4.

 

 

 

Gegen 18 Uhr 30 erreichten sie das Schönefelder Kreuz und rollten auf einem letzten Autobahnstrahl Richtung Norden, erblickten schon bald am grau-grauen Horizont die Hochhausspitzen der Gropiusstadt, Westberliner Zeichen also, Liebesgrüße aus Britz – Buckow-Rudow. Da, wo die alte «Frontstadt» mit ihrem südlichsten Keil weit ins real-sozialistische Land hineinragte, befand sich der zentrale DDR-Flughafen, Berlin-Schönefeld, mit zwei spektakulären Abstürzen, Mitte der sechziger Jahre und erst vor kurzem wieder, überall publik geworden. Seine Main Hall, mehr als provinziell in allem, lag, nur von Straße und Bahngelände getrennt, fast unmittelbar der Grenze gegenüber, und viele Westler kamen jahraus, jahrein hierher, um die Billig-Tarife zu nutzen.

Spätestens als sie die grau-roten Heckflossen der Interflug-Maschine erblickten, beschlich die neun Wanderer in ihren beiden B-Nummern-Wagen ein kindlich-ängstliches Gefühl, die bange Erwartung, nun bald von stoisch-kühlen Kontrolleuren in die Mangel genommen und möglicherweise wegen irgendwas erwischt zu werden. Wer hundert Einheiten positiver Eindrücke aus der DDR mitbrachte, und sie standen ihr ja alle sehr offen gegenüber, der verlor hier an der Grenze wieder hundertzwanzig davon; so ihre Einschätzung der Lage.

Vieles war nun zu bedenken, war falsch zu machen, konnte «Konsequenzen» haben.

Da war zuerst das umgetauschte, aber nicht verbrauchte Geld der DDR, das «Ostgeld», das sie in der Tasche trugen. Wie und wo hätten sie es bei der heutigen Wanderung ausgeben können? Vielleicht Wuthenow, einem Spitzenfunktionär, für seine Fährdienste schenken? Unmöglich. Also hatten sie alles gesammelt, und Siegfried war beauftragt worden, es an der Grenze auf sein Sonderkonto einzuzahlen, wieder abhebbar zu allen Zeiten. Das war noch in Dolgenbrodt am Sammelpunkt Friedhof geschehen, doch als Horst jetzt kurz vor Schönefeld in seine Jackentasche faßte, kamen drei Alu-Münzen zum Vorschein. Was tun? Behielt er sie und verneinte dann die obligate Zöllnerfrage an der Grenze, ob er noch Zahlungsmittel der Deutschen Demokratischen Republik mit sich führe, so gab es, sollte er wirklich, warum auch immer, am Leibe visitiert werden, erheblichen Ärger. Sie Siegfried nachzureichen war schlecht möglich, weil der im anderen, in Steffis Wagen saß, und er hätte auch alles neu abrechnen müssen.

Was also tun? Die drei Münzen flogen aus dem Fenster, und Mannhardt fürchtete, daß dieses Delikt gegen die Notenbank der DDR noch böse Folgen haben werde. «Ist doch deren Schuld, daß sie so ‘n Theater machen, wenn man ihr Geld mitnehmen will.»

Mehr Sorgen als die Devisenfrage machte ihnen ihr jahrelang im Westen antrainiertes Unvermögen, bei Begegnungen mit der Staatsmacht auch mal den Mund halten zu können. Aber die DDR-Organe mochten das nun gar nicht leiden; «Räsoniere Er nicht!» Schon bei der Einreise hatte Corzelius ihren Zeitplan gefährdet, als er auf die Grenzer-Frage, ob er Waffen mit sich führe, geantwortet hatte: «Ja, geistige!» Stummes Entsetzen des jungen Mannes und dann ein wütendes «Warten Sie hier!», als Stefanie bei seinem Kollegen auf dieselbe (dumme) Frage noch einen draufsetzte: «Wieso, brauch ich denn in der DDR auf den Straßen irgendwelche Waffen? Ist doch alles so sicher hier…» Schnelle Schritte in das Büdchen zum Genossen Leutnant hin, das Strafgericht in Gang zu setzen. Doch der war, was’n Glück für sie, nicht nur ein an sich humorvoller Mensch, sondern auch noch voll auf die Imageverbesserung à la Honecker aus, lachte nur und fragte, ob sie noch mehr solcher Sprüche drauf hätten, vielleicht sogar die neuesten Kanzlerwitze. Hatten sie – und entgingen der üblichen Bestrafung: «Fahren Sie mal rechts raus…» (Wartezeiten bis zu anderthalb Stunden).

Aber ob es ihnen auch auf der Rückreise gelang, auf solche Art und Weise der Strafbank zu entgehen?

Schon beim Ausfüllen der Formulare konnte man so manches falsch machen. Auf der grünen Ausreisekarte beispielsweise. Beim Reiseziel in der DDR hatten sie alle und ja korrekterweise «Touristik Kreis Königs Wusterhausen» hingemalt, doch da gab es ganz unten noch die Rubrik Weitere Reiseziele in der DDR (Name und Anschrift)… War da anzugeben: Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm Wuthenow…? Ja, sie hatten ja mit ihm kontaktet. Nein, denn – so Corzelius sehr sophisticated – seine Datsche sei ja nicht ihr Reiseziel gewesen, nur der pure Zufall hätte ihre Begegnung bewirkt. «Egal, wir haben aber!» sagte Horst, der in solchen Sachen sehr pedantisch war. «Und außerdem: wir sind ja höchstwahrscheinlich verfolgt worden, die ganze Zeit über beobachtet… Und wenn wir’s jetzt verschweigen, machen wir uns doppelt verdächtig.»

«Und wenn wir’s reinschreiben, erst recht!» beharrte Dieter. «Denn Wuthenow, den kennt doch hier jeder von der Politschulung her.»

Man hatte abgestimmt, und die Mehrheit war für Verschweigen gewesen; doch nun zitterten sie alle.

Dann gab es noch zwei kleinere Probleme, die beide Jürgen betrafen. Der rot-weiße Pfahl, der das Sperrgebiet markierte, und die Bananenschale darauf; natürlich hatte er da einen Schnappschuß gemacht, obwohl sie im Merkblatt aufgefordert wurden, «unbedingt einige Fotografierverbote» zu beachten, so neben Bahnanlagen und Bahnhöfen auch «militärische Einrichtungen, Marschkolonnen, diensttuende Soldaten, militärische Sperrgebiete in der Landschaft». «Siehste!» sagte Horst, nachdem er das verlesen hatte, «wennse nu deinen Apparat aufmachen und den Film entwickeln lassen…!»

«Außerdem», erwiderte Jürgen, «hab ich mir am Krüpelsee noch einen Stein eingesteckt – und verboten ist die Ausfuhr von Mineralien, Fossilien und Gesteinen mit musealem und Sammlerwert!»

Auszufüllen war nun noch von jedem ein schmutzigweißes Zettelchen mit den Rubriken «Bei der Ausreise mitgeführte Zahlungsmittel» (wo sie ihre Westgeldbestände zu vermerken hatten) und «In der DDR als Geschenk erhaltene oder durch Kauf erworbene Gegenstände»; plus Datum und «Unterschrift des Reisenden».

Als das erledigt war, kurvten sie auch schon dem Betonwall entgegen, hielten vor der ersten Öffnung, einer Schranke, einer roten Ampel. Vorkontrolle. Personalausweise, Ausreisekarten, Kraftfahrzeugschein. Hinausgereicht aus dem Wagen, Musterung der Insassengesichter. «Danke sehr!» und Schranke hoch, Einfahrt in den engeren Kontrollbereich, Slalomfahrten durch Betonkämme hindurch. Sechs Wagen vor ihnen, nun wartet mal schön. Links und rechts Felder, und legte man die Hände wie ein Fernglas an die Augen, hätte man irgendwo in Niedersachsen oder sonstwo sein können.

Warten als Methode, die Existenz eines Staates ins Gedächtnis zu rufen. So ihr Urteil, als sie eine Viertelstunde hinter sich hatten; aber tat denn das noch not? Dazu der Nieselregen und die Totensonntagstristesse. Grenzer wieselten herum und schienen in den Baracken Interessantes zu treiben.

«Jetzt rufen sie reihum die Posten an, die uns die ganze Zeit über…»

«Hör auf zu unken!»

Es dauerte und dauerte, und jeder Blick, der sie prüfend traf, rief neue Ängste wach, zumal schon einige Wagen, die das Ziel nach ihnen erreicht hatte, nach vorn gewunken worden waren.

Jürgens blauer BMW stand vorn, Stefanies gelber Variant stoßstangennahe dahinter, und wegen ihrer noch immer furchtbar klammen Sachen waren sie im warmen Wageninnern geblieben, konnten sich durch die nur etwas heruntergekurbelten Fenster auch nicht recht verständigen.

Endlich kam eine Uniform, weiblich, auf sie zu, schien das Ritual eröffnen zu wollen. Neues Erschrecken, denn Frauen galten gemeinhin als die schärferen Posten.

«Ihre Papiere bitte…»

Nun the same procedure, derselbe Film wie schon seit Jahren: alle raus, Motorhaube auf und festgemacht, Kofferraum auf, Sitzbank hinten hochgeklappt, Handschuhfach geöffnet. «Haben Sie alle auszuführenden Gegenstände aufgeschrieben?» Ja. «Führen Sie noch Mark der DDR bei sich?» Nein. Mit dem Spiegel auf Rädern unter die Wagen geleuchtet, aber keine Tankkontrolle per Stab.

Zögern und erneutes Durchblättern sämtlicher hingegebener Papiere. «Sie gehören alle zusammen?»

«Ja…»

Pause, Herzschlag beschleunigt, neuer Schweiß unterm Arm.

Was nun? Sah verklemmt aus die Dame, verbohrt, menschlich deformiert vom Klassenhaß. Sie hörten sie schon sagen: «Fahren Sie mal rechts ran hier – und komm’n Sie mit…!»

Noch nichts von alledem, nur ein Stewardessenlächeln. «Hatten Sie ja Pech mit dem Wandern bei diesem Wetter heute…» Und die Papiere zurück. «Sie können fahren, sonst erkälten Sie sich noch…»

Rein in die Wagen, durch die nächsten Betonschikanen gekurvt, dann die letzte Schranke, automatisch sich hebend, der weiße Strich – und der Westen hatte sie wieder.

Erleichterung allenthalben und stille Loblieder auf dieses – ihr Land, doch schon anderthalb Minuten später begannen sie zu schimpfen über die unästhetische Bebauung in der Vorstadt Rudow, daß es hier schon so richtig amerikanisch-schlimm aussehe. Gleichzeitig freuten sie sich auf ein heißes Bad und ordentlich was zu essen.

Corzelius bat Jürgen um beschleunigtes Fahren. «Jessica will noch zu ‘ner Premierenfeier heute, und ich bin mit Yemayá dran.»

«Ich tu ja, was ich kann!»

 

 

Es wurde zwanzig Uhr, «Tagesschau»-Zeit, ehe Jürgen sie am Ludwigkirchplatz vor ihrem Wohnhaus absetzen konnte. Schneller Abschied, und man war sich einig, daß es wieder mal ein schön ereignisreicher Tag gewesen war, alles alsbald neu gewagt werden sollte.

Jürgen fuhr mit Dieter weiter, und Corzelius und Mannhardt winkten den beiden noch nach, gingen dann mit aufgeschultertem Rucksack in den muffig-kalten Hausflur hinein.

Yemayás Kinderwagen stand in der Schräge unter der nach oben führenden Treppe, und Corzelius schob ihn noch ein bißchen zur Seite, so daß er von der Straße aus nicht sogleich zu sehen war; geklaut wurde mächtig und alles. Das schwere Ding aber jedesmal nach oben schleppen wollte er nicht.

«Hoffentlich hat meine liebe…» Er brach ab, tat so, als wäre er über ein plötzliches Stolpern arg erschrocken, hätte um ein Haar «meine liebe Cousine» gesagt. «Mann, tun mir die Beine weh!»

«Meinste, mir nich! Und die nassen Sachen…! Hoffentlich hat uns Jessica ‘n heißen Tee…»

«Wird sie schon…»

Die drei Stockwerke strengten sie an, als hätten sie auf den Funkturm rauflaufen müssen, und schnaufend hielten sie oben, waren zu müde, um die Rucksäcke herunterzureißen und nach ihren Schlüsseln zu suchen, klopften ganz leise.

Nichts! Leise Rufe nach Jessica. Zu klingeln verbot sich des Babys wegen, blieb also doch nichts weiter übrig, als mühsam abzuschnallen und nach den Schlüsseln zu suchen.

Corzelius war als erster am Ziel, schloß auf und ging in die Wohnung hinein, wunderte sich laut, daß die endlos lange Diele so total im Dunkeln lag.

«Nanu, ist denn Jessica schon weg…?» Er machte Licht. «Sie hat doch aber die Kleine noch nie alleine gelassen…»

«Vielleicht sind se beide eingeschlafen…?» Mannhardt drückte die Tür hinter sich zu, stellte seinen Rucksack ab und bewegte sich in Richtung Kinderzimmer. «Ist mir doch gestern auch so gegangen, als ich mich hingelegt hatte, neben die Wiege…»

Doch keine Jessica am Boden, und nachdem er ein Weilchen gelauscht hatte, flüsterte er Corzelius zu, daß die Wiege ganz offensichtlich leer sei.

Corzelius, mit Eifer dabei, sich die nassen Wanderschuhe von den Füßen zu reißen, humpelte herbei, nahm seine Taschenlampe vom Schuhschrank herunter und leuchtete hinein.

«Keiner drin!»

In derselben Sekunde hatte Mannhardt schon die Tür zum großen, zum Berliner Zimmer geöffnet, war sich sicher, daß Jessica dort auf der Couch lag und schlief, was er immer sehr erotisch fand, doch auch hier war alles leer.

Panik war es noch nicht, aber eine gewisse Sorge erfüllte sie schon, als sie jetzt laut durch alle Räume ihren Namen riefen, doch keine Antwort erhielten.

Mannhardt, über dreißig Jahre bei der Kripo, sah sich plötzlich von schrecklichen Bildern beschossen, sie aufflammen und wieder verglühen wie die Funkengarben, die sein Trennschleifer erzeugte. Frauen, ertrunken in der Badewanne, auf den Küchenfliesen in einem wahren See von Blut, hingesunken vor dem Gasbratofen; erwürgt, erstochen, erschossen, zerstückelt. Er stürzte zum Bad.

«Hier isse nich!»

Nirgends war sie, ebensowenig wie das Baby zu finden.

«Komisch, und nich mal ‘n Zettel liegt da…»

Mannhardt sah ihn an. «Hat sie denn mal was von Trennung gesagt…?»

«Nein…» Corzelius wußte keine große Antwort darauf.

«Vielleicht isse bloß mal schnell beim Nachbarn drüben…?»

«Bei Pauly…? Den haßt sie doch, diesen SS-Typen mit seinem deutschen Schäferhund, da hat sie doch immer Angst, daß der das Kind mal totbeißen wird.»

«Und sonst im Haus?»

«Höchstens die Frau Kudernatsch, unter uns die. Ich kann ja mal anrufen…» Er tat es und erfuhr, daß weder Jessica noch Yemayá bei ihr in der Wohnung war, ja, sie seit etwa elf, halb zwölf auch keine Schritte, kein Geschrei mehr gehört, vernommen habe.

Corzelius legte auf, und seine Hände zitterten ein wenig. Er brauchte Jessica, sie brauchte ihn. Wenn sie sich nicht aneinander festhielten, hatten sie kaum eine Chance. Nach seiner Flucht aus Bramme wäre er vor die Hunde gegangen, Alk und Drogen, Suizid, das Übliche, wenn er nicht hier aufgenommen worden wäre. Und sie, mit ihrem Kind, mit Wuthenow drüben, hoch auf der Karriereleiter, ihrem übergroßen Ehrgeiz und den kleinen Chancen im TV-Geschäft, sie war doch ohne ihn verloren.

Er riß sich zusammen, sagte Mannhardt, daß er nun reihum Jessicas Freundinnen anrufen wolle, fing mit Tatjana an, ging dann die ganze Liste durch, doch ein jedes Mal ohne Erfolg, denn die Damen waren entweder aushäusig, oder sie wußten von nichts.

«Komisch…!»

Hatte sie schnell zu ihrer Filmfirma hinmüssen und das Baby mitgenommen? Nein, da war niemand mehr. Oder war sie doch zur Premiere gegangen, trotz ihrer klaustrophobischen Ängste, was volle Theater betraf, und hatte sie Yemayá irgendwo beim Inspizienten auf die Couch gelegt. Möglich schon, doch seine Anrufe blieben allesamt ergebnislos.

Hilfesuchend sah er Mannhardt an: Du bist doch Spezialist in solchen Sachen, tu doch was, sag doch was, aber Mannhardt fiel in dieser Situation auch nichts weiter ein als die etwas dümmliche Anmerkung, daß die beiden doch nicht so einfach vom Erdboden verschwunden sein könnten, worauf C. C. ihm bestätigte, echte Bundeskanzlerreife zu besitzen, und Mannhardt ihn anbellte, die Schuld dafür, daß sich Jessica von ihm getrennt habe, die solle er doch bitt schön bei sich selber suchen.

«…‘n Sherlock Holmes biste auch nicht gerade…» brummte Corzelius. «Bis jetzt hast du überhaupt noch nichts begriffen…»

«Wie…?»

«Nicht Wien! Berlin!»

«Leck mich doch am…!» Mannhardt riß seinen Rucksack vom Stuhl und stürzte den langen Flur hinunter, an dem sein kleines Zimmer lag, das einstmalige Dienstmädchenkabuff.

Doch die kleine Explosion des plötzlich loslärmenden Telefons ließ ihn wieder abstoppen.

Corzelius riß den Hörer ans Ohr, schrie Namen und nachfolgendes «Bitte…!?» mit ungewohnt schriller und gepreßter Stimme in die weinrote Sprechmuschel und erstarrte dann: ein Unfallkrankenhaus war dran, eine Oberschwester sagte ihm, daß eine Frau Criens ihn ganz dringend zu sprechen wünschte, er möge bitte warten, sie würde ihn verbinden. «Was ist denn… Was ist denn passiert?»

«Das kann ich Ihnen nicht am Telefon…»

«Gott, ich bin der… Ich bin ihr Mann!»

«Sie hatte einen Unfall… Als sie eingeliefert worden ist, hat sie uns erzählt, ihr Kind wäre gestorben… Aber die Feuerwehr hat nichts von einem Kind bemerkt.»

«Wir sind sofort da!»

Er riß Mannhardt, der zum Schluß neben ihm gestanden hatte, mit sich fort zur Tür.

Da sein Wagen noch immer in der Werkstatt war und sich Mannhardt nach seiner Entlassung aus der Bad Brammermoorer Nervenklinik erst langsam nach einem neuen Gefährt umsehen wollte, mußten sie zur Uhlandstraße laufen, um auf ein vorbeihuschendes Taxi zu warten.

So dauerte es gute zwanzig Minuten, ehe sie im Foyer des angegebenen Krankenhauses standen und nach Jessica fragten.

Da kam sie ihnen auch schon entgegengelaufen, ein kleines, schluchzendes Mädchen, und Corzelius konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie erneut zusammenbrach, trug sie fast zu einer nahen Bank, nahm sie in die warme Höhle seiner Arme, seines Körpers.

Wie damals, zwanzig Jahre war es her, in den großen Ferien; als man ihre Katze totgefahren hatte; als sie bei ihren ersten Schwimmversuchen fast ertrunken wäre; als sie sich im Wald verlaufen hatte. Geh mal zu Carsten, der tröstet dich schon. Schön, wenn man so ‘n großen Cousin hat wie du.

«Was ist denn, Jessi?» fragte er.

Sie drückte ihr Gesicht fest in seine Magengrube.

«… mayá ist weg, aus’m Kinderwagen raus…»

Corzelius schaffte es sekundenlang nicht, das irgendwie zu registrieren. Unmöglich, Wahnsinn, nein! Wo war er hier? Was sollte das alles? Wuthenow, die Fähre… Yemayá ist weg? Das Telefon, die Oberschwester:…hat sie uns erzählt, ihr Kind wäre gestorben…

Der Zwang, etwas sagen zu müssen, aber was denn, mit Jessica reden. Corzelius spürte, wie sich seine Brust immer mehr zusammenkrampfte. Der erste Herzinfarkt. Als hätte er eine ganze Flasche Pommery hintereinander getrunken, so lösten sich Dinge und Menschen in bunte Schleier auf.

Irgendwie hörte er sich fragen: «Ist sie denn bei dem Unfall…?» Das Wörtchen tot bekam er nicht über die Lippen.

Jessica wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, und hilflos sah er sich nach einer Schwester um, einem Arzt, wollte rufen, sie doch wieder zu holen, sich um sie zu kümmern, sie hier nicht so leiden zu lassen, doch er ließ es wieder, wollte sie bei sich behalten und nicht den anonymen anderen ausliefern.

«… entführt!» Dann brach es aus ihr heraus. «… ich hätt sie nicht alleine, alles meine Schuld! Aber der Rock… Ein paar Minuten nur… Als ich wieder rauskomme… ist sie nicht mehr… Nur noch der leere Wagen…» Sie konnte nicht mehr weiter, und es dauerte lange, bis Corzelius so in etwa alles wußte, und mit ihm Mannhardt. Wie in Trance war sie ohne Yemayá nach Hause gelaufen, hatte den Kinderwagen, ohne auf die Autos zu achten, über die breite Lietzenburger und die Uhlandstraße geschoben, hatte das Geschehene verdrängt, sich eingeredet, Frau Kudernatsch, die Nachbarin, die die Kleine öfter mal betreute, hätte sie aus dem Wagen gehoben, geherzt und nach Hause getragen.

«Und da hast du nicht geschrien…?»

«Nein, ich dachte doch, Frau Kudernatsch…»

Mannhardt sah sie an. «Man schreit doch als Mutter, wenn einem plötzlich das Kind…! Nach der Polizei, um Hilfe, damit die anderen…?»

Jessica richtete sich auf, und ihre Augen erschienen ihm so tot und leer wie die der Nofretete. «Die Polizei, das konnte ich doch nicht…»

«Warum denn nicht?»

Corzelius wehrte ihn ab. «Das tut doch nichts zur Sache. Weiter, Jessi…!»

«Ja, dann bin ich zu Frau Kudernatsch, aber die war nicht da. In der Wohnung auch keiner. Ihr nicht da, ich ganz alleine…» Sie war zusammengebrochen, hatte sich zu ihrem Bett hingeschleppt, beim Gedanken an Yemayá («… der Mann, der mich an der Gedächtniskirche angesprochen hatte, dieser eklige… Er wird sie quälen und…») war sie hochgefahren, hatte zwei Valium geschluckt und war wieder auf die Straße gestürzt, ihr Kind zu suchen. «Ich wollte in die Schlüterstraße zu Tatjana… Nur mal mit einem drüber sprechen und damit sie mir beim Suchen hilft… Ich weiß, ich sollte nicht, aber…»

«Nein, mach dir bloß keine Vorwürfe weiter, Jessi… Wir kriegen das schon alles wieder…» Er zog sie an sich, streichelte ihr Rücken und Hals, küßte ihr Haar.

«…an der Post bin ich wohl bei Rot über die Ampel und dann angefahren worden… Jedenfalls bin ich hier im Krankenhaus wieder zu mir gekommen. Vielleicht war’s auch mehr der Kreislauf, daß ich da vor dem Auto hingefallen bin, denn Verletzungen hab ich ja keine weiter…»

«Willst du denn noch hierbleiben…?»

«Nein, ‘s muß doch einer zu Hause sein, wenn sie anrufen.»

Corzelius verstand nicht, was sie meinte. «Wer soll’n da anrufen…?»

«… mit dem Lösegeld!»

«Achso, ja…»

Sie schluchzte auf und schrie: «Aber ich will nicht nach Hause! Wenn ich… mayá nicht dann… Ich halt das nicht aus! Ich spring aus’m Fenster, ich…!»

Corzelius riß sie hoch und schüttelte sie. «Jessi, du darfst jetzt nicht…! Wenn wir das Kind wiederhaben und du dann…!»

Jessica sprang auf und riß ihn mit zum Empfangstresen, bat ihn, ihre Entlassung in die Wege zu leiten.

Als das erledigt war, umständlich genug, fuhren sie mit einer schnell gecharterten Taxe zum Ludwigkirchplatz hinauf, und während Mannhardt kurz auf der Toilette war, fragte Jessica Corzelius, ob man ihn nicht besser in alles einweihen sollte; er als altgedienter Kripomann sei ja doch im Augenblick die einzige Hoffnung, die sie noch hätten. «Unmöglich, daß wir die richtige Polizei da einschalten, dann fliegt doch alles auf mit Wuthenow.» Sie hatte sich wieder insoweit gefangen, daß sie ihre Gedanken in präzise Sätze fassen konnte, und betonte mehrmals, wie sehr sie Mannhardt jetzt brauchten, hatte ein wahnsinnig großes und sicherlich überzogenes Vertrauen in seine Möglichkeiten und Kräfte, sah ihn als Vaterfigur, als einen, der alles wußte, alles konnte, alles durfte. Zum Schreibtisch gehen, sich auf den Schoß setzen, ankuscheln und sagen: Du, Papa, meine Puppe ist weg, kannst du mir mal suchen helfen.

Corzelius hatte Mühe, ihr dabei zu folgen, war doch Mannhardt für ihn zwar ein guter Freund, aber selber hilfsbedürftig, gerade eben noch der Psychiatrie entronnen, vom Fronteinsatz hier in Berlin befreit und der Etappe Bramme überstellt; morsche Eiche und absolut nichts, was imstande war, andern Halt zu geben. Totaler Quatsch, auf Mannhardt zu setzen, sollte sie lieber 110 anrufen und all die Chancen nutzen, die der große Apparat ihr bot. Er redete auf sie ein, er redete ihr zu, doch alles umsonst.

Schließlich schrie er sie an, was denn nun wichtiger sei: Yemayás Leben oder die Karriere dieses «SED-Heinis» da!?

«Daß du so von ihm redest, das laß ich nicht zu!» Nur keine Polizei, nur keine Presse, nur keinen Skandal, um Gottes willen keinen herausfinden lassen, wer Yemayás Vater war. «Ich hab ihm das geschworen, du! Ob ich ihn liebe – oder ob ich ihn hasse, ich weiß es nicht, aber ich wollte das Kind, ich! – und er soll nicht büßen dafür. Als großen Mann soll Yemayá ihren Vater mal erleben und nicht als jemanden, den sie abgehalftert haben, der im Knast gewesen ist, Hilfsarbeiter irgendwo!»

Corzelius schluckte runter, was ihm auf der Zunge lag, daß dies hier keine Bühne war, daß sie spleenig, überdreht, bescheuert sei, doch endlich davon loskommen sollte, auf weiblichen Kinski zu machen, beließ es bei einem eher milden: «Du bist ja vom wilden Wahn besessen…»

«Mein Gott, laß mich doch wahnsinnig sein!» schrie sie ihn an und warf dabei vier, fünf Teller und Tassen an die Wand, ließ sie mit irrem Klang zerspringen. «Wahnsinn ist der Traum eines einzelnen, aber die Vernunft der Wahnsinn aller. Ich will nicht vernünftig sein, ich kann nicht vernünftig sein!» Sie sank auf einen Stuhl und preßte die Stirn auf den Tisch, beruhigte sich erst wieder, als Mannhardt, aufgeschreckt durch den Lärm, in Unterwäsche angelaufen kam, sagte dann mit wieder flackernder Stimme und immer noch einigem Pathos: «Setz dich nieder, du sollst jetzt alles wissen!» War nicht Jessica, spielte Jessica als Rolle, half sich damit, das Schreckliche zu überstehen, konnte sich jederzeit sagen: In Wirklichkeit liegt Yemayá ja hinten im Zimmer, und dies hier ist alles nur ein Stück, wo ich die Mutter bin, der sie das Kind gestohlen haben.

So wurde Mannhardt nun in alles eingeweiht und hatte mit Handschlag zu schwören, nie einem anderen Mitteilung von Wuthenows Doppelleben zu machen: dort linientreuer roter Puritaner, hier mit einer sehr exotischen Geliebten, einem Kleinod durch und durch und einer süßen Tochter in der Wiege. Einer Geliebten zudem, die aus Paraguay kam, wo sie einen deutschen Vater hatte, der ein alter Nazi-Mörder war. Und das war es auch, was Wuthenow zu der Bemerkung veranlaßt hatte, daß seine Tochter leicht tödlich für ihn werden konnte.

Mannhardt fand, daß das alles ein wenig nach Simmel und Konsalik schmeckte, bekam aber von Corzelius sofort ins Stammbuch geschrieben, daß es in dieser Welt auch noch andere Ebenen gab als die seiner Laubenkolonie und der gewöhnlichen Beamtenschaft Berlins. «Vielleicht lieste ab und zu mal wieder Zeitung, Mann!»

«Das Brammer Tageblatt, ja. Letzte Meldung: Russen vor Moskau! Heini Klötenbein bei Kohl-und-Pinkelfahrt von Jauchewagen überrollt!»

Da ging es um Yemayás Leben, und sie blökten sich an; Jessica schmiß vor Wut darüber Stühle um und Hocker, hämmerte mit ihren Fäusten Mannhardt auf die Brust: «Tu doch was, bitte, tu doch was!»

«Was sollen wir denn machen: außer warten, bis das Telefon klingelt…!?»

«Ja, ‘s hat doch keinen Zweck, jetzt blindlings durch die Stadt zu laufen oder einen nach dem anderen anzurufen!»

«Wuthenow!» rief Jessica.

«Der kommt noch ohnehin morgen früh nach West-Berlin rüber; hat er mir vorhin an ‘er Fähre gesagt.»

«Ich kann nicht hier oben sitzen und warten, bis was passiert! Warten, warten, warten!»

Sie geriet nun in eine Phase, in der sie übernervös und furchtbar hektisch war, tausenderlei Dinge auf einmal machen wollte und auch machte: alle Blumen goß sie und putzte das Fenster zum Balkon, schaltete alle drei ihrer Radioapparate ein und ließ sie mit verschiedenen Programmen loslärmen, zerriß alte Zeitungen und stopfte den Abfall vom Morgen in Mülleimer und -sack, saß dann wieder minutenlang konzentriert vor ihrem kleinen Fernseher, wohl in der Annahme, sie würden eine Meldung bringen, Yemayá sei irgendwo gefunden worden.

Das war wie ein Zündfunke, sie sprang auf und stürzte zu Mannhardt und Corzelius hin, die am Überlegen waren, wer, wie und warum…?

«Einer von euch beiden rennt jetzt auf die Straße runter und ruft von ‘er Zelle aus an, ob die Polizei irgendwo ‘n ausgesetztes Baby…!?»

«Warum ‘n von ‘er Zelle aus?»

«Damit sie nicht dahinterkommen, daß wir von hier aus anrufen.»

«Ja, Mensch, da hätten wir schon eher drauf…! Vielleicht haben sie’s schon längst irgendwo wieder…!» Corzelius rannte zur Tür. «Ich ruf mal an, als Journalist, ich kenn da einen bei der Pressestelle, und sag, ich hätt ‘n anonymen Anruf bekommen, daß da einer ‘n Baby mitgenommen und später wieder ausgesetzt hat. Ob da was Wahres dran wäre.»

Schon war er im Treppenhaus draußen, da sprang ihm Jessica hinterher, und beide liefen sie die Treppe hinunter. Mannhardt, schnell ans Fenster getreten, sah sie über die Straße rennen.

Er holte, inzwischen wieder mit Hose, Hemd und Lederjacke bekleidet, seinen Fontane, den Spreeland-Band, aus dem Rucksack heraus, setzte sich neben das weinrote Tastentelefon und wartete, blätterte, um sich abzulenken, von hinten nach vorne und wieder zurück, las per Zufall einiges, so auf der 291 als Kapiteleinleitung einen Zweizeiler, den er irgendwie, verfluchten sie doch in der Bibel andauernd Spötter wie ihn, sehr tröstlich fand: Von allen Geistern, die verneinen, / Ist mir der Schalk am wenigsten verhaßt. Zwei Dutzend Seiten davor war vom Propst Paul Gerhardt die Rede, wie ihm in Mittenwalde (Mark) die ersten Strophen seines großen Liedes des Trostes und des Gottvertrauens Befiehl du deine Wege «entquollen» waren, so Fontane wörtlich, und Mannhardt rümpfte ein wenig die Nase über solches Deutsch, wurde aber, gerade im Zusammenhang mit Yemayás ungewissem Schicksal, merkwürdig angerührt, als er las, mit welchen Worten Gerhardt auf seine Berufung zum «Diakonus» der Berliner Nicolaikirche reagiert hatte: «Siehe wie Gott sorget. Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen.»

Und da geschah es, daß Mannhardt, der alte spöttische Sozi («… wenn jeder, der im Krieg gebetet hat, überlebt hätte…»), gleich einem Schizophrenen eine Stimme in sich hörte, gegen die er nicht ankonnte: «Lieber Gott, laß Yemayá wiederkommen.»

Er sprang auf, goß sich einen Whisky ein, stürzte ihn hinunter, verfluchte sich, daß er, Mitte der Fünfzig, mit seiner Kindheit noch immer nicht klarkam – und hoffte dennoch, daß seine magische Formel ihre Wirkung nicht verfehlte.

In dieser Sekunde begann das Telefon zu schrillen. Er fuhr zusammen, fühlte sich ertappt, verstand zuerst auch gar nicht, warum der rote Plastikkasten da so lärmte, war wie ein abgeschiedener Amazonasindianer, der einen solchen Apparat noch nie gesehen hatte, brauchte etliche Zehntelsekunden, um sich Funktionen und Zusammenhänge wieder klarzumachen, daß da einer war, der… DER KIDNAPPER! Er riß den Hörer hoch.

«Mannhardt, hier bei Criens…!» Ganz förmlich.

Jetzt konnte sich schon alles entscheiden. Doch nur ein hartes Knacken, dann sphärisches Rauschen, eine ungewisse Stille und plötzlich etwas, das in seinem Organismus höchste Alarmstufen auslöste: Babygeschrei.

«Hallo!?» schrie er. «Hallo, wer ist denn da!?»

«…ich bin’s, Entschuldigung! Aber mir ist gerade die Zigarette runtergefallen. Horst, mach doch mal den Fernseher leiser. Da schreit gerade so’n fettes Baby rum…»

«Ach, du bist es nur…»

«Was heißt hier nur?»

Mannhardt hatte Mühe, wieder mit normaler Stimme zu sprechen, seiner großen Erregung wieder Herr zu werden, und dieses um so mehr, als Stefanie, die war es nämlich, mit einer für ihn mehr als belastenden Frage ihr Gespräch fortsetzen wollte.

«Sag mal, vermißt ihr nichts?»

Tausend wirre Gedanken schossen Mannhardt durch den Kopf, legten sein Sprachzentrum sekundenlang lahm. Wie hätte es geschehen können, daß das Baby plötzlich bei Stefanie gelandet war? Gedächtnis verloren… Jessica hatte es zu Steffi rausgebracht und war dann… Sie war ja schon immer kurz vorm Ausflippen gewesen.

«Na, habt ihr wohl noch gar nicht nachgesehen?»

«Nein…» stieß Mannhardt hervor. «Was meinst du denn?»

«Du bist gut!» lachte Stefanie.

«Yemayá…?» fragte er vorsichtig.

«Wieso denn Yemayá…?»

Mannhardt schwitzte. «Ich versteh so schlecht, das ist so leise… Du hast doch gesagt, daß da ‘n Baby bei euch schreit…»

«Nein, das war bei mir im Fernseher!» schrie Stefanie.

«Ach so, entschuldige! Aber warum…?»

«Ich hab eben im Wagen bei mir eure Ausweise gefunden…»

«Ach, Je…!» Richtig, an der Grenze…! Die «Organe» hatten ihre Papiere in zwei Stapeln zurückgegeben, sie Stefanie und Jürgen in die Hände gedrückt und dabei offensichtlich die Wageninsassen verwechselt. «Hast du uns die in der Aufregung gar nicht wiedergegeben…»

«Ja, offensichtlich…»

Sie berieten noch ein Weilchen, wie sie ihre Papiere am leichtesten zurückerlangen konnten, denn für Westberliner Bürger war es Pflicht, ihre Personalausweise stets bei sich zu haben, andernfalls drohte ihnen, siehe alliierte Gesetze, sogar die Todesstrafe; auf dem Papier zumindest. Doch Mannhardt schaffte es nicht, ernsthaft über diese Austauschfrage nachzudenken: zu sehr quälte es ihn, wie normal das Leben anderswo verlief, während sie hier vor Angst und Verzweiflung nicht mehr ein und aus wußten. Yemayá, das durfte nicht sein! Andere gingen doch jetzt ganz ruhig ins Bett, lachten und tranken am Kudamm, knutschten rum und bumsten, schrien auf vor Lust, schliefen friedlich vor dem Bildschirm ein, gingen mit den Hunden ums Karree. Warum denn ausgerechnet wir…!? Alles nur ein böser Traum… Nein, eben nicht.

«Hörst du mir eigentlich noch zu…?»

«Du, entschuldige, ich bin so müde… Die zwanzig Kilometer durch die DDR, der Regen… Wir rufen morgen bei euch an… Du, entschuldige, es klingelt hier – Corzelius und Jessica! Die haben keinen Schlüssel mit! Bis morgen! Grüß Horst schön und…» Er legte auf und lief zur Tür, sah, daß beide gerade eingetreten waren. «Na…!?»

Nichts. Sie hatten ihm nur mitzuteilen, daß der Polizei kein ausgesetztes Baby bekannt geworden sei. «Nirgends eins gemeldet, das irgendwo versteckt, abgegeben oder aufgefunden wäre.»

«… auch kein totes…?» Mannhardt erschrak, das hätte er nicht fragen dürfen, sah mit Entsetzen, wie Jessica zusammenzuckte und in ihr Schlafzimmer lief.

«Idiot!» zischte Corzelius. «Nein!»

«Das ist doch eine gute Nachricht!» rief Mannhardt.

Jessica warf sich aufs Bett, schluchzte, weinte, klagte, schrie; von ihrem Schmerz gefoltert, schlug sie um sich, war von ihrem Cousin kaum noch festzuhalten, so daß er Mannhardt herbeirufen mußte. Der war sich seiner Schuld an diesem Anfall, diesem Ausbruch, diesem Aufschrei wohl bewußt, konnte sich aber andererseits des Gedankens nicht erwehren, daß Jessica vielleicht doch ein wenig überzog, dies hier als Chance zum großen Auftritt nahm, sich und allen einmal zeigen wollte, wie sehr sie doch das Zeug zu einer großen Tragödin hatte. Wie in der Schaubühne, dachte er, wie lange würde sie diese Raserei wohl durchhalten können? Das alles erinnerte ihn auch an seinen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik in Bad Brammermoor, wenn einige der Frauen ihre epileptischen Anfälle bekommen hatten.

Doch nach knapp zwei Minuten war alles vorbei, und Jessica fiel total erschöpft in sich zusammen, blieb wie leblos liegen, verharrte flach atmend in einem wie betäubten Zustand, schlief aber nicht, nur ihr Bewußtsein war in einem Maße abgesenkt, als hätte sie eine Spritze Morphium erhalten.

Corzelius deckte sie zu, ließ eine schwache Nachttischlampe brennen und ging dann mit Mannhardt ins Wohnzimmer zurück; was hätten sie auch anderes tun können?

«Gut für sie, daß ihr Organismus so ‘nen Schutzschalter hat», sagte Corzelius. «Dreht sie wenigstens nicht völlig durch.»

«Das werden auch die Mittel sein, die sie ihr im Krankenhaus gegeben haben», setzte Mannhardt hinzu.

Die beiden Männer, im Ankämpfen gegen ihre Müdigkeit und vollgepumpt mit Kaffee nun überwach und überdreht, hörten die lokalen Sender ab, ob sie was über einen mysteriösen Säuglingsfund brachten, und hielten weiter Telefonwache, hatten Zeit genug dabei, systematisch alles durchzugehen, was irgend möglich war, und kurz vor Mitternacht hatte Mannhardt in alter Kripomanier sieben bunte Zettel mit seinen Notizen bedeckt. Sieben Möglichkeiten, sieben sehr unterschiedliche potentielle Tätergruppen und gänzlich andersartige Motive. Er ging alles noch mal durch und las es vor:

1. (türkisfarbener Zettel): Martin Schmachtenhagen, 30, Beamter in der Bauverwaltung, Jessicas geschiedener Mann. Hat immer wieder behauptet, daß Jessica seine Tochter sei, und damit gedroht, sie eines Tages zu sich zu holen, da sie in Jessicas Kreisen verkommen würde. Motiv: Rettung «seiner» Tochter vor «Spinnern, Schwulen, Krawallos und AIDS-Kranken» (so er letzte Woche zu Corzelius am Telefon). Soll aber seit gestern auf Dienstreise sein, bei ihm zu Hause meldet sich keiner.

2.  (scharlachroter Zettel): Jessicas Bild in den Programmzeitschriften, dabei auf einigen mit ihrem Baby zusammen. Jemand könnte dadurch angeregt worden sein, das Baby zu entführen. Motiv: Lösegeld. Warum ist aber noch kein Anruf erfolgt?

3.  (ziegelroter Zettel): Triebtäter, Motiv: abartige Veranlagung. Vielleicht der Mann, der Jessica an der Gedächtniskirche angesprochen hat. Beschreibung: fett, teigig, aufgedunsen, dunkle Hornbrille, Perücke. Bei Kripo nachfragen. Ebenso bei Jessicas Freundinnen, ob sie etwas beobachtet haben.

4.  (karminroter Zettel): Organisierte Bande in Berlin, die mit Babies handelt? Motiv: Gewinnsucht. Nicht auszuschließen, wenn man an die Preise für deutsche (!) Babies denkt. Bei alten Kollegen nachfragen.

5.  (ockerfarbener Zettel): Die Staatssicherheit, das MfS, steckt dahinter, um Wuthenow abzuschießen. Vielleicht auf einen Anstoß seiner Frau hin. Motiv: politisches Kalkül und persönliche Rache. Das Baby wird «zufällig» irgendwo aufgefunden, und der Presse wird gesteckt, daß es Wuthenows Tochter ist. Daß wir auf unserer Wanderung offensichtlich beschattet worden sind, paßt in dieses Bild (Abschirmung Wuthenows am Tage, als das Unternehmen gestartet werden sollte).

6.  (zitronengelber Zettel): Die Leute, die Grobi/Grobelny er mordet und als zusätzliche Leiche in den Sarg gelegt haben, wollen uns einen Schuß vor den Bug setzen, damit wir mit unseren Nachforschungen aufhören (Artikel über organisierte Kriminalität in Berlin, Recherchen über Bausumme neues Krematorium). Motiv: Absicherung, Deckung erfolgter Straftaten.

7.  (lindgrüner Zettel): Nicht auszuschließen, daß sich Jessica selber ihres Babies entledigt hat und uns nur was vorspielt. Motiv: die Last loszuwerden, völlig frei zu sein im Hinblick auf die große Karriere, auch in Erwartung, überall groß Schlagzeilen zu machen. In ihrem Bekanntenkreis herumfragen, ob es Andeutungen dafür gegeben hat. Die von ihr angegebenen Zeiten und Wege abchecken.

«Das wär’s also fürs erste», sagte Mannhardt, sich wieder aufrichtend. «Mit einer SoKo von vierundzwanzig Beamten haben wir das in einer Woche durchgecheckt.»

«Nun gibt es ja sicher sehr unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten…»

Über die begannen sie nun ausführlich zu diskutieren, bis Mannhardts Konzentration allmählich nachließ und er mitten im Dialog («…keine Polizei, klar, aber ob ich nicht doch einmal bei den alten Kollegen anklopfe und…?») – nach zwei, drei langgezogenen Äh-Lauten – unvermittelt fragte, ob das Riesen-Poster hinten an der Wand, «diese Rinderfarm auf Kuba da», ob die… ob es auf der – «… du weißt schon…!» – passiert sei zwischen Wuthenow und Jessica…?

Corzelius konnte, trotz allem, ein gewisses Grinsen kaum unterdrücken; bestimmte männliche Verhaltensweisen waren halt derart eingeschliffen, daß man sie wie Reflexe hinnehmen mußte, «…direkt dabei war ich nicht. Wie singen sie immer so schön: Zuaschaun moginet…»

«Hättste gerne selber mal…?»

«W. C. wohl kaum, das ist bei uns eher wie ‘n Inzest-Tabu, Bruder-Schwester, ‘s geht einfach nicht richtig, verstehst du. Als sie nach Deutschland gekommen ist, war sie gerade zehn und ich Anfang zwanzig, damals voll auf Gunhild abgefahren. Insofern war es mir auch egal, das heißt, ein bißchen hab ich schon auf ihre Männer gesehen, und diesen Schmachtenhagen fand ich schon zum Kotzen, aber gegen Wuthenow war wenig vorzubringen, als Mensch, mein ich.»

«Du warst mit der SPD da… in Kuba?»

«Ja, eine dieser sogenannten Bildungsreisen. Und Jessi wollte unbedingt mit, weil sie gerade voll auf alles Hispanolische eingeschworen war; offensichtlich ‘ne Folge davon, daß sie in Hamburg in Garcia Lorcas ‹Yerma› ‘ne Rolle kriegen sollte. Ja, wir also beide mit, und gleich am ersten Abend bummeln wir natürlich durch die Altstadt von Havanna, La Habana Vieja, direkt an der Bucht… Por aqui, companeros! Plötzlich – vor dem Revolutionsmuseum, am Standbild des großen Freiheitshelden Maximo Gomez – hören wir deutsche, sächsische Laute. Nu gucke mal da: das Institut für Fragen des Imperialismus, das IFI, die Denkfabrik der SED, zu Gast bei Fidel Catros barbudos. Patria o muerte! Venceremos! Und so weiter. Großartig das alles, die blutsaugerischen Gringos zum Teufel gejagt; doch wir lästern trotzdem. Und am meisten der Top-Genosse Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm Wuthenow, woher, aus der Hauptstadt natürlich. Sehr eindrucksvoll. Sieht aus wie James Bond, quatscht klüger daher als weiland Karlchen Marx, spottet gehoben wie Tucholsky, flirtet mit Jessi herum wie Johannes Heesters in den alten Ufa-Klamotten. Wir gehen essen zusammen und lachen uns tot, als er die berühmte ‹Fruta bomba› bestellen will, die kubanische Papaya-Frucht, aber ‹Papaya› sagt – und das bedeutet auf kubanisch nichts weiter als ‹Möse›. Jessi ist ganz hingerissen, Männer wie ihn gibt es selten bei uns, und als wir vom añejo kosten, dem ‹angejährten› Rum, schreit sie nur noch ‹Papaya› und tanzt auf dem Tisch, doch irgendein verklemmter DIAMAT-Jüngling, irgendeiner von Wuthenows Doktoranden oder Assistenten, schleppt seinen Chef ins Freie hinaus, weil noch ein großer Empfang angesagt ist bei Ramon Castro, dem älteren Bruder Fidels. Wir verabschieden uns draußen unter einem Meer von Transparenten: No bajar nunca la guardia! Niemals in der Wachsamkeit nachlassen! Oder: Trabajar mas y mejor con menos gastos! Mehr und besser arbeiten mit weniger Kosten! Und das schönste: Nada es más importante que un nino…»

«…das heißt?»

Corzelius grinste abermals. «Nichts ist wichtiger als ein Kind!»

«Was sie ja dann auch beide sehr schnell beherzigt haben!» lachte Mannhardt.

«Ja, obwohl zunächst alles so schien, als sei es aus und vorbei. Zehn Tage lang hatten unsere beiden Reisegruppen ganz verschiedene Routen und Ziele, bis wir uns dann per Zufall, weil der IFI-Bus kaputtgegangen war, auf einer großen Rinderfarm in der Nähe von Camagüey wiedergetroffen haben, der ‹Pecuaria Rectangulo›. Abends in Camagüey im berühmten ‹Cabaret Caribe› sitzen Jessi und er dann eng beieinander. Harte Bongo-Rhythmen und Mulatinnen, Mann! Da kannste nur stöhnen. Und unser kubanischer Führer zitiert auch noch ‘n paar Verse von Nicolas Guillen: ‹Dein Becken weiß mehr als dein Kopf und fast so viel wie deine Schenkel›. Wuthenow ist mit seinen Händen schon am Werke, und Jessica möchte sich am liebsten ausziehen und zu der halbnackten Mulattin auf die Bühne springen und zeigen, daß sie auch nicht schlechter ist.»

«Und nachher im Hotel…»

«… da haben dann mehrere Stockwerke gewackelt. Sie nach den drögen Ehejahren mit diesem Stück Holz da, dem Schmachtenhagen, er mit diesem Waldschrat von Frau zu Hause im Bett, unfruchtbar hoch drei. Er, Wuthenow, zwangsneurotisch versessen auf ein Kind, und sie, Jessica, schon immer etwas irre, ist völlig weg bei dem Gedanken, von ihm geschwängert zu werden. Ledige Mutter, autonomes Leben, ist ja mächtig in, aber wer kann als Vater seines Kindes schon einen Spitzengenossen von drüben vorweisen; bald wird er als deren Außenminister in der Welt herumreisen – und vielleicht hat das Schicksal mit ihm noch viel, viel Größeres vor… Da hatten sich jedenfalls auf kubanischer Erde zweie gesucht und gefunden…!»

«… und das mit dem Namen, das hängt damit zusammen…?» fragte Mannhardt noch.

«Ja. In Kuba lebt die alte Yoruba-Kultur, das Afrikanische, noch immer weiter, trotz allem Sozialismus, und Yemayá ist bei den Yorubas die Göttin des Meeres, der heilenden Wasser und – eben – der Mutterschaft.»

«Ah, ja…»

Vielleicht wäre der kubanische Exkurs noch weitergegangen, wenn nicht in dieser Sekunde das Telefon Laut gegeben hätte.

Ihr Atem stockte, sie sahen sich an. Doch noch Motivgruppe 2 (scharlachroter Zettel): der oder die Entführer mit der Lösegeldforderung?

«Nimm du mal ab», sagte Mannhardt. «Mir merkt man unter Umständen zu leicht den Polizisten an.»

Corzelius’ Rechte fuhr zum Hörer hinunter, als hätte sie ein glühend heißes Stück Eisen zu packen. «Ja, bitte…?»

Doch es war kein unbekannter Fremder, es war nur eine von Jessis vielen weiblichen Bekanntschaften, sie als Freundin zu bezeichnen wäre fast zuviel gewesen, obwohl ja Jessica vorhin bei ihrer Suche nach Zuspruch und Hilfe zuerst wohl an sie gedacht hatte. Aber wahrscheinlich nur, weil sie oft ganz in der Nähe in einer Szenen-Kneipe rumhockte.

«Wir wollen noch ‘n bißchen ‹downtown gehen› – kommt ihr mit…?»

«Toll, du, klar!» rief Corzelius mit libidinösem Reflex, denn nach seiner Trennung von Bramme und seiner Frau, dieser ganzen Scheidungsscheiße, hatte er Tatjana, seit er ihr begegnet war, immer wieder als «meine Einstiegsdame in die Droge Sex» bezeichnet, und er hatte sie hier nebenan schon auf der Bettkante gehabt, im Verlaufe einer Party, als Vera, eine andere Freundin aus Jessicas Kreis, auf der Suche nach ihrer Brille hereingekommen war; Rock wieder runter, Hose wieder hoch, und diesem vergeudeten Erregungstropfen weinte er noch immer nach. Die Erinnerung an diese Szene war so stark, daß sie das Elendsbild Jessica-Yemayá einen Pulsschlag lang total verdrängte und er große Mühe hatte, wieder umzuschalten. Als ihm alles wieder klar vor Augen stand – Yemayá entführt, Wuthenow bedroht, so hämmerte es in seinem Kopf, Jessica am Ende – , da schämte er sich, sogar in einer Situation wie dieser egoistisch, egozentrisch an nichts weiter zu denken als an seine Lust, und so korrigierte er sich auf der Stelle, schrie fast in den Hörer, daß er eine Darmgrippe habe, dauernd müsse, auf keinen Fall das Haus verlassen könne.

«Schade, du…» hauchte Tatjana und hatte auch schon wieder aufgelegt.

Wie auch immer, war es der Gedanke an Tatjanas engen Lederrock oder all das Erotische aus Kuba, von dem ihm Corzelius Bericht erstattet hatte: Mannhardt jedenfalls hielt es nicht mehr länger in Jessicas Wohnung; alles schnürte ihn ein, machte ihn fertig. «Ich muß mal raus ins Freie, nach dem Baby suchen, mich mal umhören. Nur hier sitzen und warten, daß…! Du bleibst ja hier bei Jessica.»

«Okay.»

So lief er durch die regennassen Straßen, genoß es, Mitternacht und Geisterstunde, lonely wolf zu sein, stranger in the night, verloren, don’t cry for me, Argentina. Viele Bistros, Pinten, Eßlokale gab es in der Uhlandstraße, Italiener, Türken, Böhmen, Kurden, Libanesen, Brasilianer, und überall saßen und tranken sie noch: all das verloren-glückliche Volk, das am nächsten Morgen nicht um vier, fünf oder sechs wieder aus den Betten mußte, um an Schreibtisch, Werkbank oder Wühltisch, in die Hände gespuckt, ihr und unser Bruttosozialprodukt mehren zu helfen. Der Beamte Mannhardt schalt sie Schmarotzer, Trittbrettfahrer, der Mensch Mannhardt beneidete sie: Gott, das waren doch Gesichter! Autonome Gesichter, nicht diese langweilig-gestylten Visagen der Jungen Union, Formhaarschnitt und Managerglätte darunter. Statt dessen Pickel, Bärte und ein leichter Hauch von AIDS, und ihm fiel ein, daß man als Kripomann heutzutage aufgerufen war, bei Schlägereien, Festnahmen und anderen hoheitlichen Akten mehr auf alle Fälle eines zu vermeiden hatte: den sogenannten Blutkontakt. Bei diesem Gedanken sah er sogleich die beiden größten Helden seiner Jugend vor sich auftauchen, Winnetou/Old Shatterhand, wie sie Blutsbrüder werden wollten – jeder ritzt sich in den Arm und trinkt das Blut des anderen – , aber erst einmal zum AIDS-Test mußten.

Er schreckte hoch, als er einen Mann mit einem Kinderwagen um die Ecke biegen sah, Uhlandstraße/Hohenzollerndamm, und das nachts um drei Viertel eins. Ohne sich weiter zu besinnen, lief er über die Fahrbahn und folgte dem Mann, der in der Tat irgendwie verdächtig wirkte. Nicht eben jung schien er mehr, schlampig gekleidet, beutelnde Hosen, eine sackartig-braune Jacke, viel zu große Schuhe, ging gebeugt, zog das rechte Bein ein wenig nach, und als er sich kurz einmal umdrehte, erkannte Mannhardt auf dem Revers seiner Jacke eine Reihe bunter Orden sowie die Wimpel von Blau-Weiß 90, Bayern München und noch eines andern Bundesligaklubs. Ein armer Irrer also, aber ob er wirklich harmlos war. Zuzutrauen war ihm schon, daß er Jessicas Baby…

Mannhardt geriet in immer größere Erregung, als der Mann nun an der Kreuzung mit der Güntzelstraße hielt und sich nach unten beugte, um das Kind im Wagen irgendwie zu streicheln, zu liebkosen. Genau vorm Schaufenster des Reisebüros «Helios», Ostblockreisen aller Art.

Mannhardt sprang los, legte die dreißig Meter, die ihn vom Kinderwagen trennten, fast in Ben Johnson-Tempo zurück, kam an und riß den Mann zur Seite und war sich seines Instinktes auch diesmal wieder ziemlich sicher, glaubte wirklich, dort unter den rosa Deckchen Yemayá zu sehen, konnte dann aber nicht anders, als mit einem lauten «Oh…!» weiterzulaufen…

… denn im Wagen lag kein Kind, sondern lediglich ein kleiner weißer Hund, ein Westhighland-Terrier.

Selig sind die Bekloppten, denn sie brauchen keinen Hammer mehr; selig sind die Bescheuerten, denn sie brauchen keinen Lappen mehr! Floskeln zur Situationsbewältigung, wie er sie vor fast fünfzig Jahren auf Berliner Schul- und Hinterhöfen gelernt hatte. So was bleibt in dir einprogrammiert, bis sie dich im Krematorium…

Krematorium, ah ja! Dieser Gedanke ließ ihn, ganz logisch, auf Grobi, auf Grobelny kommen, wie ihn Corzelius da mit einer Edelnutte im Sarg gesehen hatte, und das wiederum brachte ihn ebenso folgerichtig auf die Idee, doch mal in der schmucken Kneipe einzukehren, Nähe Kudamm, versteht sich, wo besagter Grobi als honoriger Gastronom um eine gutbürgerliche Identität bemüht gewesen war.

Also: auf, auf! Doch das schafften seine armen Füße nicht mehr, jetzt noch an die zwanzig Minuten bis nach Halensee hochzulatschen, und da er das Taxifahren langweilig fand, von den Kosten mal zu schweigen, ging er die Uhlandstraße so weit hinunter, bis er an den 4er kam, schaute an der Haltestelle nach, ob es noch und wann einen Bus in Richtung Westen/Westend gab. 0.53 kam der nächste, prima!

Er wartete und freute sich, wie der durchgesägte Mond überm Wilmersdorfer Volkspark hing und, so schien es jedenfalls, die Wega jagte. Noch immer überraschend viele Autos huschten, röhrten, preschten vorüber, und er schätzte den Prozentsatz der leicht angetrunkenen Fahrer auf mindestens dreißig bis vierzig; freie Fahrt für freie Bürger.

Es kam der Bus, und er geriet im Unterdeck in eine Klassenfahrt-Horde, ein gutes Dutzend ländlich-hübscher Wessi-Mädchen saß dort schnatternd herum, ließ ihn aufs Oberdeck flüchten, wo vier, fünf männliche Gestalten in den Bänken hingen, an den Fenstern klebten, die allesamt so wirken wollten wie Wim Wenders, wenn er nachts auf Motivsuche war. Als der Bus vor dem Fehrbelliner Platz plötzlich bremste, kullerten diverse leere Bierbüchsen, Flachmänner wohl auch, den Boden entlang.

Mannhardt setzte sich nach vorne ans Fenster, auf seinen Lieblingsplatz seit Kindheitstagen, ließ die bunten Farben und Formen, als der Bus nun wieder an Tempo gewann, auf sich einschlagen wie der Raumfahrer in Stanley Kubriks 2001-Weltraumodyssee. Nur eine halbe Flasche Beaujolais fehlte ihm jetzt noch, dann wäre er völlig glückselig gewesen; doch auch so schon war es herrlich.

Bis unten spitze Schreie ertönten und der Fahrer so stark bremste, daß Mannhardt gewaltig gegen die Frontscheibe krachte.

«Du alte Sau, du!» hörte er rufen. «Gleich den Schwanz ab und kastrieren. Rufen Sie sofort die Polizei!»

Was war passiert? Ein Herr mittleren Alters, auf der hinteren Bank sitzend, hatte seine Hose aufgeknöpft und den jungen Damen sein erigiertes Glied gezeigt. Zwei Männer hielten ihn jetzt fest, während der Busfahrer die Türen blockiert und per Funk die Polizei gerufen hatte.

Mannhardt blieb oben und wartete geduldig, hörte die angehenden Filme-, Lieder- und Nichtsmacher hinter sich lästern, daß Berlin zur Jubelfeier seiner 750 Jahre eben viel zu bieten habe und daß man den Mann doch laufen lassen sollte, denn eine Kette sei nun mal nicht stärker als ihr schwächstes Glied.

Der Streifenwagen kam, und Mannhardts Kollegen taten etwas zur Auffüllung der Kriminalstatistik; er selber erfreute sich an den grün-weißen Farben des Kombis, denn die erinnerten ihn an Bramme und sein neues Leben dort, wie denn über die Assoziation grün-weiß und Werder Bremens wackeres Bundesligateam, dessen Spiele zu Hause er vom nahen Bramme aus allesamt verfolgen wollte.

Weiter ging es, und nach kurzer Zeit erreichten sie den Bahnhof Halensee, S-Bahn stillgelegt, um der CDU-lichen Berliner Betonmafia weitere U-Bahn-Tunnel und noch mehr Autostraßen zu bescheren, Henriettenplatz, Kurfürstendamm am oberen Ende. Er stieg aus und suchte, ging ein paar Schritte Richtung Innenstadt und Zoo und wieder zurück; hier oben irgendwo mußte doch Grobelny seinen Schuppen haben…?

Während er noch überlegte, fühlte er, wie sich, lächerliches Klischee, aber dennoch Wirklichkeit, in seinen Rücken etwas Hartes bohrte, direkt neben der Wirbelsäule, und bevor sie ausgesprochen waren, hörte er die Worte schon: «Ganz ruhig, keine Bewegung, folgen sie uns!»

Antrainierte Reaktion: Toter Käfer. Nichts denken, nichts sagen, nur noch ganz mechanisch tun, was einem vorgegeben wurde. Wer? Warum? Was weiter? Gedankenfetzen: Yemayá, Wuthenow, die unheilbringende Frau am Dolgensee unten, der Fluch der alten Wendengötter…

Er wartete darauf, daß sie ihn in einen schnell geholten Wagen stießen, fürchtete, in einem unbekannten Spiel wider Willen und ohne eigenes Wissen zu einem Stein, einer Figur geworden zu sein… Der bringt uns alles durcheinander, eliminieren! Der Lada gestern in der DDR, der ABV, MfS und BND, CIA und MI 5. In West-Berlin, wo anders sonst, war immer mit so was zu rechnen. Und Mannhardt rechnete ganz instinktiv mit dem Schlimmsten.

Doch schallendes Gelächter.

Er fuhr herum.

Koch stand da, Teamgefährte vergleichsweise glücklicher Jahre, Held der Discos und der Aschenbahn, nun auch schon angejahrt, mit blonder Kräuselmähne jetzt, das große Kind geblieben, aber nun mit Mannhardts Posten betraut. Daneben, fast fünfzehn Jahre jünger, Thomas Hundt, ihr Parade-Intellektueller, der Herr Diplom-Kommissar von der Fachhochschule im Kudamm-Karree.

«Mann, habt ihr mich erschreckt, ihr Ärsche!» sagte Mannhardt. «Was lungert ihr denn hier herum?»

«Wir lungern hier nicht herum, wir widmen uns mit voller Hingabe unserm Dienste an Volk und Vaterland!» tönte Koch, und man konnte ihm seinen erfolgreich absolvierten Fortbildungslehrgang in Hiltrup schon anmerken.

«Aktion Sesamstraße», fügte Hundt hinzu.

«Wie?»

«Grobi! Da drüben ist sein Domizil gewesen, und wir wollen mal sehen, wer da noch so alles kommt, um auf den lieben Verblichenen einen zu heben. Es geht ja das Gerücht, daß er sich langsam absetzen wollte.»

Mannhardt begann sich zu räuspern, setzte auch schon an zu seiner Beichte, daß er privat Kontakt zu Grobi aufgenommen hatte, teils zur Ergänzung seines Fachartikels, teils als Recherchiergehilfe des C. C. ließ es aber wieder bleiben, wollte keinen neuen Ärger in Berlin.

Es fing nun wieder an zu schütten, und da sie keine Regenschirme hatten oder mochten, flüchteten sie sich in Kochs nahebei geparkten Wagen, dabei die «Tunneleule», so der Name des Grobelnyschen Nobelrestaurants, immer im Auge.

Hundt, zu jung, um das zu wissen, fragte, was denn eine «Tunneleule» sei, und wurde von Mannhardt belehrt, daß es sich dabei um einen berlintypischen U-Bahn-Wagen handele, Bauart B 1, entstanden Mitte der zwanziger Jahre, so genannt wegen der beiden ovalen Führerstandsfenster, fügte noch hinzu, daß er als Kind in solchen Wagen des öfteren auf der Linie C zwischen Seestraße und Grenzallee hin und hergefahren sei, war noch wach genug, auch sogleich die Chance zu nutzen, über die «Tunneleule» und ein persönliches Erlebnis zu dem zu kommen, worüber er die beiden Kollegen gerne aushorchen wollte.

«… da bin ich mal mitten im Berufsverkehr, alles voll bis oben ran, zu meiner Oma gefahren, ‘n paar Kartoffeln ausborgen, acht oder neun muß ich da gewesen sein, da hat mir im Gedränge die ganze Zeit über einer am Pimmel rumgespielt und mich dann gefragt, ob ich ihm nicht seine Tasche die Treppen hochtragen kann… Hab ich nicht, mein Schutzengel… Aber manchmal wach ich heute nachts noch auf und denke dran, was wohl mit mir passiert wäre, wenn ich damals mitgegangen wäre…»

«Hätte dein Bruder deine abgelegten Sachen schon etwas eher auftragen können», sagte Koch. «War doch schön für ihn gewesen.»

«Immer dieser Zynismus!» sagte Hundt und fügte einen Uraltmauerspruch hinzu: «Wer früher stirbt, ist länger tot…»

«Müßte ich also schon über vierzig Jahre tot sein…» Mannhardt stöhnte auf. «Aber sagt mal, was gibt’s denn im Augenblick so in Berlin an Delikten dieser Art: Delikte an Kindern, Päderastie…? Oder daß man mit Babies Handel treibt…?»

«Wieso?» fragte Koch. «Haste so was vor…?»

«Quatsch! Ich muß da in Bramme an der HÖV ‘n Kurs drüber machen.»

«Keine Ahnung, was da Sache ist», sagte ihm Hundt. «Am besten, Sie sprechen mal direkt mit den Kollegen, die da…»

«Hallo, wer kommt denn da!?» rief Koch dazwischen und zeigte zu Grobis «Tunneleule» hinüber, wo in Begleitung einiger mannequinschöner Frauen ein Männlein auf die Straße trat, das ein wenig an den Hadschi Halef Ben Omar des Ralf Wolter denken ließ, Karl May verfilmt, und dennoch Eindruck machte, Mannhardt später von Aura und Charisma sprechen ließ, dem Gestank des großen Geldes, von einer Körpersprache, die signalisierte, daß der Mann über unheimlich viel Macht und Einfluß verfügte; triumphierendes Kikeriki eines prachtvollen Hahnes. Ein Napoleon mit schütterem Haar, blond gelockt, schmaler Goldrandbrille, Anfang Vierzig, sehr zerbrechlich wirkend.

«Wer is’n das?» Mannhardt war fasziniert von diesem Menschen, wußte genau, daß Männer wie der diese Stadt beherrschten, die CDU-Regierung fest in ihren Händen hatten.

«Den EG-Etzel, kennste den nich?» Koch zeigte sich verwundert.

«Nee, woher denn, ich war doch übern Jahr lang in Bad Brammermoor.»

«Etzel, Ernst-Günther – daher das EG, genannt Attila…»

Mannhardt lachte: «… den ich mir aber immer ‘n bißchen anders vorgestellt habe!»

«Das is ja wohl auch der Witz an der Sache!»

«Und was zeichnet den aus?»

«Daß er der Chef der UCP is, der Upward Consult Berlin – Anlageberatung, Baubetreuung et cetera», wußte Hundt, doch das war auch schon alles.

Schweigend und neidvoll sahen sie zu, wie Attila seinen Harem in einen alten Bentley steckte und mit ihm weiterfuhr; Kir Royal à la Berlin.

Von den Damen angemacht, rief nun Hundt bei seiner neuen Freundin an, die sich ebenfalls der Kripo übereignet hatte und zur Stunde gerade ihren Nachtdienst bei Direktion City versah.

«Hallo, Marion, haste ‘n Augenblick Zeit für mich und ‘n bißchen Bettgeflüster…?»

«Nee, du, tut mir leid, hier is gerade mächtig Hektik.»

«Was is’n passiert?»

«In der Knesebeckstraße, an ‘er S-Bahn haben sie eben ‘n totes Baby gefunden…»