8. KAPITEL

Als Allererstes, nachdem Bianka gebadet, sich angezogen, eine Tüte Chips gegessen, die sie in ihrer Küche versteckt hatte, sich die Nägel lackiert, eine halbe Stunde Musik gehört und ein Nickerchen in ihrem Geheimkeller gemacht hatte, rief sie Kaia an. Nicht dass sie den Anruf gefürchtet oder vor sich hergeschoben hätte. All die anderen Sachen waren nötig gewesen. Wirklich.

Außerdem war es ja nicht so, als würde ihre Schwester sich immer noch Sorgen um sie machen. Paris hätte ihr längst erzählt, was los war. Bianka wollte lediglich nicht über Lysander reden. Wollte nicht mal nachdenken über ihn und das Chaos, das er in ihrer Gefühlswelt anrichtete – und in ihrem Körper und ihren Gedanken und in ihrem gesunden Harpyienverstand.

Nach ein bisschen Rummachen mit ihm hatte sie verflucht noch mal bei ihm bleiben, sich in seinen Armen zusammenrollen, Liebe machen und schlafen wollen. Und das war inakzeptabel.

Sobald ihre Schwester abnahm, erklärte sie: „Ihr braucht keine Willkommensparty für mich zu schmeißen. Ich bleib nicht lange.“ Frag mich nicht nach dem Engel. Frag mich nicht nach dem Engel.

„Bianka?“, murmelte ihre Schwester benebelt.

„Hast du von jemand anders mitten in der Nacht einen Anruf erwartet?“ Hier in Alaska war es sechs Uhr früh. Da sie mehrfach von einem an den anderen Ort gereist war, seit Gwen mit Sabin zusammengekommen war, wusste sie, dass es in Budapest drei Uhr nachts war.

„Jep“, erwiderte Kaia. „Hab ich.“

Echt jetzt? „Von wem?“

„Von tausend Leuten. Gwennie, die zum ultimativen Brautzilla mutiert ist. Sabin, der sein Bestes tut, um das Monster zu besänftigen, sich aber ständig bei mir ausheult, als würde mich das interessieren.“ Sie plapperte weiter, als wäre Bianka nie entführt worden und als hätte sie sich nie Sorgen gemacht. Na gut, sie hatte geglaubt, Bianka wolle sich nur vor ihren Pflichten drücken. Aber war ein bisschen Sorge zu viel verlangt? „Anya, die beschlossen hat, dass sie auch eine Hochzeit verdient. Nur größer und besser als die von Gwen. William, der mit mir schlafen will und kein Nein gelten lässt. Er ist nicht von einem Dämon besessen, also nicht mein Typ. Soll ich weitermachen?“

„Ja.“

„Halt die Klappe.“

Sie malte sich aus, wie Kaia in einer Baumkrone lag, grinsend, während sie sich das Handy ans Ohr drückte und versuchte, nicht runterzufallen. „Also, Spaß beiseite, du hast geschlafen? Während ich verschwunden war, mein Leben in höchster Gefahr? Na, du bist mir ja ’ne liebende Schwester.“

„Also bitte. Du hast ein bisschen Urlaub gemacht, das wissen wir beide. Also sei nicht so anstrengend. Ich hatte einen … aufregenden Tag.“

„Im Bett mit wem?“, fragte sie trocken. Es war nur zwei Wochen her, dass sie Kaia gesehen hatte. Dennoch durchflutete eine Woge von Heimweh sie plötzlich – oder eher Schwesterweh. Diese Frau liebte sie mehr als sich selbst. Und das wollte etwas heißen!

Kaia kicherte. „Ich wünschte, es gäbe einen Wem. Ich warte drauf, dass sich zwei von den Herren um mich streiten. Dann tröste ich sie beide. Aber bisher hatte ich kein Glück.“

„Idioten.“

„Ich weiß! Aber ich hab ja erwähnt, dass Gwen sich in die Braut aus der Hölle verwandelt hat, oder? Die haben Angst, ich würde mich genauso benehmen wie sie. Deshalb traut sich keiner, es mal bei mir zu probieren.“

„Die Braut aus der Hölle? Inwiefern?“

„Ihr Kleid hat nicht richtig gesessen. Ihre Servietten hatten nicht die richtige Farbe. Niemand hat die Blumen, die sie will. Uäh, uäh, uäh.“

Das klang so gar nicht nach der gelassenen Gwen, wie alle sie kannten. „Lenk sie ab. Erzähl ihr, die Jäger hätten mich entführt und mir die Hände abgenommen wie Gideon.“ Gideon, Hüter der Lügen. Er war ein sexy Krieger, der sich das Haar so blau färbte, wie seine Augen waren, und der einen teuflischen Sinn für Humor hatte.

Die Vorstellung, ihn zu verführen, machte ihr längst nicht so viel Spaß, wie es noch vor ein paar Wochen der Fall gewesen wäre. Blöder Engel. Denk nicht an ihn.

„Du könntest vollkommen zerstückelt sein, es würde sie nicht interessieren. Du bist zu sehr wie ich. Und offensichtlich nehmen wir die Dinge nicht ernst genug und haben deshalb verdient, was wir kriegen“, erklärte Kaia. „Die treibt mich verdammt noch mal in den Wahnsinn! Und als Sahnehäubchen auf diesem Haufen Scheiße war ich auch noch dabei, unser Versteckspiel zu verlieren. Warum hast du jetzt eigentlich beschlossen, dich zu retten? Ich sag dir, in den Wolken hast du bessere Überlebenschancen als hier bei Gwen.“

„Überleben am Arsch. Hat keinen Spaß mehr gemacht.“ Eine Lüge. Gerade hatte sich das zwischen ihr und Lysander genau so aufgeheizt, wie sie es gewollt hatte. Aber wie hätte sie ahnen können, dass es sie plötzlich in solche Angst versetzen würde?

„Kluger Zug, übrigens. Dich in die Wolken verschleppen zu lassen, wo ich nicht an dich rankommen kann. Brillant.“

„Total, oder?“

„Also war es die Hölle? Von einem sexy Engel davongetragen zu werden?“

Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger und rief sich Lysanders Gesicht vor Augen. Das Begehren, das von ihm ausgegangen war, als sie ihn bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt hatte, war überwältigend gewesen. Du willst nicht über ihn reden, schon vergessen? „Ja. Es war die Hölle.“ Höllisch schön.

„Bringst du ihn zur Hochzeit mit nach Buda?“

Die Worte waren spöttisch gewesen, ganz klar ein Witz, aber Bianka hörte sich rufen: „Nein!“, bevor sie wusste, wie ihr geschah. Eine Harpyie, die mit einem Engel zusammen war? Inakzeptabel!

Außerdem wäre es dämlich, einen Krieger aus dem Himmel mitten unter die dämonenbesessenen Herren der Unterwelt zu bringen. Nicht dass sie Angst um Lysander hätte. Der konnte schon auf sich aufpassen, kein Problem. So, wie er sein Feuerschwert aus der blanken Luft hervorholen konnte, gab es da keinen Zweifel. Aber sollte Gwennies kostbarem Sabin irgendwas zustoßen, zum Beispiel, ach, eine Enthauptung vielleicht, würde das den Festlichkeiten schon einen ziemlichen Dämpfer verpassen.

„Aber ich werde kommen“, fügte sie in ruhigerem Ton hinzu. „Du weißt schon, irgendwie muss ich ja. So als Trauzeugin und so.“

„Oh, Hölle, ganz sicher nicht. Das bin ich, schon vergessen?“

Langsam breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. „Du hast gesagt, du würdest dich lieber von einem Bus überfahren lassen, als Brautjungfer zu werden.“

„Ja, aber ich will wichtiger sein als du, also … hier bin ich, direkt in Budapest, und helfe Gwennie, die Zeremonie zu planen. Nicht dass sie meinen Vorschlägen Beachtung schenken würde. Würde es sie umbringen, wenigstens mal drüber nachzudenken, als Dresscode ‚nackt‘ anzugeben?“

Gemeinsam lachten sie.

„Tja, wir beide können ja nackt kommen“, sagte Bianka. „Das macht das Ganze mit Sicherheit spannender.“

„Geht klar!“

Einen Moment blieb es still.

Dann stieß Kaia den Atem aus. „Also, dir geht’s gut?“, fragte sie, und endlich lag ein Hauch von Besorgnis in ihrem Tonfall.

„Klar.“ Und es stimmte. Oder würde stimmen. Hoffentlich bald. Alles, was sie tun musste, war, herauszufinden, was sie wegen Lysander unternehmen sollte. Nicht dass er versucht hatte, bei ihr zu bleiben, der Arsch. Er hatte gar nicht schnell genug von ihr wegkommen können. Ja, gut, dann hatte sie ihn eben weggestoßen. Aber nach allem, was sie für ihn getan hatte, hätte der Kerl ruhig um ihre Zuneigung kämpfen können.

„Du lässt den Engel dafür bezahlen, dass er dich ungefragt mitgenommen hat, oder? Ach, wem mache ich was vor? Klar wirst du das. Wenn du bis nach der Hochzeit wartest, helf ich dir. Bitte, bitte, lass mich helfen. Ich hab da ein paar Ideen, die dir bestimmt gefallen. Stell dir mal Folgendes vor: Es ist Mitternacht, dein Engel ist an dein Bett gefesselt, und wir reißen ihm jede einen Flügel aus.“

Nicht schlecht. Aber weil sie nicht wusste, ob Lysander zusah und lauschte – tat er es? Es war möglich, und allein beim Gedanken daran wurde ihr warm –, erwiderte sie nur: „Mach dir darum keine Sorgen. Mit dem bin ich fertig.“

„Moment, was?“, japste Kaia. „Du kannst nicht mit ihm fertig sein. Er hat dich entführt. Dich gefangen gehalten. Na gut, er hat mit Paris in Öl gecatcht. Und ich bin sauer, weil ich das nicht sehen konnte, aber das ist keine Entschuldigung für sein Verhalten. Wenn du ihn ungestraft davonkommen lässt, wird er glauben, das wäre okay. Er wird dich für schwach halten. Er wird sich wieder an dich ranmachen.“

Ja. Ja, das wird er, dachte sie und musste plötzlich ein Grinsen unterdrücken. „Nein, wird er nicht“, log sie. Hörst du zu, Lysander, Baby?

„Bianka, sag mir, dass du den nicht magst. Sag mir, dass du nicht auf einen Engel scharf bist.“

Abrupt erlosch ihr Grinsen. Das war genau das Thema, das sie hatte vermeiden wollen. „Ich bin nicht scharf auf einen Engel.“ Noch eine Lüge.

Noch eine Pause. „Ich glaube dir nicht.“

„So ein Pech.“

„Mom hat geglaubt, Gwens Dad wäre ein Engel, und sie hat es all die Jahre bereut, mit ihm geschlafen zu haben. Die sind einfach zu gut. Zu … anders als wir. Engel und Harpyien sind nicht füreinander gemacht. Sag mir, dass du das weißt.“

„Natürlich weiß ich das. So, ich muss aufhören. Sag Brautzilla, sie soll dich nicht so hart rannehmen. Hab dich lieb, wir sehen uns bald“, antwortete Bianka und legte auf, bevor Kaia noch etwas sagen konnte.

Trotz ihrer Angst vor den Gefühlen, die Lysander in ihr weckte, war sie noch nicht fertig mit ihm. Nicht annähernd. Aber bisher war sie in seinem Revier und dadurch im Nachteil gewesen. Wenn er nicht hier war, musste sie ihn herbringen. Bereitwillig.

Ich habe ihm gesagt, er soll mich in Ruhe lassen, erinnerte sie sich, und das könnte zum Problem werden. Bloß …

Mit einem Jubelschrei sprang sie auf und drehte sich im Kreis. Es würde nicht im Geringsten ein Problem darstellen. In Wahrheit war es sogar ein Segen und sie war schlauer, als sie gedacht hatte. Indem sie ihm gesagt hatte, er solle ihr fernbleiben, war sie unweigerlich zur verbotenen Frucht geworden. Natürlich war er hier und beobachtete sie.

Männer konnten nie tun, was man ihnen sagte. Nicht einmal Engel.

So. Einfach.

Besser noch, sie hatte ihm eine Kostprobe davon gegeben, wie es wäre, mit ihr zusammen zu sein. Er würde sich nach mehr verzehren. Außerdem hatte sie ihm nicht erlaubt, sie zu befriedigen. Sein Stolz würde nicht zulassen, dass sie lange unbefriedigt blieb, da er doch so süße Erfüllung gefunden hatte.

Und sollte das nicht der Fall sein, wäre er nicht der männliche Krieger, für den sie ihn hielt. Dann hätte er sie nicht verdient.

Wie lange würde es wohl dauern, bis er sich zeigte? Sie waren erst seit einem halben Tag getrennt, und schon vermisste sie ihn.

Vermisste ihn. Uff. Sie hatte noch nie einen Mann vermisst. Vor allem keinen, der sie ändern wollte. Keinen, der verabscheute, was sie war. Keinen, den sie nur als Feind bezeichnen konnte.

Du musst ihm aus dem Weg gehen. Du willst in seinen Armen schlafen. Du wolltest ihn beschützen, als er mit Paris gekämpft hat. Er hat dich wütend gemacht, und du hast ihn trotzdem nicht umgebracht. Und jetzt vermisst du ihn? Du weißt, was das bedeutet, oder?

Ihre Augen weiteten sich, ihre Aufregung war fort. Oh, Götter, sie hätte es sehen müssen … Hätte es wenigstens vermuten müssen. Vor allem, als sie ihn beschützt und ihn verteidigt hatte.

Lysander, ein kreuzbraver Engel, war ihr Gemahl.

Die Knie gaben unter ihr nach, sodass sie zu Boden plumpste. Nie im Leben hatte sie damit gerechnet, je einen zu finden. Denn, na ja, ein Gemahl war ein vom Schicksal vorbestimmter Ehemann. In manchen Nächten hatte sie davon geträumt, dem ihren zu begegnen, ja, aber sie hatte nie geglaubt, dass es tatsächlich passieren würde.

Ihr Gemahl. Wow.

Ihre Familie würde ausrasten. Nicht weil Lysander sie entführt hatte – mit der Zeit würden sie dafür Respekt empfinden –, sondern wegen dem, was er war. Darüber hinaus vertraute sie Lysander nicht, würde ihm niemals vertrauen, könnte also nie im wörtlichen Sinne mit ihm schlafen.

Aber Sex konnte sie gestatten. Oft. Ja, ja, ich könnte das hinkriegen, dachte sie und ihre Stimmung hellte sich wieder auf. Sie könnte ihn auf die dunkle Seite der Macht locken, ohne dass ihre Familie überhaupt mitbekam, dass sie Zeit mit ihm verbrachte. Demütigung abgewendet!

Entschlossen nickte sie. Lysander würde ihr gehören. Insgeheim. Und es gab keinen besseren Zeitpunkt, damit anzufangen, als diesen. Wenn er sie wie vermutet beobachtete, gab es nur einen Weg, ihn dazu zu bringen, sich zu offenbaren.

Sie schlüpfte in ein rotes Neckholder-Top aus Spitze sowie in ihre Lieblings-Röhrenjeans und fuhr in die Stadt. Das Auto besaß sie nur, weil es sie menschlicher wirken ließ. Fliegen war immer ein bisschen verräterisch. Auch wenn ihre Arme und ihr Bauch nackt waren, machte der eisige Wind ihr nichts aus. Frisch war es, ja, aber damit kam sie zurecht. Sie wollte schließlich, dass Lysander so viel von ihr sah wie möglich.

Vor der Moose Lodge, einem kleinen Restaurant, parkte sie und spazierte zum Eingang. So früh und kalt, wie es war, hatte es noch niemand anders hierher verschlagen. Ein paar Straßenlampen warfen ihr Licht auf sie, doch das bereitete ihr keine Sorgen. Sie schloss die Tür auf – den Schlüssel hatte sie schon vor Monaten dem Inhaber geklaut – und schaltete den Alarm aus. Drinnen nahm sie sich ein Stück Pekannusskuchen, der hinter der Glastür des Kühlschranks stand, griff sich eine Gabel und mampfte noch auf dem Weg zu ihrem Lieblingsplatz los. Das hatte sie schon tausendmal gemacht.

Komm raus, komm raus, wo immer du bist. Auf keinen Fall hätte er zugelassen, dass sie weiter auf ihrem Pfad der Untugend wandelte, ohne daran zu denken, die Welt vor ihr zu schützen. Oder? Sie wünschte, sie könnte ihn spüren, wenigstens auf irgendeine Weise wahrnehmen. Vielleicht seinen Geruch, diesen wilden Nachthimmelduft. Doch als sie tief einatmete, roch sie nur Pekannüsse und Zucker. Trotzdem. Sie hatte ihn nicht wahrgenommen, als er sie aus freiem Fall fortgerissen hatte, also war nur zu erwarten, dass sie ihn auch jetzt nicht wahrnehmen konnte.

Nachdem der Kuchen verputzt, der Pappteller weggeschmissen und die Gabel saubergeleckt war, goss sie sich eine Tasse Dr. Pepper ein. Sie steckte ein paar Münzen in die alte Jukebox. Bald hallte ein komplizierter Rhythmus von den Wänden wider. Bianka tanzte um einen der Tische herum, wiegte die Hüften vor und zurück, wand sich, streckte sich, glitt herum, ließ die Hände über ihren gesamten Leib wandern.

Für einen Augenblick, nur einen einzigen, pulsierenden Augenblick glaubte sie, zu fühlen, wie heiße Hände an die Stelle ihrer eigenen traten, ihre Brüste erforschten, ihren Bauch. Glaubte, weich gefiederte Flügel um sich herum zu spüren, die sie einhüllten. Sie blieb stehen, mit pochendem Herzen. Wie sehr sie sich wünschte, seinen Namen auszusprechen, doch sie wollte ihn nicht verjagen. Also … was sollte sie tun? Wie sollte sie …

Das Gefühl des Eingehülltseins verschwand von einer Sekunde auf die andere.

Verdammt sollte er sein!

Zähneknirschend und ratlos verließ sie das Restaurant auf demselben Weg, wie sie gekommen war: durch die Eingangstür, als wäre sie sich keiner Schuld bewusst. Krachend fiel die Tür hinter Bianka ins Schloss, fast wären die Wände ins Wackeln geraten, so heftig hatte sie sie zugezogen.

„Du solltest hinter dir abschließen.“

Er war hier; er hatte zugesehen. Sie hatte es gewusst! Mühsam unterdrückte sie ein Grinsen und wirbelte zu Lysander herum. Bei seinem Anblick blieb ihr die Luft weg. Er war genauso schön, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sein helles Haar tanzte im Wind, winzige Eiskristalle flogen um ihn herum. Weit ausgestreckt erstrahlten seine goldenen Flügel hinter ihm. Doch seine schwarzen Augen waren nicht leer wie beim ersten Mal, als sie ihm begegnet war. In ihnen schäumte ein aufgewühlter Ozean – genau wie vor ein paar Stunden, als sie ihn verlassen hatte.

„Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst dich von mir fernhalten“, warf sie ihm an den Kopf und bemühte sich, wütend zu klingen statt erregt.

Finster blickte er auf sie hinab. „Und ich habe dir gesagt, du sollst dich benehmen. Und doch stehst du hier vor mir, voll mit gestohlenem Kuchen.“

„Was soll ich deiner Meinung nach tun? Ihn zurückgeben?“

„Werd nicht vulgär. Ich will, dass du dafür bezahlst.“

„Sobald ich das tue, werde ich kotzen müssen.“ Sie verschränkte die Arme vor dem Bauch. Komm zu mir. Küss mich. „Damit würde ich mir den Lippenstift versauen, deshalb muss ich leider ablehnen.“

Auch er verschränkte die Arme. „Du kannst dir dein Essen auch verdienen.“

„Klar, aber wo bleibt da der Spaß?“

Einen Moment lang blieb es still. Dann presste er hervor: „Hast du denn gar keine Moral?“

„Nein.“ Und auch keine Grenzen bei meiner Sexualität, also küss mich endlich, verdammt noch mal! „Hab ich nicht.“

Frustriert knackte er mit dem Kiefer – und verschwand.

Biankas Arme fielen an ihre Seiten, und sprachlos blickte sie sich um. Er war verschwunden? Verschwunden? Ohne sie anzufassen? Ohne sie zu küssen? Arschloch! Wütend stapfte sie zu ihrem Auto.

Lysander sah, wie Bianka wegfuhr. Er war hart wie Stein, schon seit sie nackt in ihrer Berghütte herumstolziert war, genüsslich ein Schaumbad genommen hatte und dann in dieses sündige Oberteil geschlüpft war. Verzweifelt gierte sein Schaft nach ihr.

Warum konnte sie kein Engel sein? Warum konnte sie nicht jegliche Sünde verabscheuen? Warum musste sie sich stattdessen Kopf voraus in jedes Laster stürzen?

Und warum war die Tatsache, dass sie diese Dinge machte – stehlen, fluchen, lügen – für ihn immer noch erregend?

Weil so der Welten Lauf war, nahm er an, und das seit Anbeginn der Zeit. Versuchung sickerte durch alle Abwehrmechanismen hindurch, verwandelte einen, ließ einen nach Dingen lechzen, die nicht richtig waren.

Es musste einen Weg geben, diesem Wahnsinn ein Ende zu machen. Vernichten konnte er sie nicht, das hatte er bereits unter Beweis gestellt. Aber was, wenn er sie verändern könnte? Bisher hatte er es nicht wirklich versucht, es könnte also funktionieren. Und wenn sie seine Lebensweise annahm, könnten sie zusammen sein. Er könnte sie haben. Mehr von ihren Küssen, mehr von ihrem Körper.

Ja, dachte er. Ja. Er würde ihr helfen, zu einer Frau zu werden, neben der zu stehen ihn mit Stolz erfüllen würde. Sie würde eine Frau werden, die er mit Freuden zu der seinen erklären würde. Eine Frau, die nicht seinen Sündenfall bedeutete.