst, Millie. Ist das die Wahrheit?«

»Und wenn ich nicht die Wahrheit sage, würde dir das etwas ausmachen?«

»Ich möchte nur wissen, woran ich mit dir bin. Das ist doch nicht zu viel verlangt.«

»Seltsam, dass ausgerechnet du das sagst«, meinte Millie. Langsam kam sie die Treppe wieder herunter. Auf der ersten Stufe blieb sie stehen, sodass sie beinahe so groß war wie Lyle, was ihr Selbstbewusstsein zu stärken schien. »Ich weiß seit einiger Zeit schon nicht mehr, woran ich mit dir bin.«

»Ich weiß, ich war nicht mehr ich selbst«, gab Lyle zu. »Aber untreu bin ich dir nie gewesen.«

»Gib es doch zu, Lyle. Du hast mich nur geheiratet, weil wir Jamie erwarteten. Jetzt, wo es ihn nicht mehr gibt, ist nichts mehr übrig geblieben.«

»Triffst du dich deshalb mit einem anderen?«

»Das habe ich nicht gesagt«, sagte Millie abwehrend. Sie fühlte sich verletzt, weil er nicht einmal versucht hatte, ihren Vorwurf zu entkräften.

»Es macht schon in der ganzen Stadt die Runde. Ich bin wahrscheinlich der Letzte, der davon erfährt.«

»Seit Monaten bist du so kalt zu mir, Lyle. Du hast durch nichts zu erkennen gegeben, dass wir je wieder eine richtige Ehe führen werden. Du schläfst sogar in Jamies Zimmer. Es sollte dich also nicht allzu sehr überraschen, dass ich eine Freundschaft mit einem anderen Mann eingegangen bin.«

»Freundschaft nennst du das«, sagte Lyle wütend.

»Stimmt genau«, antwortete Millie auftrumpfend.

»Und mit wem unterhältst du diese Freundschaft?«, fragte Lyle sarkastisch.

»Das geht dich nichts an.«

»Es dürfte nicht allzu schwer herauszufinden sein«, knurrte Lyle. »Und ich glaube nicht, dass diese sogenannte Freundschaft rein platonisch ist.«

»Was kümmert dich das?«, fragte Millie verbittert. »Du willst mich doch nicht. Also wieso stört es dich, dass ein anderer mich will?«

Lyle war, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. Er drehte sich weg von Millie, schnappte sich seinen Mantel vom Garderobenständer und ging zur Haustür.

»Ja, los, geh wieder weg, Lyle. Das kannst du sowieso am besten«, rief Millie voller Abscheu.

Lyle schlug die Tür zu, als er das Haus verließ. Er warf sich den Mantel über die Schultern und lief durch den Vorgarten auf das kleine Gartentor zu. Es stimmt also, dachte er. Mit Riesenschritten ging er weiter, um zwischen sich und Millie schnell eine große Entfernung zu bringen. Sie hatte zugegeben, dass sie sich mit einem anderen Mann traf. Lyle war schockiert. Er wusste, er würde herausfinden, wer der andere war. Aber wollte er das wirklich wissen?