10.
Mannhardt wirbelte in Jessicas Wohnung herum, als trainierte er dafür, Hausmann des Jahres zu werden, räumte auf und saugte Staub, scheuerte Kloschüssel und Waschbecken derart blitzblank, daß es für jeden Werbespot gereicht hätte, reinigte Töpfe, Pfannen, Herd und Spüle und stopfte alles, was sie seit gestern abend wild verstreut hatten, in Schränke und Laden zurück, tat das alles wütend, penibel und hektisch, gleichermaßen aber auch irgendwie beschwingt und lässig, fragte sich ununterbrochen, warum denn das so war. Wollte er Jessica zeigen, wie tüchtig er war? Wollte er, indem er innen Ordnung schuf, die Außenwelt dazu anregen, auch ihrerseits wieder Ordnung zu schaffen, also für Yemayás Rückkehr zu sorgen? Wollte er mit diesem Aktionismus einen erneuten Kurzschluß in seiner eigenen Psyche verhindern?
Denn ein jedesmal, wenn er Jessica sah, wurde er schmerzhaft an seine Zeit in der psychiatrischen Klinik erinnert. Seit über einer Stunde saß sie nun starr und aufrecht da, schien mit unsichtbaren Schnüren fest an die hohe Lehne ihres hölzernen Stuhles gebunden, ließ ihn, zumal das Stück von einer Hazienda kam, an Indio-Frauen denken, wie sie gottergeben auf den Märkten hockten, vor allem aber bestimmte Patientinnen, denen er begegnet war. Ausreichend autodidaktisch gebildet, konnte er sofort die Diagnose Stupor stellen, bewegungsloser Zustand. Antriebslosigkeit, Impulsverlust als Folge einer schweren Schreckreaktion. Patientin ißt nicht, spricht nicht, reagiert auf keine Außenreize, ist jedoch noch immer bei vollem Bewußtsein. Sie war ihm ja schon immer als manisch-depressiver Mensch erschienen, und das traumatische Erlebnis von gestern hatte die depressiven Symptome ganz offenbar um ein Vielfaches verstärkt. Eher manisch einzuordnen war ihr Ausbruch als tragische Euripides-Figur, als Hekabe, wo sie ihn an eine schmächtigdunkelhaarige Frau erinnerte, die Tobsuchts-Uschi vom Haus IV, die während ihrer Anfälle immer alles zerrissen und zerschlagen hatte. Jetzt allerdings, mit der Veragutschen Falte, dem Knick im Oberlid, grau und farblos im Gesicht, voller leerer Angst, im dauernden Weinen ohne jede Träne, da wirkte sie auf ihn wie Oma Schmoll, eine Bäuerin vom Rande des Moors, der ein abgestürzter Düsenjäger in Sekunden ihre fünfköpfige Familie ausgelöscht hatte.
Kam die Nachricht vom Tod ihrer Tochter, dann war für Jessica schnellstmöglich ein Platz in einer Klinik zu suchen, und wenn sie bei ihm in Bramme war, konnte er sie immer besuchen.
Während er im Flur eine durchgebrannte Glühbirne auswechselte, war er für Minuten wieder auf dem ausgedehnten Klinikgelände, sah Jochen Schmittchen, wie ihn seine großen epileptischen Anfälle blitzartig trafen und zu Boden warfen, zucken ließen und schreien, als hinge er an einem Starkstromkabel, bis er dann endlich das Bewußtsein verlor und in einen viele Stunden dauernden Dämmerzustand verfiel; mußte er an Trudchen denken, die in ihren postepileptischen Dämmerzuständen immer in religiöse Ekstase verfiel, Halluzinationen hatte und beim Jüngsten Gericht anwesend war; hatte auch Professor B. vor Augen, einen echten Hochschullehrer, Krankheitsbild Katatonie, der immer Stimmen aus dem Weltall hörte, die ihm befahlen, eine neue Arche Noah zu bauen, und jede Ansammlung von mehr als drei Menschen sofort nutzte, von seiner großen Mission zu reden und die Leute um Spenden anzubetteln; hörte Jens-Otto, einen Imbezillen, leicht mikrozephal, wie er die Sonntagspredigt ihres Anstaltspfarrers noch Tage danach wortwörtlich wiedergeben konnte; besann sich auch auf Rübe, Krankheitsbild Oligophrenia, und wie Corzelius und er immer wieder über die Idee gejuchzt hatten, einen Mann wie ihn in höchste Ämter zu hieven, und wie spät man das erst merken würde.
Die neue Lampe brannte, und er hatte wider Erwarten nicht mal einen Kurzschluß ausgelöst, auch keinen Schlag bekommen, nahm das als gutes Zeichen.
Er hätte gern mit Jessica geredet, doch sie war auch jetzt nicht ansprechbar. Es drehte sich ja sowieso alles im Kreise. Hatte Schmachtenhagen das Baby mitgenommen? Möglich oder auch nicht. Hatte es Wuthenows Frau im Auto in die DDR gebracht? Möglich oder auch nicht. Gab es wirklich eine kriminelle Gruppe, die mit entführten Babys Handel trieb? Möglich oder auch nicht. Hatten die Mörder Grobis Yemayá aus dem Kinderwagen gehoben, um Corzelius und ihn bei ihren Recherchen zu bremsen? Möglich oder auch nicht.
Kein Wunder, daß sich Jessicas Organismus bei dieser Sachlage ganz einfach abgeschaltet hatte.
Mannhardt zögerte: durfte er das, konnte er das, jetzt ganz einfach zu ihr hingehen und sie an sich ziehen? Wie seine Tochter? Es wäre nicht so schwer gewesen, wenn er sich nicht oft genug Jessica als Lustobjekt gedacht hätte, einfach gebraucht, um endlich wieder Erektionen zu verspüren, sich zu vergewissern, daß es immer noch ging, gegangen wäre.
Endlich schaffte er es, dies beiseite zu schieben, Begierde wie Schuld, und zu ihr zu gehen, sich neben sie auf den Rand des rustikalen Stuhles zu setzen und sie ganz fest in die Arme zu nehmen. Er war erschrocken, wie schlaff, kalt und leblos sie war, glaubte, eine Tote zu umfassen.
«Laß nur, es wird ja alles wieder werden…»
Plump kam er sich vor, kleiner, grauer Beamter, spießbürgerlich miefend, ohne Möglichkeiten, Situationen wie diese zu meistern. Wenn dies ein Film gewesen wäre, hätten die Männer ganz anders gewirkt: klüger, einfühlsamer, wortgewandter; nicht derart wie ein Psychotrampel.
Seine Phantasie lief ihm davon: Yemayá tot, und er bringt Jessi in die Brammer Klinik, besucht sie täglich, baut sie wieder auf und rettet sie, holt sie raus und lebt mit ihr, wird ihr väterlicher Freund und Manager…
Hinten auf dem Bord lag Lilos Brief, die Frau Reiseleiterin aus Fuerteventura auf TUI-Papier. «Lieber Jürgen, nun zögere ich wieder, meine geliebte Insel gegen Bramme zu tauschen, Sonne gegen Nebel, meine Freiheit gegen die Enge unserer Küche im Reihenhaus in Uppekamp… Kannst Du das verstehen…? Komm Du doch her, warum denn immer ich? Gib mir Zeit, versuche, Deine Entscheidungen noch einmal zu prüfen…»
War dieser Brief das endgültige Ende, und war Jessica ein neuer Anfang?
Ihre Erstarrung löste sich allmählich, sie preßte ihr Gesicht an seinen Körper, die Stirn an seine Halsschlagader, und er küßte ihre Haare, strich ihr sanft und in langen Bahnen über den Rücken. Seine Augen wurden feucht. Sie vertraute ihm, sie brauchte ihn, sie hatte keine Angst vor ihm. Wenn ich dir bloß helfen könnte. Du hilfst mir doch schon.
So saßen sie lange und sahen auch keinerlei Grund auseinanderzustieben, als Corzelius die Wohnung betrat.
«Das ist gut, daß du sie tröstest…»
«Noch immer nichts…?» fragte Mannhardt.
«Nein…» Corzelius warf seine abgewetzte Tasche auf den Boden, einen ledernen Ranzen aus der Schulzeit seines Vaters, Bramme 1927, von ihm selber umgerüstet und immer wieder neu geflickt. «Ich war in diesem fürchterlichen Matscho und hab mit Tatjana gesprochen, die kriegt doch überall was mit…»
«Und?»
«Diese Chantal kannte sie schon, aber als ich dann mit Grobi angefangen habe, da hat sie abgeblockt. Angeblich keine Ahnung. Dann hab ich leise angedeutet, daß du und Lilo, daß ihr gerne ‘n Kind adoptiert hättet, aber Angst habt vor der ganzen Prozedur… Daß die Behörden Bedenken haben könnten wegen deiner… Zeit in der Klinik. Ob sie da nicht ‘n Weg wüßte, auch so an ein Kind heranzukommen – das Geld dazu, das hättet ihr. Aber hat sie gar nicht drauf reagiert. Als dann noch nebenan ‘n Baby geschrien hat, bin ich fast versucht gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen.»
Jessica saß noch immer da wie ein autistisches Kind, völlig abgekapselt von der Welt, total mit sich allein.
«Jetzt beginnt die zweite Nacht…» sagte Mannhardt.
«Trotz allem: ich muß was essen…» Corzelius ging in die Küche hinaus und riß diverse Schränke auf. «Du, wo hast ‘n die Pfanne gelassen, ich will mir ‘n paar Spiegeleier machen…?»
«Die is noch in ‘er Spüle, die muß noch abgetrocknet werden.»
«Da is keine!»
«Wart mal, ich komm mal gucken…!» Mannhardt löste sich von Jessica, lief über den Flur und mühte sich mit Corzelius zusammen, die Pfanne zu finden.
Trotz Sommerzeit war es nun schummrig geworden, und um Jessica nicht in Dämmerlicht und Dunkelheit sitzen zu lassen, noch verlorener, hatte Mannhardt im Hinausgehen schnell die Deckenleuchte eingeschaltet, und unter ihren dreihundert Watt war Jessica, von ihm nicht mehr bemerkt, so zusammengezuckt, als wäre sie einem Elektroschock ausgesetzt worden. Und während die beiden Männer am anderen Ende der Wohnung, durch acht Meter Flur getrennt von ihr, lärmend ihre Utensilien suchten, saß sie zitternd da, wurde von Schüttelfrost und Krämpfen gepackt, konnte ihre Schmerzen nur ertragen, wenn sie aufsprang, sich bewegte. So schlimm diese Sekunden auch waren, es kehrte wieder Leben in ihren Körper zurück, ihre Stimmung schlug um, ihr Zustand wurde tendenziell wieder manisch, sie fühlte sich plötzlich von ungeahnten Kräften erfüllt.
Schon war sie an der Tür zum Flur und schrie den Männern zu, daß alles Scheiße sei, was sie beide bis jetzt gemacht hätten. «…Yemayá – keine Spur von ihr! Ihr beide könnt doch tausend Jahre suchen, ohne was zu finden. Macht mal endlich was Vernünftiges: der eine ruft die Bullen an, der andere alarmiert die Presse. Wenn morgen Bilder in ‘er Zeitung sind und die Abendschau was bringt, sucht ganz Berlin nach ihr. Millionen Augen sehen mehr als zwei!»
Mannhardt und Corzelius kamen aus der Küche gelaufen, den langen Flur hinunter und hielten vor ihr. Einerseits erleichtert, daß sie wieder Reaktionen zeigte, andererseits erschrocken darüber, wie hysterisch-heftig sie war.
«Das wäre Wuthenows Ende!» rief Corzelius. «Das wissen wir doch, das willst du doch nicht!»
«Erst kommt mein Kind!»
Mannhardt nahm Partei für sie. «Vielleicht hat sie recht, und unsere Kräfte reichen nicht. Ist denn das wirklich so schlimm, wenn wir Presse und Polizei einschalten und dabei sagen, daß du der Vater bist…?»
Corzelius stampfte mit dem rechten Fuß auf den Boden. «Ja, das ist es!»
«Quatsch!» Mannhardt sah ihn böse an. «Meinst du denn, da rennt wirklich einer zum Standesamt hin und sieht nach, ob du als Vater eingetragen bist? Oder er holt sich Blut und Samen von dir für’n Vaterschaftstest!?»
«Wie witzig! Aber kannst du dir möglicherweise vorstellen, daß alle Zeitungen das bringen: Jessica nächste Woche ganz groß aufm Bildschirm – und nun ihr Baby verschwunden, und daß Gunhild das sogar in Bramme lesen wird…!? Die Scheidung läuft doch noch, und wie steh ich denn da!? Wie oft darf ich ‘n dann meine eigene Tochter mal bei mir haben!?»
«Schön, aber bei Yemayá, da geht’s doch nun wirklich um mehr, da geht’s um alles!»
«Bei Wuthenow und mir, da geht’s auch um alles! Wir finden die Kleine auch so!»
«Ja, wann denn!?» schrie Jessica. «Ihr seid doch viel zu dämlich dazu! Mit dem Mund vorneweg, aber sonst…»
«Nu hör mal, das ist nun wirklich ungerecht! Seit vierundzwanzig Stunden sind wir ununterbrochen…»
«Darum ja! Darum ja müssen jetzt auch andere…»
«Dir geht’s ja nur um Reklame für dich!» schrie Corzelius. «Daß du mal so richtig im Mittelpunkt stehst, daß alle dich kennen!»
«Danke für den Tip!» Jessica sprang in das Berliner Zimmer zurück, schlug die Tür so schnell und krachend zu, daß die beiden Männer dies unmöglich noch verhindern konnten, und drehte dann sowohl Riegel wie Schlüssel herum. «Ich ruf jetzt an, da könnt ihr machen, was ihr wollt!»
Corzelius warf sich mit aller Macht gegen die Tür, seine Schultern als Rammbock benutzend, doch es war dickes, sehr solides Holz, und er hatte keine Chance mehr.