16.

 

 

 

Mannhardt stand in Jessicas Küche und briet sich Spiegeleier. Von Brat- und Pellkartoffeln einmal abgesehen, gab es in seiner ganzen Single-Zeit kaum ein Gericht, in dessen Zubereitung er sich derart perfektioniert hätte wie beim Spiegelei, ja, später sollte er diesen Abschnitt seines Lebens als «meine Spiegelei-Phase» bezeichnen.

Während die drei gelben Dotteraugen von ihm in der Pfanne langsam ihre Konsistenz veränderten, philosophierte er über ihr bisheriges Versagen Yemayá betreffend. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Varianten waren da im Spiel, und sie waren da im selben Maße überfordert wie sein neuer Schachcomputer, wenn Kasparow ihn getestet hätte. Zu viele Spuren – und kein Team, keine Sonderkommission, jeder einzelnen zu folgen, das war ihr Dilemma. Drei Tage und Nächte hindurch hatten sie es mit all ihren Kräften allein versucht; und waren offenbar gescheitert: mehr man power mußte her, die Kollegen waren einzuschalten. Das aber hieß, daß man Wuthenow sehr bald im Visier haben würde, denn es gab Bilder von der Kuba-Reise, auch im Westen hier, auf denen er an Jessis Seite abgelichtet worden war, Arm in Arm. Ob er dann, kam alles heraus, wirklich Selbstmord beging, um sich so allen Folgen zu entziehen? Der Schach von Wuthenow hatte es getan, um dem Spotte seines Standes zu entgehen; konnte der Genosse Wuthenow denn anders handeln?

Im Klartext hieß das wohl, daß sie Wuthenow opfern mußten, um Yemayá zu retten.

Entscheiden mußten sie das alle, alleine konnte er es nicht. Doch die beiden anderen, Jessi und Corzelius, waren schnell zum Arzt gegangen, neue Tranquilizer fassen. Blieb ihm also nichts anderes, als weiter zu warten.

Er drehte das Gas auf die kleinste Flamme herunter und sah sich nochmals jene bunten Zettel an, die sie in der ersten Nacht beschrieben hatten. Was hatte sich da jeweils ergeben?

1.  Der türkisfarbene Zettel: Martin Schmachtenhagen, Jessicas geschiedener Mann. Trotz bundesweiter Fahndung nach ihm noch immer keine Spur. Wahrscheinlich in einen der vielen Bauskandale verwickelt. Hatte er seine Tochter mit ins Ausland genommen? Keine Antwort möglich.

2.  Der scharlachrote Zettel: Eine «ganz normale» Entführung, angeregt dadurch, daß in einigen Programmzeitschriften Jessica mit ihrem Kind abgebildet worden war. Aber warum hatten der oder die Entführer noch nicht angerufen? Keine Antwort möglich.

3.  Der ziegelrote Zettel: Ein Triebtäter, der Mann, der Jessi angesprochen hatte. Keine neuen Erkenntnisse darüber.

4.  Der karminrote Zettel: Leute, die unfruchtbaren, aber reichen und kindsüchtigen Müttern für viel Geld Babies beschafften. Keine neuen Erkenntnisse darüber.

5.  Der ockerfarbene Zettel: Die Staatssicherheit drüben, das MfS, um Wuthenows Ende einzuläuten. Wenn er an sein finsteres Weib und John F. die Türkenstraße, dachte, mußte er dem eine Wahrscheinlichkeit von gut und gerne 45 % einräumen. Er fragte sich auch immer wieder, ob er wirklich glauben sollte, was Wuthenow Jessica auf deren Frage hin erklärt hatte: Ja, seine Frau sei in West-Berlin gewesen, hätte mit einer sowjetischen Diplomatenfrau zusammen verschiedene Einkäufe getätigt, wie öfter wohl schon, aber nichts davon verlauten lassen, daß da ein Baby mitgewesen sei. Aber ausgeschlossen werden könnte dies nicht. Auch in einem schwarzen Volvo, sicher, aber nicht in seinem. Die Nummern zum Verwechseln ähnlich, ja. Daß aber seine eigene Frau Yemayá…? Ausgeschlossen! Doch was war auf dieser Welt schon gänzlich aus zuschließen…?

6.  Der zitronengelbe Zettel: Die Ehrenmänner, die Grobi aus dem Verkehr gezogen und dann auf Corzelius geschossen hatten, um zu verhindern, daß irgendein Super-Saustall ruchbar wurde. Ob sie, um Corzelius, um ihn zu stoppen, auch Yemayá…? 45 % schrieb er auch hier mit dem Bleistift dahinter. Was auch erklärt hätte, warum man sie so lange schmoren ließ.

7.  Der lindgrüne Zettel: Jessica selber. Sie hatte die Psyche dazu, ihre Tat völlig zu verdrängen, und die darstellerischen Gaben, ihnen die vom Schicksal arg gebeutelte Mutter überzeugend vorzuspielen; vom PR-Effekt, wenn nun doch die Presse Wind von allem kriegte, einmal ganz zu schweigen. Hohe Restwahrscheinlichkeit, knappe zehn Prozent.

Das Resümee war deprimierend: Zweimal eine Wahrscheinlichkeit von 45, einmal von zehn Prozent, so schien es, aber diese Rechnung war natürlich Quatsch, weil sich die Quoten, was die anderen vier Varianten anging, einfach nicht berechnen ließen.

Mannhardt warf die bunten Zettel in den Obstkorb zurück.

«Da hilft nur noch beten!» wiederholte er – oder alle Apparate waren einzuschalten, im doppelten Sinne. Die Staatsmaschinerie war in Bewegung zu setzen, siehe Raster-, siehe Schleppnetzfahndung, aber auch mit Hilfe millionenfach eingeschalteter TV-Geräte nach Yemayá zu suchen.

Vorne im Berliner Zimmer klingelte das Telefon; er stürzte hin. Vor dem Abheben setzte er noch das kleine Tonbandgerät in Gang, das Corzelius nun endlich vom Sender mitgebracht und mittels eines speziellen Adapters angeschlossen hatte.

Es war Koch, sein alter Freund und Spezi.

«Du, gut, daß du mich da angerufen hast, noch mal, vorhin… Der Staatsschutz möchte dich mal sprechen wegen dieser Sache da. Die sind gleich hellhörig geworden. Sag mal, hat der Nachbar dich denn echt bedroht…?»

«Ja, nein. Als ich bei… bei dem Tietz durch’n Briefschlitz geguckt habe, da steht er plötzlich hinter mir, und ich hatte so den Eindruck, so das Gefühl, weißte, daß er gerade zuschlagen wollte… Mit dem Kantholz, das er in der Hand hatte. Kann aber auch Zufall gewesen sein, weil er gerade beim Basteln war…»

«Du sollst jedenfalls mal vorbeikommen, weil sie da gewisse Erkenntnisse vorliegen haben…»

Mannhardt hatte aufgehorcht. «Was ‘n für welche…?»

«Harn se mir auch nich auf de Nase gebunden, aber nach allem, was sie so angedeutet haben, kannste getrost einen drauf lassen, daß der Tietz und sein Gegenüber für die ‹Firma› drüben arbeiten.»

«Oh…!» Mannhardts Ausruf bezog sich sowohl auf den Inhalt dieser Mitteilung wie auf den Brandgeruch, der ihn jetzt schwallartig von der Küche her erreichte. «Mensch, mir sind die Eier angebrannt!»

«O Süßer!» flötete Koch. «Daß dich die kleine Plauderei mit mir so heiß gemacht hat…!»

Mannhardt warf den Hörer auf die Gabel und lief zur Küche zurück, kämpfte sich nach Art unerschrockener Feuerwehrmänner durch Rauch und Qualm zum Brandherd vor, riß die Pfanne vom Gas, trug sie zur Spüle, ließ kaltes Wasser auf die verkohlten Eiweißreste laufen und sprang dann hustend zum Fenster, riß es auf und ließ seinen «Scheiße»-Ruf durch den Innenhof schallen.

Die Spiegelei-Phase… War sie damit zu Ende gegangen, war das alles als gutes Omen zu nehmen?

Erneutes Telefongeklingele brachte ihn um das Glück, dies mittels weiterer Reflexionen zu klären. Band ein, ganz automatisch. «Bei Criens, ja bitte…!?» Und sofort war auch er voll eingeschaltet, denn Stimmen dieser Art kannte er aus Dutzenden von realen wie Schulungsfällen: Da war ein Deutscher, der alles daransetzte, wie ein Italiener, wie ein Araber zu klingen.

«Wir haben das Kind… Yemayá, so heißt er doch?»

«Sie! Ja…»

«Für fünfzigtausend Mark können ihr haben es zurück, du verstehen?»

«Soviel haben wir nicht.»

«Mutter große Schauspielerin, hat genug, kriegt von Bank!» Der Mann schien sich auszukennen, und Mannhardt brauchte Sekunden, die nächste Frage in Worte zu fassen, denn von irgendwoher schien er diese Stimme zu kennen. «Ja, sagen Sie…?»

«Ich kenne deine Tricks! Aber wenn du Polizei, dann alles aus!»

«Nein, nein, keine Polizei!» Mannhardt schluckte, hatte Mühe, diesen an sich ja außerordentlich albernen Dialog als das zu nehmen, was er war: ein Stück Realität, bei dem es um das Leben eines kleinen Kindes ging, aber auch um das Schicksal, das Lebensglück, einiger anderer Menschen. «Sagen Sie… Beweise! Wir brauchen natürlich Beweise dafür, daß Yemayá noch lebt und daß Sie sie haben…!»

«Habe ich gefertigt Film von Baby mit hinten Fernseher drauf.»

«Und wie sollen wir wissen, von wann das ist…?»

«Ist Fernsehen on, an, Nachrichten, Heute, mittags, 13 Uhr…»

«Ah, ja…» Mannhardt sah auf seine Quarzuhr, die 13:48 zeigte. «Und wie bekommen wir Ihren Film?»

«Ist noch nicht entwickelt, ist Super-8. Kodak/Stuttgart zu weit, zu lange…»

«Wo liegt er denn?»

«Mußt du nachsehen in deine Briefkasten, Ludwigkirchstraße!»