18.
Mannhardt sprang am Schlesischen Tor aus der Taxe, die ihn im Eiltempo hergebracht hatte, und lief in den Bahnhof hinein, der ihn mit seinen vielen Backsteinmauern, Erkern und Türmchen, zumal in einer Kurve gelegen, seit Kindheitstagen immer wie eine kleine Festung erschien, Burg Hohenkreuzberg, deutsche Renaissance für eine schnelle Stadt, die ihre schnellen Verbindungen brauchte, 1902 erbaut, kam in einen Rittersaal mit Fahrscheinautomaten, hastete in einer Horde jeansblauer Jugendlicher nach oben, fand bei vielen seinen eigenen Haarschnitt von 1951 wieder, scheußlich: die Hitlerschen Pimpfköpfe auferstanden zu sehen, dachte an die erste und die letzte Klassenfahrt, wie sie die Wehrgänge von Rothenburg hinaufgestürmt waren, hörte das herrisch-böse «Zu-rück-bleiben!» des Bahnsteigbefehlshabers oben, sah die orangegelbe Wagenschlange westwärts gleiten und mußte wieder aufs Straßenniveau hinunter, furchtbar knurrend, denn der nächste Zug, gerade eingelaufen, fuhr vom andern Seitenbahnsteig ab. Früher war es weitergegangen, über Spree und Oberbaumbrücke hinweg, zu den Stationen Osthafen und Warschauer Brücke, nach der Mauer aber hatte hier die Linie 1, der lange grüne Strich, den Äquator Berlins markierend, End- und Wendepunkt. Ruhleben hieß der andere, und da ihr Ausgangspunkt, der SFB am Theodor-Heuss-Platz, genau an dieser Strecke lag, hatten sie beschlossen, sich zu trennen und mit ihrer Suchaktion sowohl am Schlesischen Tor wie auch am Gleisdreieck zu beginnen.
Mannhardt ließ sich auf die dunkelgrünen Plastikpolster des bereitgestellten nächsten Zuges fallen und rechnete. Wie lange würden Corzelius und Jessica vom Theodor-Heuss-Platz bis zu ihrem Ausgangspunkt gebraucht haben? Kaiserdamm, Sophie-Charlotte-Platz, Bismarckstraße, Deutsche Oper, Ernst-Reuter-Platz und Zoo – es war sein ganzer Stolz, alle Bahnhöfe der Berliner U- und S-Bahn-Linien fehlerfrei in der richtigen Folge hersagen zu können… Also: Zoo, Wittenberg- und Nollendorfplatz, Kurfürstenstraße und dann Gleisdreieck, ja. Rechnete man etwa 1,5 Minuten pro Station, so war das kaum mehr als eine Viertelstunde; zwanzig Minuten, wenn man den Weg auf den Bahnsteig hinunter, das Lösen der Billetts und das Warten auf den Zug noch hinzurechnete.
Ärgerlich das Ganze, daß er sich nicht mehr gewehrt hatte, als er von Corzelius an der Pforte des Senders in die viel zur vorzeitig alarmierte Taxe hineingestoßen war. «Fahr du mal mit der Taxe zum Schlesischen Tor und komm uns von da entgegen!» Hatte er sich doch von diesem ahnungslosen Provinztrottel ins Bockshorn jagen lassen, diesem Autofetischisten! Wäre er mit der U-Bahn hergekommen, hätte er es in dreißig Minuten für 2,30 DM geschafft; die Taxe, aufgehalten von roten Ampeln, Baustellen und Demo-geschockten Polizeifahrzeugen, hatte einunddreißig Minuten gebraucht, dafür aber an die dreiundzwanzig Mark gekostet. So was wurmte ihn.
Ruhig, entspann dich doch mal. Ich bin ruhig, fest und frei. Mein Herz schlägt ruhig, kräftig und gleichmäßig. Ich bin ganz ruhig, die Ruhe wird immer tiefer… Autogenes Training, Mitbringsel aus der Klinik in Bad Brammermoor.
Von einem geheimen Mechanismus ausgelöst, stiegen Kindheitsbilder in ihm auf. Mit der Hochbahn zu Oma und Opa. Vorn beim Zugbegleiter stehen und auf die Strecke raussehen. Mit Mühe an dessen breitem Körper vorbei. Welch Glück, wenn der dann schon vor Einfahrt in den nächsten Bahnhof zur Tür hinging und das ganze Fenster freigab. Die gruselig-dunkle Röhre des Tunnels. Die silbern aufblitzenden Gleise. Die todbringende Stromschiene daneben. Dann wie ein einsamer Stern am nachtdunklen Himmel, aber mit jedem Atemzug gewaltig wachsend, die Lichter der nächsten Station. Und nur der eine Wunsch: selber einmal solch ein Zugbegleiter werden. Wie der dann auf den Bahnsteig trat, das Ein- und Aussteigen überwachte, sich als letzter in den Türrahmen schwang und rechts über sich ein kleines Knöpfchen drückte, das in der Fahrerkabine nebenan für einen hellen Summton sorgte. Fuhr der Zug nun an, stand das Objekt seiner vollen kindlichen Bewunderung mutig-männlich bis weit in den Tunnel hinein in seiner schmalen Schiebetür, um bei drohendem Unheil sofort zur Notbremse zu greifen. Was allerdings, obwohl von ihm ein jedesmal sehnsüchtigst herbeigewünscht, niemals vorgekommen war.
Das größte U-Bahn-Glück aber war es, im letzten Wagen des Zuges auf dem kleinen weinrot bezogenen Klappsitz des Zugbegleiters sitzen zu dürfen und über kleine Ewigkeiten hinweg durch eine Kaleidoskopröhre gezogen zu werden. Hatte er später als Mann Weltraumfilme gesehen, Stanley Kubriks 2001-Odyssee als Beispiel, war er wenig fasziniert gewesen; das alles hatte er live und ganz direkt in der Berliner U-Bahn schon lange erlebt.
Mit der Hochbahn war das immer ein wenig anders gewesen, da hatte die Angst davor, in die Tiefe zu stürzen und unten auf dem Straßenpflaster grausam zu zerschellen, die angenehmen Gefühle weitgehend verjagt. Da war es besser gewesen, sich mit dem Teddy im Arm an die Mutter zu drücken und die Augen zu schließen.
Der Zug fuhr an, war von modernster Bauart und holperte dennoch schlimmer, vergleichsweise, als der «Adler» von 1835 aufs rechte Richtungsgleis hinüber, katapultierte Mannhardt in die Gegenwart zurück, zur Tür, von der aus stehend die Häuser an der Strecke am besten abzuchecken waren.
Auf seiner Seite gab es auf dem ersten halben Kilometer nichts, was des Aufmerkens oder gar -schreckens wert gewesen wäre, fast schläfrig starrte er hinaus, und wenn’s ein Fernsehfilm gewesen wäre, hätte er, Weltmeister im flipping, längst auf einen anderen Kanal hinübergedrückt, dachte lediglich an seinen Onkel Otto, der hier im Klinkersteinmuseum des SO-36-Hauptpostamtes als Technischer Fernmeldehauptsekretär unter Zuhilfenahme seiner sogenannten Störungssucher die Reparatur kaputter Telefone mit Eifer, aber stets auch mit Frust betrieben hatte; schien ein superbürokratischer Haufen gewesen zu sein.
Einen armen Teufel namens Andy hatten sie am Schlesischen Tor auch mal gejagt; er in seiner Wahnsinnzeit im Reinkarnations-Zentrum Berlin, als er von Friedrich dem Großen, vermittelt über seinen Ahnen, den Kammerherrn Joachim Ernst v. Mannhardt, gerettet worden war – was heißt gerettet –, zwar den Mordfall klären konnte, aber auch seinen Vorgesetzten fast erschlagen hatte. Mit der Endstation Psychiatrie.
Mann, paß auf!
Die Emmaus-Kirche stand im Canon des Lausitzer Platzes wie ein Felsmassiv aus härtestem Granit, der allen Wassern standgehalten hatte, und während sie vorüberrollten, hörte er eine feine Stimme in sich flüstern:… laß mich die Wohnung mit Yemayá finden!
Gegen seinen Willen war das geschehen, und er kämpfte auch dagegen an, konnte aber nichts mehr daran ändern, höchstens froh darüber sein, nicht auch noch das Lieber Gott oder Herr mitgedacht zu haben. Nicht er hatte hier gebetet, sondern: es hatte in ihm gebetet.
Vorerst aber half es nicht; wie denn auch, dachte er.
Sie liefen in die Station Görlitzer Bahnhof ein, die noch immer so hieß, obwohl ihr Namensgeber im Berliner Modernisierungs- und Verdrängungswahn der sechziger Jahre längst geschleift worden war. Seine Tante Emma war hier angekommen, aus Landsberg/ Warthe wohl, kurz nach der Jahrhundertwende, um bei einer Arztfamilie, siehe «Nesthäkchen», Dienstmädchen zu werden, das heißt, in Stellung zu gehen. Eine alte Wendung, die ihn schon als pubertierenden Jüngling stets ein wenig erregt hatte, denn wußte er doch aus Alt-Berliner Romanen wie den «Koblanks» etwa, daß jeder Hausherr, der ein wenig auf sich hielt, mit seinem Dienstmädchen schlief (oder dieses wenigstens in treuer Rollenerfüllung versucht haben mußte); und in welcher Stellung wohl, der Missionars- wahrscheinlich.
Mannhardt, konzentrier dich!
Wenn ich das Wort Konzentration schon höre…! Ich kann das nicht hören! Sein Kommunistenonkel hatte lange dort gesessen.
Reiß dich zusammen, sonst bist du wieder in Bad Brammermoor! Bei den Verrückten da war’s wenigstens sichtbar geworden.
Der Bahnhof selber hatte ihn als Kind immer zweifeln lassen, ob das nicht doch eher eine Markt- oder Fabrikhalle sein sollte; heute sah er mehr nach Eislauf- oder Tennishalle aus, hatte aber schöne Arkaden an den Seiten, ins Blech gestanzte Bögen wie bei einer Spielzeugbahn. Die beiden Gleise lagen in der Mitte dicht an dicht, und die Richtungsbahnsteige hingen außen an der Konstruktion, waren so schmal, daß er als kleiner Pöks immer voller hosenvoller Angst gewesen war, vom herandröhnenden Zug mitgerissen und wie eine Blutwurst in Scheiben zerstückelt zu werden, litt noch heute nächtens unter dieser Angst, war froh, hier nicht aussteigen zu müssen.
Scheiße, daß er kein Ein-Tages-Mensch war, sondern seine, er überschlug es schnell, bislang gelebten fast zwanzigtausend Tage immer mit sich herumschleppen mußte.
Als sie über die fast platzbreite Kreuzung der Skalitzer, der Wiener, der Manteuffel- und der Oranienstraße hinwegglitten, sah er, als er den Kopf zur andern Seite drehte, unten links einen ausgebrannten Supermarkt liegen («Bolle bietet Bestes!»), von Kreuzberger Krawallos in der ersten Maiennacht in Brand gesteckt, Feuer und Flamme für Berlin, um dem Senat glaubhaft mitzuteilen, daß von den vielen, vielen Millionen der B 750-Jubelfeier ein paar Märker doch bitteschön auch für sie abzuzweigen wären.
Wie wahrscheinlich war es, daß der Yemayá-Entführer aus einer solchen Gruppe kam? Nicht sehr, fand er, diese Typen interessierten sich kaum für Filme, wie Jessi sie drehte, waren auch zu wenig geübt im Umgang mit Babys, mochten auch ideologisch-moralische Hemmungen haben, eine solche fiese Tat zu begehen.
Bis zum Kottbusser (neuerdings wegen seiner Verwahrlosung auch: Kotzbusser) Tor fuhr er nun vorwiegend an Uraltbauten vorüber, und obwohl er seine Sinne wie ein Wünschelrutengänger schärfte, gab es nirgendwo ein feines Prickeln, den elektrisierenden Impuls: Steig aus, da ist es! Wie denn auch? Von Psi-Phänomenen hielt er wenig bis nichts. Nur das eine schälte sich in seiner Vorstellung immer stärker heraus: daß Yemayá in einer Neubauwohnung gefilmt worden war. Aber diese Erkenntnis entsprang auch weniger hellseherischen Gaben und einer besonderen Intuition als vielmehr der Rückerinnerung an den abgespielten Film, an die Perspektiven wie die Höhe des Raumes, bestenfalls zweisechzig. Und Neubauten kamen, wie er wußte, massiert erst zwischen Kottbusser und Halleschem Tor; da hieß es also warten.
Kottbusser Tor war keine der schon vor fast neunzig Jahren erbauten Stationen, noch mit Stahl und Eisen, die geschmiedet und geformt worden waren wie fünftausend Jahre lang der Stein, sondern ein kantig-gradliniger Neubau vom Ende der zwanziger Jahre, funktionalistisch und streng, und vom breiten Mittelbahnsteig konnte man über lange, sprungschanzensteile Treppen von der Hochbahn zu einer echten Untergrund-Linie hinuntergelangen, dem dunkelblauen stadtdurchkreuzenden Strich, der 8, zwischen den Endzielen Neukölln und Reinickendorf wählen, wobei man, was ihn als Jungen immer überaus fasziniert hatte, beim Abstieg ein Stückchen auf der Straße gehen mußte, auf deren Niveau von Gittern eingezwängt wie in einem Käfig steckte, damals noch von vorbeipolternden Straßenbahnen geschreckt.
An der Rolltreppe standen schon, absolut verabredungsgemäß, die beiden anderen und hatten, als er ausgestiegen und zu ihnen hingegangen war, ebensowenig Positives zu melden wie er.
«Das hat doch alles keinen Sinn!» sagte Corzelius mit aggressivem Unterton. «Die werden doch kaum so dußlig sein und sich mit dem Baby im Arm direkt am offnen Fenster sehen lassen!»
«Eben!» rief auch Jessica. «Es ist besser, wir fahren nach Hause, holen das Geld von der Bank und warten dann auf’n nächsten Anruf von ihnen.»
«Ich fahr lieber noch mal rum hier!» beharrte Mannhardt aber.
«Bitte! Wir nehmen uns jedenfalls ‘ne Taxe – und dann ab hier!» Corzelius faßte Jessicas Arm und dirigierte sie zum Ausgang hin. «Kommst du eben nach.»
«Ja, sicher!»
Mannhardt war ein wenig eingeschnappt darüber, daß sie sich nun seinem Kommando entzogen, beschloß aber, alles protestlos hinzunehmen, denn vielleicht war es mit seiner Kompetenz und seiner Fortune doch nicht ganz so weit her, wie er geglaubt hatte.
Die beiden winkten nicht einmal, als sie nun die Treppe hinunterstiegen.
Er brauchte keine drei Minuten zu warten, da kam der nächste Zug in Richtung Innenstadt, und er stieg wieder ein.
Es gelang ihm, auch in diesem Wagen den immer begehrten Platz an der Tür einzunehmen, in Fahrtrichtung sogar, und als sich der Zug in Bewegung setzte, war er hellwach, nun gerade!
Doch bis zur Prinzenstraße wieder nichts als Fehlanzeige: keine Windel, kein Baby, kein Vorhang von halbwegs goldbrauner Farbe, nichts, was im ersten Stock, vielleicht auch noch im zweiten, zugezogen war und irgendwie Verdacht erregte.
Prinzenstraße wurde erneut auf seiner Seite ausgestiegen, also in Fahrtrichtung rechts, und er erinnerte sich an seine Tante Leska, Valeska eigentlich, die hier gewohnt und die er immer nur ungern aufgesucht hatte, weil sie, kinderlos geblieben und nie über diesen Tatbestand hinweggekommen, in ihrem Schmerz auf die Idee gekommen war, sich ihre letzte Fehlgeburt, einen weißwurstgroßen Fötus, in einem Glas voll Spiritus oben auf ihr Vertiko zu stellen; war Krankenschwester gewesen und hatte dies wohl arrangieren können. Bei dieser Hochbahnstation führten überdachte Fußgängerbrücken von den Seitenbahnsteigen auf die Bürgersteige hinüber und hinunter, und schon beim Entlangschreiten dieser Stege hatten ihm die Knie gezittert, war ihm doch von seinem Vater eingeredet worden, dieser Fötus, Siegfried mit Namen, würde eines Tages aus dem Spiritus herausgeklettert kommen und mit ihm spielen wollen: als der kleine Däumling, den kenne er doch.
«Zurückbleiben!»
Auf dem Wege zum Halleschen Tor war wenig zu erwarten, zog an seiner Seite die ewig lange Patentamtsfassade vorüber, kam ihm vor wie die Kaiserpfalz zu Goslar, nur ein wenig flacher, folgte dann die Lücke an der Lindenstraße, schneller Blick auf das alte Amtsgericht, jetzt Berlin-Museum, preußisch prächtig-prächtig, bis sich die hohen Neubauringe des Mehring- oder, wie er ihn von früher her kannte, Belle-Alliance-Platzes ein wenig schmerzend in sein Blickfeld schoben.
Ah, Achtung…!
Nein, viel zu weit vom Gleiskörper entfernt, um interessant zu werden. Von Yemayás Versteck aus gefilmt, hätte ein Zug wie seiner auf der Leinwand viel kleiner wirken müssen.
Nach Verlassen des Bahnhofs Hallesches Tor, hinter der breit in die Uferregion ausmündenden Stresemannstraße, zogen einige durchaus in Frage kommende Mietshäuser vorbei, doch Mannhardt reagierte nicht, wurde das ebenso vage wie auch gewisse Gefühl nicht mehr los, auf der falschen Wagenseite zu stehen, daß es hier nicht sein konnte, obwohl sein kreisendes Radar jedes Fenster, das sich in etwaiger Hochbahnhöhe befand, noch immer mit seinem Suchstrahl bestrich.
Folgte bald ein AWO-Bau, Marke Pappkarton mit Fenstern, aber die Wiege einer legendären Truppe gewesen, der berlinischen Schaubühne, am Kudamm längst von linker Welterkenntnis zum L’art pour l’art-Gehabe umgestiegen, wie Mannhardt mitbekommen hatte, dann das neue Postscheckamt, das wie ein hochkant gestellter und mit schnell hineingekratzten Rechteckrastern versehener Bleibarren in den Wim Wendersschen Himmel über Berlin hineinragte, ohne daß die Engel Bruno Ganz und Otto Sander auf den Antennen oben saßen und dafür gesorgt hätten, daß die Zeiger seiner Meßgeräte ein wenig hin und her gewandert wären, ihm Yemayás Nähe anzuzeigen.
Scheiße, verdammte!
Verließ er also an der Möckernbrücke seinen Zug, fuhr gar nicht bis Gleisdreieck weiter, unterquerte die Gleise und erwartete auf dem südlich gelegenen Bahnsteig den sozusagen Gegenzug, der aus Ruhleben kam und ihn zumindest bis zum Kotti, zum Kottbusser Tor, zurückbringen sollte; dazu mußte die Zeit allemal reichen.
…he is my destiny, hörte er Jennifer Rush aus dem locker sitzenden Walkman eines einsamen Jungtürken singen und glaubte sekundenlang, Jessica zu hören, wie sie oben auf der Bühne stand und Wuthenow zuwinkte, der in einer Ehrenloge saß.
«Beim Einsteigen beeilen, bitte. Zu-rück-blei-bään…!»
Hochbahn zum dritten.
Nun aber ging es scharf am Kanalufer entlang, und die Pfeiler des Viaduktes stiegen so unmittelbar hoch aus Wasser und schräg gemauerter Böschung, daß er, wie er da an der Scheibe der Wagentür lehnte, von einem Anfall aus Herzrasen, Atemnot und Kreislaufschwindel derart heftig gepackt wurde wie noch nie in seinem Leben, höchstens bei einem Bäderflug nach Helgoland in einer winzig kleinen Maschine, immer auf und ab in fürchterlichen Turbulenzen. Setzen mußte er sich, an Haltegriff und -stange zum letzten freien Platz hinüberhangeln und dann die Augen starr auf das Reklameband im Wagen oben richten: Bringt der Verkehr auch manchmal Frust, mit Paech-Brot kriegste wieder Lust. Verdrängtes war da urgewaltig wieder hochgeschossen, die Wahnsinnsangst aus Kindheitstagen, daß die Tür sich öffnen und er in den Kanal hinunterstürzen würde, elendiglich ertrinken dort, den Gassenhauer der Erwachsenen, bei jedem Geburtstag gesungen, deutlich im Ohr: Es schwimmt eine Leiche im Landwehrkanal.
Yemayá! Wenn sie nun das Kind getötet hatten und es hier in einem Pappkarton…!?
In seinen langen Jahren bei der Mordkommission hatten sie etliche Male zerstückelte Leichen aus Berlins Kanälen herausfischen müssen.
Für seine eigenen Kinder war er wertlos geworden wie eine Monatskartenmarke vom vergangenen Jahr, und wenn er einen Menschen bei seiner Ankunft lächeln sehen wollte, mußte er sich schon Yemayá zuwenden.
Dennoch schaffte er es nicht, wieder aufzustehen und an die Tür zu treten, weiter nach dem Baby zu forschen, konnte einfach nicht anders, mußte warten, bis sie wieder in einer sicheren Bahnhofshalle angelangt waren, am Kottbusser Tor, weitab vom Landwehrkanal. Suchen konnte er, obwohl die Perspektive schlechter war, schließlich auch zu Fuß von der Straße unten. Nur nicht wieder auf die Horrorstrecke am Kanal zurück! Vielleicht gar mit dem ganzen Zug abstürzen…
Mit Schaudern dachte er, während er dieselben Treppen benutzte wie keine Viertelstunde früher Jessi und Corzelius, an einen Todesfall vor Jahren, als sich Jugendliche, auf besondere Mutproben versessen, hinterm Bahnhof Möckernbrücke mit einer Rolle aus dem Innern auf die Wagendächer hochgestemmt und aufgeschwungen hatten, auf den Hochbahnzügen western-like umhergeritten waren, tief unter sich die Straßen und das Landwehrwasser… Bis dann einer von ihnen hier am Bahnhof Kottbusser Tor den Raum zwischen Wagendach und Hallendecke, dem quergestellten Träger einer knappen Konstruktion, erheblich überschätzt hatte und geköpft worden war.
Er kam ins NKZ, ins Neue Kreuzberger Zentrum, jenes Stückchen Stadt, wo Berlin Bronx- und Brooklyn-Züge angenommen hatte, den Touristen für ihr Geld viel Tristesse darbot, Hundescheiße, Dreck und Pißgestank, schlenderte an saufend hingestreckten Punkertrupps vorbei, las Aufgesprühtes noch und nöcher: Bulle deine Angst ist begründet (wie passend!), destroy, Abschiebehaft ist Mord, Türkische + deutsche Frauen gemeinsam kämpfen gegen PATRIARCHAT, hatte ungemeine Lust, sich auch aus allem fallenzulassen, aus Zeit und Mannhardt-Rolle. Minuten vergingen, Ewigkeiten, bis er sich wieder in den Griff bekommen hatte.
Film weiter!
Mannhardt ging nun ein Stückchen unter der Hochbahn entlang, fand die Fachwerkkonstruktion aus den vielen genieteten stählernen Trägern, ehemals als zu nüchtern verschrieen, ausgesprochen schön, wußte, daß sie von alten Kreuzbergern mit dem Namen Magistratsschirm bedacht worden war, und nutzte diese Eigenschaft nun auch, als es kurz und kräftig zu regnen begann, es, berlinisch gesprochen, wieder mal ‘ne Husche gab.
Westwärts, die Skalitzer Straße hinauf, wo gleich der Erkelenz mit dem parallelen Segitzdamm vom breiten Hochbahnschwert zerschnitten wurde. Am Wassertorplatz, alles auf einen ehemals vorhandenen Verbindungsgraben zur Spree hinweisend, gab es diverse Hochhausblöcke, von wieder einigen Graffiti bunter gemacht: Amis raus! las Mannhardt, Nie wieder Arbeit und Solidarität mit der PLO.
Ja… Er atmete durch. In vergleichsweise riesigen Wohnmaschinen wie diesen ließ sich jedes Baby ohne Mühe verstecken, anonym wie alles war. Aber er konnte doch nicht auf Hunderte von Klingelknöpfen drücken und erwarten, daß ihm jemand sagte: «Ja, wir haben es hier!», wenn er unten durch die Sprechanlage nach dem Baby fragte.
So blieb er unten und dachte an Stefan, einen entfernten Bekannten, einen Geologen, in aller Welt auf der Suche nach Uran, Kohle und Öl: der konnte auch direkt über riesigen Rohstofflagern stehen, ohne daß ihm seine groben Menschensinne Sicherheit gaben; höchstens eine Fifty-fifty-Ahnung war da möglich, daß man fündig werden könnte.
Mannhardt sah sich suchend um.
Wasser…
Wasser…
Die eigene Kindheit war nicht nur Schrecken, sie war auch eine Höhle, in die er immer wieder flüchten konnte.
Kohle…
Kohle!
Eine weitere Drehung um die eigene Achse herum und…
…Feuer!
In ihm rief es immer wieder: Feuer!
«Aber wo denn!?» fragte er leise. «Wo?»
Du bist ja nicht mehr dicht! Du hast ja ‘n Loch in der Wanne!
Er ging weiter, schoß seinen Laserblick in Hunderte von Neubaufenstern; doch umsonst.
Natürlich.
Er merkte, wie sich Zunge, Lippen und Gaumen mit übler Schmiere überzogen hatten, das schwere Atmen, die Erregung, so als hätte er die ganze Nacht mit verstopfter Nase dagelegen, suchte lange nach irgendeinem Lutschbonbon, doch die Taschen seines blauen Blazers gaben trotz allen Wühlens nichts weiter her als einen kleinen Streifen verhärteter Kaugummimasse. Er schob ihn dennoch in den Mund, bemühte sich, ihn langsam aufzuweichen, und wußte nicht, wohin mit dem inneren, dem silbernen, wie dem äußeren Einwickelpapier, nachdem doch die Aufschrift deutlich mahnte: Keep your country tidy. Haltet die Umwelt sauber. Hall naturen ren. Gardez votre ville propre. Letzteres mit zwei weißen Wölkchen und einer lachenden Sonne auf grünem Papier.
Grün…!
Mensch! Der geheimnisvoll grüne Fleck, Flecken auf C. C.s Vergrößerung! Irgendwo gegenüber der Wohnung, in der sie ihre Yemayá versteckt hielten, auf Hochbahnkörperhöhe, direkt gegenüber.
Deutlich im Fieber begann er nun, die Altbauten auf der anderen Seite der Straße systematisch nach diesem grünen Flecken abzusuchen.
Erst die Reklame an und über den Läden, die Plakate, die Neonröhren und Transparentkästen.
Nichts.
Dann aber sah er es: Über einer Imbißstube, einem Lokal mit der stolzen rot-schwarz-grünen Fahne Libyens, Halbmond und Sternchen weiß in ihrer Mitte, war eines der unproportional hohen Altbaufenster fast zur Gänze mit einem Poster gefüllt, das für Gaddafis Grünes Buch Werbung betrieb.
Mannhardt hörte Jessica Yemayá ihr Lieblingsliedchen vorsingen: Grün, grün, grün sind alle meine Kleider, weil mein Schatz ein Jägermeister ist… Und Corzelius dazwischen:… trinkt!
Am letzten Montag erst, aber scheinbar Ewigkeiten her.
Der grüne Fleck, das Grüne Buch… Der entscheidende Fingerzeig war also nicht von den alten Yoruba-Göttern gekommen, wie sie es ihrer Yemayá an sich recht eigentlich ja schuldig waren, auch nicht vom alten Platzhirsch Christengott aufgrund seines, Mannhardts, vielleicht ungewollten, aber immerhin ja gedachten Gebetes eben in der Hochbahn oben, sondern von Allahs Seite.
Mannhardt feixte innerlich.
Er stürzte zur anderen Straßen-, zur Neubauseite hinüber, im Slalom durch die Fahrzeugsalven hindurch, von Kugeln der Kaliber Audi, Mercedes, BMW und Volvo mehrfach gestreift, schaffte es aber, ohne zu fallen, postierte sich nun vor jenen Hochhauseingängen, die vom Winkel her am meisten versprachen, prüfte alles mit Geometer-Akribie.
Wenn ihn nicht alles täuschte, kamen nur zwei Häuser in Frage; wo aber anfangen?
Er ging nach links hinüber, an einer braunen Wand vorbei, die allerfeinst nach Hundepisse stank, warf einen schnellen Blick auf die vielen aufgereihten Namen und resignierte leicht. Selbst wenn er unterstellte, daß die Schildchen alle irgendwie geordnet waren, nach Stockwerken wahrscheinlich, dann machte es kaum Sinn, überall in der ersten und zweiten Etage zu klingeln und höflich zu fragen, ob hier das entführte Baby vielleicht versteckt worden sei.
Er fuhr unwillkürlich herum, als schräg über ihm ein Hochbahnzug röhrte, dröhnte, donnerte und mit jenem fürchterlichen Geräusch die Schienen abschliff, das er sonst nur vom Zahnarzt her kannte.
Ein Trupp schlammschmutziger Knaben kam fröhlich vom Fußball zurück, mit fünf Türken und zwei deutschen Minikickern voll der Kreuzberger Statistik entsprechend, und Mannhardt fragte sie, wo denn hier im Haus ein Baby wohne, schreie; er sei der Kinderarzt und wisse nur, daß es irgendwo im ersten oder zweiten Stockwerk sein müsse.
«Weeß ick nich!» rief eins der beiden deutschen Kinder.
«Sie haben ja gar keinen Arztkoffer dabei…!» wunderte sich einer der türkischen Jungen.
Mannhardt staunte über den IQ von Hassan, Achmed oder Mustafa und behalf sich mit der Ausrede, daß er den noch im Auto liegen hätte.
Die Jungen klingelten und verschwanden im Haus, ohne ihm noch einen Tip geben zu können.
So ging er zum anderen Eingang hinüber, nicht ohne vorher noch einmal dem apfelsinengelben Lindwurm nachzusehen, der oben auf den stählernen Bögen Richtung Ruhleben zog.
Wieder stand er vor einem sogenannten Klingelklavier, hatte die Auswahl zwischen, so überschlug er schnell, 4x15 Namen. Altdeutsch wie Böttcher, Schumacher, Gerber und Vogt; berlinisch wie Krause, Lemke, Buchholz und Schönbier; polnisch wie Kubicki, Orlowsky, Grabowski und Orczechowicz; türkisch wie Külcü, Küksar, Tasyürek, Tascioglu oder Sükriye.
Sollte er irgendwo klingeln und sagen, er sei Vertreter von Sicherheitsschlössern (da verstand er etwas von – «Sei schlauer als der Klauer!») und bitte, eingelassen zu werden? Sollte er versuchen, die Tür mit Hilfe seines Taschenmessers gewaltsam zu öffnen?
Eine ältere Dame, voll amerikanisiert und flott gemacht, kam mit dem Fahrstuhl herunter und trat auf die Straße hinaus.
«Entschuldigen Sie bitte…!» Mannhardt verbeugte sich knapp und war bemüht, Amtsautorität in Haltung und Stimme zu legen. «Hartmann mein Name, vom Jugendamt hier. Uns liegen da Beschwerden vor, daß hier in diesem Hause…» Er sah nach oben, nannte Nummer und Straße. «… daß hier ein Baby so häufig und so schrecklich schreien würde, daß…» Daß, daß, daß! hörte er seine alte Deutschlehrerin jammern, «…wir nachsehen müssen, ob es sich um einen Fall von Kindesmißhandlung oder Kindesvernachlässigung handeln könnte…!» Gott sei Dank, das war endlich heraus.
«Schrecklich, ja! Aber ich habe nichts…! Kinder brauchen auch mal Dresche! Was meinen Sie, was ich als Kind alles abbekommen habe!?»
Mannhardt, an sich erbitterter Gegner aller Gewalt gegen Kinder, fand das in diesem Falle nicht mal schlecht.
«Wo finde ich denn hier überhaupt Babys?»
«Meines Wissens nur im zweiten Stock… Bei Urbanske wohl. Gehen Sie ruhig mal rauf da…» Sie hielt ihm noch die Tür auf, bevor sie davoneilte, um in ihre telefonisch herbeigerufene Taxe zu steigen.
Mannhardt mied den Lift, stieg zu Fuß nach oben, hörte sein Herz härter schlagen als nach der wenigen Bewegung notgetan hätte.
Eine Waffe hatte er nicht mehr, und wenn das wirklich die Behausung der Entführer war, würde ihn sicher anderes erwarten als Kaffee und Kuchen.
Er lauschte erst einmal, preßte ein Ohr gegen die dünne, himmelblau gefärbte Sperrholztür und hoffte, dieselbe Stimme zu hören wie bei Jessica am Telefon, zumindest aber Babygeschrei, ließ seinen Blick dabei auf dem messingblanken Namensschild ruhen. V. URBANSKE. Nie gehört.
Nichts, absolute Stille in der Wohnung drinnen.
Egal, was er tat, tat er für Jessica, und so drückte er den weißen Klingelknopf nach unten, ohne sich noch länger zu besinnen, trat lediglich, wie tausendmal geübt, einen Schritt zurück, um im Falle einer Attacke auf ihn schneller nach oben in Deckung springen zu können.
Leichte Schritte, dann wurde die Tür langsam und vorsichtig nach innen gezogen.
Vera!
Laut sprach er den Namen nicht aus, dazu hatte er sie vor Monaten bei Jessicas Fete viel zu flüchtig gesehen, doch er hatte sie deutlich im Gedächtnis behalten, weil Corzelius tagelang nichts anderes getan hatte, als lauthals über sie zu schimpfen: Wenn diese Scheiß-Vera, diese stinkend-häßliche Pute, nicht dazwischengekommen wäre, hätte ich bei Tatjana alles abladen können, was…
Dieser Gedanke, wie allein die Tatsache, daß nun ausgerechnet diese Vera vor ihm stand, diese graue Maus, dieses Mauerblümchen, ließ ihn völlig sprachlos werden.
Unmöglich doch, daß dieses arme Menschenkind, dieses hilflose Würstchen Yemayá entführt haben könnte und nun die fünfzigtausend Mark von ihnen haben wollte. Alle, doch nicht die!
Er suchte nach Worten, den Rückzug anzutreten, sich glaubhaft zu entschuldigen, brauchte aber Zeit dazu, war in einem Maße verwirrt, daß er nicht mal etwas stammeln konnte.
Vera war es dann, die die ersten Sätze sprach.
«Sie wohnen bei Jessica, ich weiß… Möchten Sie nähertreten?»
«Ja… Nein… Ich komme nur wegen des Babys…»
«Ja, natürlich. Das war ja zu erwarten gewesen, obwohl mir versichert worden ist… Aber, bitte…» Sie zog die Tür nun vollends auf und trat gleichzeitig einen Schritt zurück, Mannhardt den Weg freigebend. «Geradeaus, dann links, ins Wohnzimmer bitte…»
Eigensicherung beachten!
Instinktiv drückte er sich an der Wand des Korridors entlang, immer alle Türen und Vorhänge im Auge, obwohl ihn alles hier, Farben, Formen und Gerüche, ans Ambiente eines Altenheims erinnerte, Haus Friedenshöhe. Aber – Achtung! – Baby-Utensilien lagen herum: abgestreifte Windeln, Tuben mit Creme, eine Rassel, ein Strümpfchen.
Wo war ihr Komplize? Konnte sie ihre Stimme wirklich so verstellen, daß sie am Telefon wie ein Mann geklungen hatte? Hm, sehr softig und ein wenig feminin war ihm die Stimme des Erpressers wirklich vorgekommen, und Vera machte ja durchaus einen etwas männlichen Eindruck.
Aber…! Er konnte es nicht glauben.
Doch! Als er jetzt ins Zimmer trat, war er sich völlig sicher: das war original dieser komisch-braune Vorhang, den sie im Film gesehen hatten. Und die Hochbahn draußen, gerade wieder kam eine vorbei: genau die gesuchte Perspektive.
Mannhardt riß das Fenster auf, um sich einmal frische Luft und zum andern den Fluchtweg zu sichern. Besser von hier in den Vorgarten hinunter zu springen, als eine Kugel in den Kopf zu kriegen.
Wer aber sollte schon schießen?
Doch wo war das Baby geblieben? Schlief es drüben im anderen Zimmer? Hatte sie doch einen Komplizen gehabt? Aber sehr schwer vorstellbar, daß sich ein noch halbwegs funktionsfähiger Mann echt für diese Frau interessiert haben könnte, für diese Mischung von Toilettenfrau und total durchgeistigtem Wesen, das ständig Harfe oder Flöte spielte.
Das war inhuman gedacht und chauvinistisch, und er verpaßte sich sofort einen dicken Tadel dafür, konnte sich aber, auch wenn er dieser Vera ein herzensgutes Wesen unterstellte, noch immer nicht vorstellen, wie die selber zu einem Kind gekommen sein sollte. So besoffen konnte doch keiner…
Und so fragte er denn, als sich Vera ihm gegenüber auf einen Stuhl gesetzt hatte, leichthin, ob sie wohl ein Nachbarkind beaufsichtigt habe.
«Nein, nein…» Sie steckte ihr Gesicht in die Schale ihrer Hände. «Ich habe mir schon immer ein Kind gewünscht, ein kleines Wesen zum Streicheln und Knuddeln… Ich habe es schließlich gebraucht wie ein Süchtiger sein Heroin. Da habe ich dann Stimmen gehört, und diese Stimmen haben mir gesagt: ‹Nimm doch Jessicas Baby, sie selber will es ja nicht, haßt es, weil es sie behindert; sie will ja nur Karriere machen. Rette das Kind!› Ja, und als ich dann mein Lithium abgesetzt hatte…» Sie fiel für Sekunden in einen Zustand der Erstarrung, der Mannhardt nach seiner langen Zeit in der Klinik sofort an das Stichwort «Stupor» denken ließ, jenen Zustand, wo sich der Kranke nicht mehr bewegte, durch keinen äußeren Reiz mehr «einzuschalten» war.
Lithium und Stupor, das ließ ihn sofort an eines denken, an Schizophrenie. In einem ihrer Schübe hatte sie also Yemayá aus dem Wagen genommen, sich wahrscheinlich ganz als deren wahre Mutter gefühlt und sich den Vater und alles andere dann hinzugedichtet, hier zu Hause glückliche Mutter/trautes Heim gespielt. Ähnliche Fälle kannte er von Bad Brammermoor her.
«Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen», sagte er und überlegte schon, welche der Berliner Kliniken für einen solchen Fall in Frage kamen, wo man ihr am besten helfen würde.
Da sprach sie weiter, stimmlos-mechanisch, als wäre in ihr ein Tonband angeschaltet worden.
«Ich werde mich bei Jessica noch entschuldigen… Es tut mir alles furchtbar leid… Aber meine Krankheit, die… Wie geht es denn dem Kind? Wie geht es Jessica? Haben beide alles überstanden, ohne daß sie…»
Mannhardt war mehr als verblüfft. «Ich muß doch die Kleine erst noch mitnehmen…!»
«Sie muß doch schon längst wieder da sein!»
«Wieso denn das…!?»
«Na, weil Jessica doch hier gewesen ist und Yemayá mitgenommen hat…»
«Jessica!?» Mannhardt war unwillkürlich aufgesprungen.
«Ja, Jessica! Sie muß mit diesem Corzelius hier gewesen sein, als ich mittags einkaufen war. Bei mir eingebrochen sind sie… Am Schloß ist der Zylinder rausgebrochen; ich hab das nur notdürftig… bis der Schlosser nachher kommt, und da haben sie das Baby wieder mitgenommen.»
Sie sagte das, wie Mannhardt fand, so uninteressiert-abwesend, als würde sie vom Verlust eines Markstückes sprechen, erinnerte ihn beinahe an ein autistisches Kind.
«Nun, das…» Er war derart durcheinander, daß er das Gefühl hatte, jeder weitere Gedanke müßte seinen Kopf zerreißen, und über die Fensterscheiben huschten kolonnenweise rote Zahlen hinweg: 888888888888888888888… Wie bei seinem alten Taschenrechner, wenn die Batterien leer geworden waren und der Speicher nichts mehr fassen konnte.
Wie war Jessica auf Vera gekommen?
Warum hatten sie ihm, ausgerechnet ihm, nichts davon gesagt?
Wozu das ganze Theater mit dem Anruf, mit dem Film, mit der Suche von der Hochbahn aus?
War denn Jessica auch verrückt geworden im wahrsten Sinne des Wortes, von der realen in eine Scheinwelt hinüber, in zwei Wesen zerbrochen, wie Vera hier, von dem das eine nicht mehr wußte, was das andere tat?
Oder alles nur der großen Publicity wegen, alles selbstinszeniert?
Nein und abermals nein! Und dennoch war das «Unmöglich…!», das er schließlich hervorzubringen vermochte, eher schwach, denn zugleich erfüllte ihn mit einer Art Hintergrundsrauschen der stereotype Spruch Unmöglich ist nichts!
«Jessica hat mir auch noch einen kleinen Brief geschrieben…» sagte Vera, kaum noch zu verstehen mit ihrer leisen und synthetischen Stimme, und reichte ihm mit ersterbender Motorik ein geriffeltes Büttenkärtchen herüber, geschmückt mit einem osterbunten Blumenstrauß.
«Danke…»
Der Text war kurz:
Liebe Vera, wir waren uns heute sicher, daß nur Du – so wie Du bei Deinem letzten Besuch das Kind immer angestarrt hast! – Yemayá aus dem Kinderwagen gestohlen haben konntest. Nun haben wir uns unser Kind ebenso geräuschlos zurückgeholt. Wir wissen, wie krank Du bist, und werden aus Mitleid mit Dir kein Wort über alles verlieren. Schweige auch Du. Jessica
«Nun, ist das ihre Handschrift oder nicht?»
Was sollte Mannhardt anderes antworten als: «Ja, das ist sie wohl…»