2.
Als Jessica vor dem Zeitungskiosk stand, schlug ihr Herz so hart und schnell, daß sie sich über diese alberne Reaktion ihres Körpers furchtbar zu ärgern begann. Sie preßte ihre rechte Hand auf die pulsende Stelle, rieb und massierte den ganzen Bereich, bis ihr so recht bewußt wurde, mit welchen Blicken die vorüberziehenden Männer sie streiften. Einerseits genoß sie es, wenn die Leute sie anstarrten, andererseits fand sie Peep-Shows und jede Art von weiblichem Exhibitionismus an sich zum Kotzen, war weiß Gott nicht scharf darauf, hier wie eine Nutte zu stehen, zumal Yemayá neben ihr im Wagen lag und aus purer Lust am Leben leise gluckste.
«Bitte…?» Auch die dicke Zeitungsfrau im Innern der hölzernen Bude schien etwas irritiert.
Jessica zögerte noch immer, und plötzlich war es ihr, als würde sie einen großen Einkaufswagen mit Kondomen vollgeladen durch die drospa schieben müssen. Eine hysterische Zicke schalt sie sich, wußte aber sehr genau, daß ihre heftige Verlegenheit schon ihre guten Gründe hatte, denn ein erhebliches Stückchen Prostitution war das Ganze allemal, allein der vielen Bettszenen wegen, wenn sie Millionen Männer zu Hause besuchte und nichts dagegen unternehmen konnte, wenn sie mit ihrem Körper machten, was sie wollten.
Wie in einem Asthmaanfall rang sie nach Luft, und die Zeitungsfrau, ansonsten ungemein apathisch, betäubt von Druckerschwärze wie ihrem eigenen Mief, fragte, ob ihr wohl schlecht geworden und die Feuerwehr zu rufen sei.
«Nein, nein, nur das schwüle Wetter plötzlich…! Ich überlege gerade mal, was ich…»
Jessica überflog die ausgelegten Boulevardzeitungen und fand für einen Augenblick Ablenkung in deren Überschriften: Totes Liebesmädchen mit letztem Freund in einem Sarg – Sie: AIDS! Er: Kopfschuß! So Bild und BZ fast gleichlautend.
Sie las, daß ein gewisser Bernhard Grobelny, 35, Geschäftsführer einer etwas zwielichtigen Nobel-Bar in der Westfälischen Straße in Halensee und von seinen Freunden «Grobi» genannt, offenbar liquidiert worden war. Klopft die Mafia nun auch an unsere Tür? Da sie den Spitznamen des Mannes ebenso in Anführungszeichen gesetzt hatten wie im Artikel nebenan die «DDR», mußte sie automatisch an Corzelius denken. Es wäre an sich seine Geschichte gewesen, doch er hatte sich allzuleicht von den alten Platzhirschen wegbeißen lassen, war heute, trotzig wie ein Kind und ziemlich larmoyant, mit seiner Wandergruppe in die DDR gezogen, anstatt hier vor Ort zu kämpfen.
Sie gab sich einen Ruck.
«Alle Programmzeitschriften der nächsten Woche… bitte!»
Endlich war es heraus. Sie hatte der Zeitungsfrau nicht ins Gesicht sehen, dessen Farbe nicht ertragen können, wie ausgekotzter Labskaus, war beim Sprechen mit dem Kopf nach unten getaucht, weit in den Kinderwagen hinein, hatte Yemayás rosa Deckchen geglättet.
«Was denn: alle…!?»
«Alle, ja…»
Gleich würde die fette Wachtel die Tür ihres stinkigen Kabuffs aufreißen, auf sie einstürmen, sie umarmen. Frau Criens, toll, Sie sind ja da wirklich überall drin! Nein, daß ich auf meine alten Tage noch eine so prominente Kundin habe! Hier, hier hab ich ‘n Foto von Ihnen, wenn Sie mir da bitte mal ein Autogramm…?
Sollte sie das alles genießen, sollte sie es fürchten, was da auf sie zukam? War sie schon über alle Maßen neurotisch oder nur insoweit, wie es der Karriere diente?
Yemayá hustete kurz und trocken, ohne aber davon richtig wach zu werden, und Jessica erschrak, dachte sofort an den Kruppschen Husten und das ganze Elend und den Notarzt, mit Blaulicht ab ins Krankenhaus, verdrängte aber alles schnell. So schlimm wurde es ganz sicher nicht.
Es schmerzte sie, daß ihre Zeitungsfrau mit keinem Wort auf sie und ihren großen Film zu sprechen kam, und gleichzeitig ließ es sie aufatmen. Sie war nicht in der Lage, es in Worte zu fassen, aber sie fühlte es, daß man nackt und bloß dastand und sehr verletzlich wurde, wenn man zu den Prominenten zählte.
Sie bekam alles – Gong, HÖR ZU, BILD + FUNK, Fernsehwoche, FUNKUHR, TV HÖREN und SEHEN und anderes mehr – auf die ausgelegten Stapel von BILD, BZ und Berliner Morgenpost geworfen und hatte mehr als zehn Mark zu zahlen, verstaute das ganze bunt bedruckte Papier in das kleine Körbchen zwischen den hohen Rädern ihres Kinderwagens und suchte im selben Augenblick auch schon nach einer Gelegenheit zum Sitzen und Lesen. Schnell gehen mußte das, war wie eine aufgestaute orgiastische Lust, ein Brennen, ein Fiebern, ein Schmerz, ein absolutes Muß. Jetzt gleich, keine Sekunde mehr warten!
Sie eilte über den Platz, den Breitscheidplatz hinweg, am braunen Marmorbrunnen, dem «Wasserklops» vorbei, fand am Fuße der Gedächtniskirche auf einer der runden Edelholzbänke schließlich einen freien Platz, sank nieder und riß die Zeitschriften unter dem Kinderwagen hervor.
Ihre erste große Fernsehrolle.
Jessica Criens – eine Weltkarriere begann in Berlin.
Wo war ihr Fernsehspiel, wo sie?
Im Fieber fetzte sie die Seiten auseinander, sah sich, glaubte es nicht.
Träume, Halluzinationen. Alles so unmöglich wie ein zweiter Erdenmond, urplötzlich am Himmel, oder daß der Boulevard, der Kudamm, der sich zu ihrer Rechten nach Halensee hin öffnete, mit dem nächsten Wimpernschlag wieder jener karge Reitweg war, der er einst gewesen.
Gleichzeitig aber las sie etwas über sich, die Zeile… eines Tages aber kommt Ruth (Jessica Criens) nicht um die Erkenntnis herum, daß sich ihr Mann zu seinem Kollegen Robert viel mehr hingezogen fühlt als zu ihr, sah sie, entdeckte sie ihr eigenes Gesicht, versank darin. Gretchen oder Voodoo-Tänzerin? Intellektuell oder naiv? Kalt berechnend oder ganz gefühlsbetont? Oval, fast kreolischscharf geschnitten, Martinique/Guadeloupe, oder breit und flächig, deutsche Bäuerin?
Alles in einem. Welch Kapital!
Ruth Ubbelohde… Jessica Criens
Ganz oben stand das, und immer wieder hakte sie sich fest daran, saugte es in sich hinein wie Yemayá den süßen Brei aus ihrem Fläschchen.
«Da sieh mal, Süße, das ist die Mami!» Sie hielt dem Kind ihr Foto hin und war völlig high, als Yemayá daraufhin jauchzte und lachte.
Freude, schöner Götterfunken… Verweile doch, du bist so schön… Aus den Wolken muß es fallen,/Aus der Götter Schoß, das Glück…
Sie hatte nun alles, was sie sich je vom Leben erträumt hatte: ihr Baby und den Erfolg.
Sie hatte vollkommen vergessen, wo sie da saß und sich an sich selbst berauschte, brauchte viele Sekunden, um wieder wach zu werden und zu checken, daß es an der Ecke Tauentzien und Kudamm war, mitten in Berlin. Viel Volk war um sie herum, saß da wie sie oder eilte, wimmelte. Jugendliche, herumlungernd, sicher ohne Arbeit. Rentner, amerikanisch aufgemotzt die westlichen, braun-grau die östlichen, Plaste und Elaste aus Schkopau. Wessies, wieselnd, aufgekratzt, gestern noch in Oberkotzau, heute in der Weltstadt hier, wie vom billigsten Rotwein besoffen. Flanierende Studenten, von ihren friedhofsöden Paukanstalten abgestoßen, heimatlos zwischen coolen CDU-Cäsaren und Kreuzberger Krawallos. Viel frechgestylte Mädchen und Macker, videodoof, selbstbewußt wie Boris und Steffi, auf alle Fälle die Größten. Rechtsanwälte, Apotheker, Architekten, Ärzte, Unternehmer, vom Schicksal auserwählt, sechsstellig zu verdienen. Hausfrauen en masse, hastend auf der Jagd nach Sonderangeboten. Dazu noch Polizisten, Penner, Alkoholiker. Allesamt ihr Publikum. Nächste Woche Mittwoch würden alle vor der Glotze sitzen und von ihr begeistert sein. Standing ovations für Jessica Criens!
Der Mann dicht neben ihr, von ihr bislang kaum wahrgenommen, stand nun auf und blickte in den Kinderwagen. «Wie süß! Wie heißt die Kleine denn…?»
«Yemayá…» Wie ein Reflex war diese Antwort gekommen, und Jessica bemerkte erst jetzt, daß der Mann ein echter Widerling war: fett und teigig, aufgedunsen, mit viel zu dicker dunkler Hornbrille und offenbar Perücke, exakt gestutzten Haaren jedenfalls und der Farbe einer abgelegten Nerzstola.
Sie sprang auf, von ungewissen Alarmsignalen getrieben – Laß dich von keinem ansprechen! Geh mit keinem mit! – und schob den Kinderwagen an der Gedächtniskirche vorbei.
Los, nach Hause, sonst flippst du völlig aus!
Ein Uhr auch schon. Yemayá würde bald zu quaken anfangen; frische Windeln waren fällig. Das Mittagessen…! Keine Panik, sie war ja allein, da reichte eine schnell aufgewärmte Leberknödelsuppe mit einer trockenen Stulle dazu. Um 15.30 Uhr der Kinderarzt. Sicher ist sicher. Hatte Yemayá vorhin wirklich ein wenig Blut im Stuhl gehabt – oder hatte sie sich das nur eingebildet? Hysterisch war sie ja. Ins neue Buch hatte sie auch nur morgens im Bett hineingesehen, dabei war in knapp drei Wochen schon der Drehbeginn.
Also war erhöhtes Tempo angesagt. Sie kam sich, als sie jetzt den Kurfürstendamm hinaufeilte, wie eine Läuferin vor, die beim Marathon den Kinderwagen mitgenommen hatte. Auch eine Rolle, die sie reizen konnte: eine Frau, die so besessen vom Joggen und vom Laufen war, daß sie letztendlich allen und allem davonlaufen konnte: Haushalt, Ehe, Mann und Kindern.
Sie kam an einem Haufen Kinos vorbei. Gloria, Zoo-Palast und Marmorhaus. Wenn erst die Anzeigen oben an den Fassaden ihren Namen priesen: KINO eins – Jessica Criens in Ein seltener Fall von Witwenverbrennung, KINO zwei – Jessica Criens in Ich lege Rosen auf mein Grab, KINO drei…
Du bist ja verrückt, äih!
Ja, und weil ich es bin, wird mein Name eines Tages hier überall in Riesenlettern stehen!
Sie wohnte hinten am Ludwigkirchplatz und hatte nun, wollte sie vom Kudamm auf dem schnellsten Weg nach Hause, links abzubiegen in die Fasanenstraße, am Astor vorbei, wo sie dreimal hintereinander «Jenseits von Afrika» gesehen und beschlossen hatte, mindestens eine zweite Meryl Streep zu werden.
Ihr Hochgefühl hielt an, und als sie an einer der vielen Boutiquen vorüberkam, gerade neu eröffnet, beschloß sie spontan, sich wieder mal neue Klamotten zu kaufen. Ein Tag wie dieser war gebührend zu feiern. Sekt gab es hier für neue Kunden. Wow, das war es!
Ein Rock aus Rindsoftnappa, tiefschwarz, war schon lange ihr Traum. Wenn sie damit durch die Straßen ging, war sie die Queen. Die Weiber wurden grün vor Neid, und den Kerlen sprang der Pint nach oben, daß es ihnen die Hosenknöpfe absprengte.
Haben mußte sie den. Sie nahm ihn vom Ständer und wollte in den Laden hinein, doch das scheiterte an den vier, fünf Stufen, die nach oben führten. Egal, Yemayá schlief noch immer, und ein paar Sekunden hier draußen schadeten nichts, war ja kein Smog.
Jessicas Euphorie multiplizierte sich noch, als die Verkäuferin rief: «Ich kenn Sie doch von der Bühne her…! ‹Kleines Theater› am Südwestkorso, Berlin-Revue…»
Sie war die einzige Kundin im Laden, und es ging ganz schnell, den Rock mal übergestreift und gesehen, ob er paßte. Sie brauchte bloß hinter eine hölzerne Trennwand zu treten, nicht mal die Kabine aufzusuchen.
«Paßt, ja…» Während sie sich mit den Händen über Bauch und Schenkel fuhr, ein bißchen Nina Hagen, warf sie einen Blick durch die Modepuppen und Dekorationen nach draußen. Alles okay. Yemayás Panoramawagen stand friedlich im Schatten.
«Toll sehen Sie aus! Schon für Ihre neue Rolle, was…?»
«Nein, nur für…» Sie brach ab, hätte fast verraten, wen sie mit diesem Rock anmachen wollte.
«Ach, ich verstehe…!» Die Verkäuferin, Mitte Zwanzig und furchtbar fasziniert von allem, was mit TV und Film zusammenhing, dachte sich ihr Teil. «Einen Herrn, den wir alle kennen…?»
«Na, schalten Sie mal regelmäßig ein!» Jessica lachte und begann im chaotischen Durcheinander ihrer Handtasche nach eingesteckten Geldscheinen zu suchen, fand endlich auch welche und streckte sie hin.
Die Verkäuferin geriet nun leicht in Panik, denn in dem Moment, als sie das Wechselgeld aus der Kasse nehmen und Jessica vorzählen wollte, schrillte hinter ihr das Telefon. «Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie nicht mehr zur Tür…!»
«Macht doch nichts, ich muß mich sowieso beeilen…»
Jessica warf die Münzen, die ihr schnell in die Hand gedrückt worden waren, achtlos in die Tasche, nahm die bunte Plastiktüte mit dem Rock, tauschte schnell noch das rituelle «Tschau!» mit der anderen und verließ dann den Laden.
Die Stufen sprang und schwebte sie hinunter, schwang dabei die Tüte auf und ab, als wär’s ein Schmetterlingsflügel.
Unten angekommen, flog der Rock auf die Ablage unterm Kinderwagen, rauf auf die Programmzeitschriften.
Was für ein Tag! Szenen, die sie noch vor Augen haben würde, wenn sie fünfzig war.
Dann erst sah sie in den Kinderwagen.
Er war leer, Yemayá war verschwunden.