12. KAPITEL

Lysander saß in der hintersten Reihe der Burgkapelle in Budapest, nicht wahrnehmbar, und beobachtete, wie Bianka ihren Schwestern und Freundinnen half, den Raum für die Hochzeit zu schmücken. Im Augenblick war sie dabei, eine Blumengirlande ins Deckengewölbe zu hängen. Ohne Leiter.

Schon tagelang folgte er ihr, konnte ihr einfach nicht fernbleiben. Und eines fiel ihm immer wieder auf: Sie redete und lachte, als ginge es ihr gut, aber das Funkeln war aus ihren Augen verschwunden – und der Schimmer von ihrer Haut.

Und das hatte er ihr angetan. Schlimmer noch, kein einziges Mal in dieser Zeit hatte sie geflucht, gelogen oder gestohlen. Auch das war seine Schuld. Er hatte ihr gesagt, sie sei seiner nicht wert. Er hatte sich zu sehr geschämt – tat es immer noch, oder? –, um seinem Volk von ihr zu erzählen.

Jedenfalls konnte er nicht leugnen, dass sie ihm fehlte. Alles an ihr. So viel wusste er. Sie war aufregend, forderte ihn heraus, frustrierte ihn, verzehrte ihn, zog ihn an, ließ ihn empfinden. Ohne sie wollte er nicht sein.

Etwas Weiches streifte seine Schulter. Er konnte kaum den Blick von Bianka lösen, um zur Seite zu sehen und Olivia neben sich zu entdecken.

Was war nur mit ihm los? Er hatte sie nicht kommen hören. Normalerweise waren seine Sinne immer wach, er war immer in Alarmbereitschaft.

„Warum hast du mich hergerufen?“, fragte sie. Nervös blickte sie sich um. Dunkel umrahmten ihre Locken ihr Gesicht, in ein paar Strähnen waren Rosenknospen geflochten.

„Nach Budapest? Weil du sowieso immer hier bist.“

„Genau wie du in letzter Zeit“, entgegnete sie trocken.

Er zuckte mit den Schultern. „Bist du gerade aus Aerons Zimmer hergekommen?“

Zögernd nickte sie.

„Raphael ist zu mir gekommen“, erzählte er ihr. Am Tag, als er Bianka verloren hatte. Am schlimmsten Tag seines langen Daseins.

„Die Blumen da sind nicht mittig, B“, rief die rothaarige Kaia und zog seine Aufmerksamkeit auf sich, sodass er die Predigt an seinen Schützling unterbrach. „Häng sie ein bisschen weiter nach links!“

Bianka stieß ein frustriertes Seufzen aus. „So?“

„Nein. Von mir aus links, du dumme Nuss.“

Grummelnd gehorchte Bianka.

„Perfekt.“ Kaia strahlte zu ihr hinauf.

Darauf zeigte Bianka ihr nur den Mittelfinger. Lysander grinste. Der Einen Wahren Gottheit sei Dank, dass er ihr Temperament nicht vollkommen erstickt hatte.

„Ich finde sie auch perfekt“, schaltete ihre jüngere Schwester Gwendolyn sich ein.

Bianka ließ den Deckenbehang los und fiel zu Boden. Nach der Landung richtete sie sich sofort auf, als hätte der Aufprall ihr nicht das Geringste ausgemacht. „Ein Glück, dass die Prinzessin auf der Erbse endlich mal mit etwas zufrieden ist“, murmelte sie. Lauter fügte sie hinzu: „Ich verstehe nicht, wieso du nicht einfach wie eine zivilisierte Harpyie in einer Baumkrone heiraten kannst.“

Gwen stemmte die Fäuste in die Hüften. „Weil ich immer davon geträumt habe, in einer Kapelle zu heiraten wie jeder normale Mensch. Wäre jetzt irgendwer so nett, die Nacktbilder von Sabin von der Wand zu nehmen? Bitte.“

„Warum willst du die denn abnehmen, wo ich mir doch gerade solche Mühe gegeben hab, sie aufzuhängen?“, fragte Anya, Göttin der Anarchie und Gefährtin von Lucien, dem Hüter des Todes, deutlich beleidigt. „Die bringen genau den richtigen Pfiff in etwas, das ansonsten eine verdammt langweilige Veranstaltung wäre. Auf meiner Hochzeit wird’s in jedem Fall Stripper geben. Echte.“

„Langweilig? Langweilig?!“ Zorn legte sich auf Gwens Züge, ihre Augen wurden tiefschwarz, ihre Zähne scharf.

Diese Verwandlung hatte Lysander bereits mehrfach an ihr gesehen. Allein in der letzten Stunde.

„Es wird überhaupt nicht langweilig sein“, sagte Ashlyn, Gefährtin von Maddox, dem Hüter der Gewalt, beruhigend. „Es wird wunderschön.“

Die Schwangere strich sich über den prallen Bauch. Ihr Bauch war größer, als er in diesem Stadium ihrer Schwangerschaft sein sollte. Doch niemand schien es zu bemerken. Es würde ihnen wohl noch früh genug auffallen. Lysander hoffte nur, sie waren bereit für das, was sie da austrug.

Wie würde Biankas Kind wohl aussehen, fragte er sich plötzlich. Wäre es eine Harpyie wie sie? Oder ein Engel wie er? Oder eine Mischung aus beidem?

Ihm fuhr ein Stich ins Herz und setzte sich in seiner Brust fest.

„Langweilig?“, fauchte Gwen erneut, offensichtlich nicht bereit, die Beleidigung durchgehen zu lassen.

„Toll!“ Bianka warf die Arme in die Luft. „Los, irgendwer soll Sabin herschaffen, bevor Gwennie uns alle abschlachtet.“

Eine Harpyie in Rage konnte sogar andere Harpyien verletzen, das wusste Lysander. Und als ihr Gemahl war Sabin, Hüter des Zweifels, der Einzige, der sie beruhigen konnte.

Bei diesem Gedanken neigte er den Kopf zur Seite. Bianka habe ich nie ausrasten sehen, wurde ihm in diesem Moment klar. Sie hatte alles als Spiel gesehen. Oh, nicht ganz. Einmal war sie wütend geworden. Als Paris ihn geschlagen hatte. Lysander war ihr Feind gewesen, und trotzdem war sie wütend geworden, als ihm Schaden zugefügt worden war.

Er hatte sie beruhigt.

Das Stechen wurde stärker, sodass er sich das Brustbein rieb. War er Biankas Gemahl? Wollte er es sein?

„Spart euch die Suche. Ich bin hier.“ Sabin kam durch die Flügeltüren hereinmarschiert. „Als würde ich mich mehr als ein paar Meter entfernen, wenn sie so empf… äh, nur falls sie mal meine Hilfe braucht. Gwen, Baby.“ Bei den letzten Worten hatte er die Stimme gesenkt, sanfter gesprochen. Er streckte die Hände aus und zog sie an seine Brust; sofort schmiegte sie sich an ihn. „Das Wichtigste morgen ist, dass wir zusammen sind. Stimmt’s?“

„Lysander“, sagte Olivia und lenkte seine Aufmerksamkeit fort von dem Pärchen, das jetzt Zärtlichkeiten austauschte. „Es fällt mir schwer, so zu warten. Raphael ist zu dir gekommen und … wie weiter?“

Lysander seufzte und zwang sich zur Konzentration. „Beantworte mir zuerst ein paar Fragen.“

„Na gut“, stimmte sie nach kurzem Zögern zu.

„Warum magst du Aeron, obwohl er so anders ist als du?“

Sie drehte den Stoff ihres Gewands in den Händen. „Ich glaube, ich mag ihn, weil er so anders ist als ich. In tiefster Dunkelheit ist er trotzdem stark geworden, hat sich einen Funken Licht in seiner Seele bewahren können. Er ist nicht perfekt, nicht ohne Schuld, aber er hätte sich seinem Dämon schon lange hingeben können. Stattdessen kämpft er immer noch. Er beschützt die, die er liebt. Seine Leidenschaft für das Leben ist …“ Ein Schauer durchlief sie. „Überwältigend. Und ehrlich, nur wenn sein Dämon die Kontrolle übernimmt, verletzt er Leute – und auch nur, wenn sie böse sind. Die Unschuldigen lässt er in Frieden.“

Bei Bianka war es genauso. Und dennoch hatte Lysander versucht, ihr Scham einzuflößen. Scham, obgleich sie stolz sein sollte auf das, was sie erreicht hatte. Dass sie selbst in der Dunkelheit stark war, wie Olivia es ausgedrückt hatte. „Und es ist dir nicht peinlich, dass unsere Brüder und Schwestern von deiner Zuneigung zu ihm wissen?“

„Aeron soll mir peinlich sein?“ Olivia lachte. „Wo er doch stärker, entschlossener, lebendiger ist als jeder andere, den ich kenne? Natürlich nicht. Ich wäre stolz, mich seine Frau nennen zu können. Nicht dass es je dazu kommen wird“, fügte sie traurig hinzu.

Stolz. Da war dieses Wort wieder. Und diesmal machte es Klick bei ihm. Ich werde nicht dein sündiges Geheimnis sein, Lysander, hatte Bianka gesagt. Daraufhin hatte er sie daran erinnert, dass sie auch all ihre anderen Sünden im Geheimen beging. Warum dann nicht das mit ihm? Die Antwort war sie ihm schuldig geblieben, doch jetzt kam ihm die Erkenntnis. Weil sie stolz auf ihn gewesen war! Weil sie mit ihm hatte angeben wollen!

Wie auch er sich hätte wünschen sollen, mit ihr anzugeben.

Jeder andere Mann wäre stolz gewesen, an ihrer Seite zu stehen. Sie war schön, intelligent, witzig und lebte nach ihrem eigenen Moralkodex. Ihr Lachen war lieblicher als Harfengesang, ihr Kuss so süß wie ein Gebet.

Er hatte in ihr nur die Brut Luzifers gesehen, doch in Wahrheit war sie ein Geschenk der Einen Wahren Gottheit. Er war ein solcher Narr.

„Habe ich deine Fragen zu deiner Zufriedenheit beantwortet?“, hakte Olivia nach.

„Ja.“ Sein rauer Tonfall überraschte ihn. Hatte er alles zwischen ihnen unwiderruflich zerstört?

„Dann beantworte du mir nun ein paar.“

Er konnte seine Stimme nicht finden, also nickte er nur. Er musste das in Ordnung bringen. Musste es wenigstens versuchen.

„Bianka. Die Harpyie, die du beobachtest. Liebst du sie?“

Liebe. Er machte sie in der Menge aus, und das Stechen in seiner Brust wurde unerträglich. Gerade malte sie mit einem dicken Filzstift einen Schnurrbart auf eins der Bilder von Sabin, während Kaia weiter unten … andere Dinge hinzufügte. Kaia kicherte, während Bianka wirkte, als würde sie bloß tun, was von ihr erwartet wurde, ohne jede Freude daran.

Er wollte, dass sie glücklich war. Dass sie wieder so war, wie er sie kennengelernt hatte.

„Du denkst, sie wäre dir peinlich“, fuhr Olivia fort, als er nicht antwortete.

„Woher weißt du das?“ Mühsam zwang er die Worte heraus.

„Ich bin – oder war – eine Glücksbotin, Lysander. Es war meine Aufgabe, zu wissen, was Leute fühlen, und ihnen dann zu helfen, die Wahrheit zu erkennen. Denn wahre Freude findet man nur in der Wahrheit. Du hast dich nie für sie geschämt, Lysander.

Ich kenne dich. Du schämst dich für nichts. Du hattest einfach nur Angst. Angst, dass du nicht das bist, was sie braucht.“

Seine Augen wurden groß. Konnte das stimmen? Er hatte versucht, sie zu ändern. Hatte versucht, sie zu dem zu machen, was er war … sodass ihr gefiel, was er war? Ja. Ja, das ergab einen Sinn, und jetzt verspürte er zum zweiten Mal in seinem Dasein Selbsthass.

Er hatte Bianka gehen lassen. Während er im gesamten Himmelreich Lobgesänge über sie hätte anstimmen sollen, hatte er sie verstoßen. Es gab keinen größeren Narren als ihn. Ob der Schaden nun irreparabel war oder nicht, er musste versuchen, sie zurückzugewinnen.

Er sprang auf. „Ja, das tue ich“, sagte er. „Ich liebe sie.“ Er wollte die Arme um sie werfen. Wollte vor aller Welt hinausposaunen, dass sie zu ihm gehörte. Dass sie ihn als ihren Mann erwählt hatte.

Doch ihm sanken die Schultern hinab. Erwählt. Das war das Schlüsselwort. In der Vergangenheitsform. Noch einmal würde sie ihn nicht erwählen. Zweite Chancen gibt es bei mir nicht, hatte sie gesagt.

Sie lügt oft

Zum ersten Mal brachte ihn der Gedanke, dass seine Frau gerne log, zum Lächeln. Vielleicht hatte sie auch in dieser Hinsicht gelogen. Vielleicht würde sie ihm eine zweite Chance geben. Eine Chance, ihr seine Liebe zu beweisen.

Und wenn er auf die Knie gehen müsste, er würde es tun. Sie war seine Versuchung, doch das musste nichts Schlimmes sein. Es könnte sich als seine Rettung erweisen. Letzten Endes hatte sein Leben ohne Bianka keine Bedeutung. Für sie galt dasselbe. Sie hatte ihm gesagt, dass er ihre Versuchung war. Genauso konnte er ihre Rettung sein.

„Danke“, sagte er zu Olivia. „Danke, dass du mir die Wahrheit gezeigt hast.“

„Immer wieder gern.“

Wie sollte er an Bianka herantreten? Wann? Ihn erfüllte ein Gefühl der Dringlichkeit. Am liebsten hätte er es sofort getan. Doch als Krieger wusste er, dass manche Schlachten gut geplant werden mussten. Und da dies die wichtigste Schlacht seiner Existenz war, würde er sich den besten Plan aller Zeiten zurechtlegen.

Wenn sie ihm vergab und entschied, dass sie mit ihm zusammen sein wollte, hätten sie immer noch einen schweren Weg vor sich. Wo würden sie leben? Seine Pflichten lagen im Himmelreich. Sie fühlte sich auf der Erde am wohlsten, nah bei ihrer Familie. Zusätzlich war Olivia dazu bestimmt, Aeron zu töten, der ab morgen praktisch Biankas Schwager sein würde. Und wenn Olivia sich dagegen entschied, würde ein anderer Engel auserwählt, es zu tun.

Höchstwahrscheinlich würde das Lysander sein.

Eins hatte seine Gottheit ihm jedoch beigebracht: Wahre Liebe konnte alles überwinden. Nichts war stärker. Sie konnten es schaffen.

„Und schon bist du wieder woanders“, stellte Olivia lachend fest. „Bevor du davonstürzt, verrate mir noch, warum du mich hergerufen hast und was Raphael zu dir gesagt hat.“

Ein Teil seiner Freude verpuffte. Während Olivia ihm soeben Hoffnung gegeben und ihn auf den richtigen Weg geführt hatte, musste er ihr nun jegliche Hoffnung auf ein glückliches Ende für sie und Aeron nehmen.

„Raphael ist zu mir gekommen“, wiederholte er. Tu es einfach, sag es! „Er hat mir erzählt, dass der Rat unzufrieden mit dir ist. Er hat gesagt, dass dein anhaltender Widerstand sie langsam ermüdet.“

Verschwunden war ihr Lächeln. „Ich weiß“, flüsterte sie. „Es ist nur … Ich kann mich einfach nicht überwinden, ihm wehzutun. Wenn ich ihn beobachte, erfüllt mich das mit Freude. Und nach so vielen Jahren treuer Dienste habe ich ein wenig Freude verdient, oder etwa nicht?“

„Natürlich.“

„Wenn er tot ist, werde ich niemals die Dinge tun können, von denen ich jetzt träume.“

Er runzelte die Stirn. „Was für Dinge?“

„Ihn berühren. Mich in seine Arme schmiegen.“ Eine kurze Pause. „Ihn küssen.“

Das waren wahrhaftig gefährliche Wünsche. Oh, wie gut er ihre Macht kannte. „Wenn du diese Dinge nie erlebst, ist es leichter, dem Begehren zu widerstehen“, versuchte er ihr zu erklären. Doch zugleich verabscheute er die Vorstellung, dass dieser wundervollen Frau etwas entging, nach dem sie sich sehnte.

Er könnte im Rat um Vergebung für Aeron bitten, doch das würde nichts bringen. Ein Erlass war ein Erlass. Ein Gesetz war gebrochen worden, also musste jemand dafür bezahlen. „Schon sehr bald wird der Rat gezwungen sein, dich vor die Wahl zu stellen. Deine Pflicht oder dein Sündenfall.“

Sie starrte auf ihre Hände, mit denen sie wieder ihr Gewand bearbeitete. „Ich weiß. Ich weiß nicht, warum ich immer noch zögere. Er würde mich sowieso nie begehren. Die Frauen hier sind alle aufregend, gefährlich. So kriegerisch wie er. Und ich bin …“

„Kostbar“, schnitt er ihr das Wort ab. „Du bist ein unbezahlbarer Schatz. Denk niemals etwas anderes.“

Sie schenkte ihm ein zittriges Lächeln.

„Ich habe dich immer geliebt, Olivia. Es wäre mir unerträglich, zu sehen, wie du alles für einen Mann aufgibst, der gedroht hat, dich zu töten. Du weißt doch, was du verlieren würdest, oder?“

Wieder verblasste ihr Lächeln, als sie nickte.

„Du würdest direkt in die Hölle stürzen. Die Dämonen dort unten werden sich um deine Flügel reißen. Auf die Flügel gehen sie immer als Erstes los. Du wirst nicht länger unempfindlich gegen Schmerzen sein. Du wirst furchtbare Qualen leiden, und trotzdem wirst du dich aus der Unterwelt freigraben müssen – oder dort zugrunde gehen. Deine Kraft wird erschöpft sein. Dein Leib wird nicht von allein heilen. Du wirst zerbrechlicher sein als ein Mensch, weil du nicht unter ihnen aufgewachsen bist.“

Auch wenn er sich selbst zutraute, so etwas zu überleben, glaubte er nicht, dass Olivia es könnte. Sie war zu zart. Zu … behütet. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich jeder Aspekt ihres Lebens um Glück und Freude gedreht. Nie hatte sie etwas anderes kennengelernt.

Zu ihr wären die Dämonen der Hölle sogar noch grausamer als zu ihm, dem Mann, den sie mehr als jeden anderen fürchteten. Sie war alles, was sie hassten. Durch und durch gut. Eine solche Unschuld und Reinheit zu zerstören, würde sie begeistern.

„Warum erzählst du mir das?“ Ihre Stimme bebte. Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Weil ich nicht will, dass du die falsche Entscheidung triffst. Weil ich will, dass du weißt, womit du es zu tun hast.“

Einen Augenblick lang blieb es still, dann sprang sie auf und warf ihm die Arme um den Hals. „Ich liebe dich, das weißt du, oder?“

Fest drückte er sie an sich, denn er spürte, das war ihre Art, sich zu verabschieden. Er spürte, es war das letzte Mal, dass sie so miteinander reden konnten. Doch er würde sie nicht aufhalten, egal für welchen Weg sie sich entschied.

Sie löste sich von ihm und strich sich das blendend weiße Gewand glatt. „Du hast mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Ich lasse dich nun also mit deiner Frau allein. Möge die Liebe dich immer begleiten, Lysander.“ Bei ihren letzten Worten breitete sie die Flügel aus. Aufwärts und davon flog sie, glitt durch die Decke – und durch Biankas Blumen –, bevor sie verschwand.

Er hoffte, sie würde ihren Glauben wählen, ihre Unsterblichkeit, und nicht den Hüter des Zorns, fürchtete jedoch, es würde anders kommen. Sein Blick schweifte zu Bianka, die nun den Mittelgang entlang zum Ausgang spazierte. An seiner Bank blieb sie stehen und runzelte die Stirn, bevor sie den Kopf schüttelte und ging. Hätte er zwischen ihr und seinem Ruf und Lebensstil wählen müssen, hätte er sich für sie entschieden, das wurde ihm nun klar.

Und es wurde Zeit, ihr das zu beweisen.