5. KAPITEL

Fast hatte er nachgegeben.

Lysander konnte kaum fassen, wie schnell und dass er sich Bianka um ein Haar hingegeben hätte. Ein verführerischer Blick von ihr, eine Einladung, und sein Ziel war vergessen gewesen. Es war beschämend. Und doch was es nicht Scham, was er empfand. Nein, es war wieder diese seltsame Enttäuschung – Enttäuschung darüber, dass er unterbrochen worden war!

Als er vor Bianka gestanden hatte, ihren sündigen Duft eingeatmet und die Hitze ihres Körpers gespürt hatte, war alles, woran er sich hatte erinnern können, ihr berauschender Geschmack gewesen. Er hatte mehr gewollt. Hatte endlich ihre Haut berühren wollen. Eine Haut, die vor Gesundheit strahlte und in allen Regenbogenfarben schimmerte. Auch sie hatte es gewollt, da war er sich sicher. Je größer ihre Erregung geworden war, desto heller hatte dieses Farbenspiel geglüht.

Außer das war ein Trick gewesen … Was wusste er denn schon von Frauen und Begehren?

Sie war schlimmer als ein Dämon. Sie hatte genau gewusst, wie sie ihn hypnotisieren konnte. Beim Anblick der Nacktbilder hatten ihm beinah die Knie nachgegeben. Noch nie hatte er etwas so Bezauberndes gesehen. Ihre Brüste, hoch und voll. Ihr Bauch so flach. Ihr Nabel, eine perfekte Kuhle. Ihre Schenkel, fest und glatt. Dann die Bitte, sich neben sie zu legen und an alles zu denken, was ihm an ihr missfiel … Beides waren Versuchungen gewesen, und beide unwiderstehlich.

Ihm war bewusst gewesen, dass seine Entschlossenheit gebröckelt hatte. Natürlich hatte er sie wieder festigen wollen. Und was wäre besser dazu geeignet als der Gedanke an all die Dinge, die er an der Frau nicht mochte? Wenn er sich allerdings neben sie gelegt hätte, wären es nicht ihre unangenehmen Seiten gewesen, an die er gedacht hätte – Dinge, an die er sich irgendwie weder zu jenem Zeitpunkt noch jetzt erinnern konnte. Möglicherweise hätte er sogar an alles gedacht, was ihm an ihr gefiel.

Sie war brillant. Sie hatte ihn in der Falle gehabt.

Noch nie hatte er einen Dämon begehrt. Nie insgeheim Gefallen an schlechten Taten gefunden. Und doch reizte Bianka ihn auf eine Weise, wie er es niemals hätte vorausahnen können. Also, was an ihr gefiel ihm im Augenblick am besten? Dass sie bereit war, alles zu tun, alles zu sagen, um ihn in Versuchung zu führen. Ihm gefiel, dass sie keine Hemmungen hatte. Ihm gefiel, dass sie zu ihm aufsah und ihre wunderschönen Augen voller Verlangen waren.

Wie würde sie ihn wohl ansehen, wenn er sie tatsächlich noch einmal küsste? Wenn er mehr küsste als nur ihren Mund? Wie würde sie ihn ansehen, wenn er sie wirklich berührte? Diese Haut streichelte? Plötzlich hatte er das Bedürfnis, Sterbliche und Unsterbliche genauer zu beobachten, ihre Reaktionen aufeinander zu analysieren. Mann und Frau, jede Art von Begehren.

Allein der Gedanke daran rief in seinem Körper dieselbe Reaktion hervor wie in Biankas Nähe. Er wurde hart, seine Haut spannte. Er brannte, er verzehrte sich. Seine Augen wurden groß. Auch das war nie zuvor geschehen. Ich lasse sie gewinnen, begriff er, obwohl ich auf sicheren Abstand gegangen bin. Er ließ zu, dass seine Versuchung ihn zerstörte, Schritt für Schritt.

Was Bianka anging, musste er etwas Neues unternehmen. Denn sein alter Plan war offensichtlich zum Scheitern verurteilt.

„Lysander?“

Die Stimme seines Schützlings holte ihn aus der düsteren Grübelei. „Ja, Liebes?“

Olivia neigte den Kopf zur Seite, wobei ihre glänzenden braunen Locken tanzten. Sie standen in ihrer Wolke, Blumen aller Art waren überall um sie herum – auf dem Boden verstreut, an den Wänden, selbst von der Decke hingen sie herab. Aufmerksam betrachtete Olivia ihn aus Augen so blau wie der Himmel. „Du hast mir nicht zugehört, oder?“

„Nein“, gestand er. Die Wahrheit war ihm immer seine meistgeschätzte Gefährtin gewesen. Das würde sich auch jetzt nicht ändern. „Bitte entschuldige.“

„Dir sei verziehen“, antwortete sie mit einem Grinsen, das so lieblich war wie ihre Blumen.

Bei ihr war es tatsächlich so leicht. Immer. Egal wie groß oder klein das Verbrechen, Olivia konnte einfach niemandem lange böse sein. Vielleicht war das der Grund, aus dem ihr Volk sie so verehrte. Alle liebten sie.

Was würden andere Engel von Bianka halten?

Zweifellos wären sie entsetzt von ihr. Er war jedenfalls entsetzt.

Ich dachte, du wolltest nicht lügen? Erst recht nicht dich selbst belügen. Er verzog das Gesicht. Im Gegensatz zu der liebenswürdigen Olivia konnte Bianka vermutlich ein Leben lang nachtragend sein – und ihren Groll noch über den Tod hinaus hegen und pflegen.

Aus irgendeinem Grund verblasste seine finstere Miene, seine Mundwinkel zuckten. Warum um alles in der Welt amüsierte ihn das? Groll kam von Zorn, und Zorn war etwas Hässliches. Außer vielleicht bei Bianka. Ob in ihren Wutausbrüchen genauso viel ungezügelte Leidenschaft lag, wie sie sie im Schlafzimmer offenbarte? Wahrscheinlich. Würde sie auch mit Küssen besänftigt werden wollen?

Die Vorstellung, sie zu küssen, bis sie wieder glücklich war, begeisterte ihn nicht.

Normalerweise ging er mit dem Ärger anderer Leute genauso um wie mit allem anderen. Mit absolutem Desinteresse. Es war nicht seine Aufgabe, Einfluss auf die Stimmung anderer zu nehmen. Jeder war selbst für seine Emotionen verantwortlich, genau wie er. Nicht dass er viele davon verspürte. Über die Jahre hatte er einfach zu viel gesehen, als dass ihm noch etwas nahe ginge. Bis Bianka aufgetaucht war.

„Lysander?“

Wieder riss Olivia ihn aus den Gedanken. Er ballte die Hände zu Fäusten. Jetzt hatte er Bianka weggesperrt. Und trotzdem brachte sie es immer noch fertig, ihn zu verändern. Oh ja. Sein aktueller Plan war definitiv dabei zu scheitern.

Warum konnte er nicht jemanden begehren, der so liebenswürdig war wie Olivia? Das hätte sein ewiges Leben wesentlich leichter gemacht. Wie er Bianka gesagt hatte, war Begehren schließlich nicht verboten, aber nur wenige ihrer Art lernten es je kennen. Jene, bei denen es der Fall war, wollten nur andere Engel und heirateten ihre auserwählten Partner oft. Dass ein Engel sich mit einer anderen Rasse zusammentat, kannte er nur aus Büchern – doch auch da stand nichts von einem Engel, der sich an einen Dämon band.

„… es schon wieder“, ermahnte Olivia ihn.

Er blinzelte und verkrampfte die Fäuste noch stärker. „Ich bitte nochmals um Verzeihung. Für den Rest unserer Unterhaltung werde ich aufmerksamer sein.“ Dafür würde er sorgen.

Wieder schenkte sie ihm ein Grinsen, doch diesmal fehlte die übliche Leichtigkeit. „Ich hab nur gefragt, was dich so beschäftigt.“ Sie streckte die Flügel vor sich und zupfte an den Federn, sorgsam darauf bedacht, die goldenen Daunen nicht zu berühren. „Du bist gar nicht du selbst.“

Da waren sie schon zwei. Auch sie bedrückte etwas; noch nie hatte Traurigkeit in ihrer Stimme gelegen – bis heute. Entschlossen, ihr zu helfen, rief Lysander zwei Stühle herbei, einen für sich und einen für sie, und sie setzten sich einander gegenüber. Leicht bauschte sich ihr Gewand, als Olivia ihre Flügel losließ und die Hände im Schoß verschränkte. Er lehnte sich vor und stützte sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln ab.

„Lass uns erst über dich reden. Wie läuft deine Mission?“, fragte er. Der Grund für ihre Traurigkeit konnte eigentlich nur dort liegen. Olivia fand sonst an allem Freude. Deshalb war sie so gut in ihrem Job. Oder besser: in ihrem ehemaligen Job. Seinetwegen war sie jetzt etwas, das sie nicht sein wollte: ein Kriegerengel. Doch es war das Beste so, und er empfand keine Reue, weil er beschlossen hatte, sie zu befördern. Genau wie er war sie zu fasziniert von jemandem, der nicht gut für sie war.

Besser es wurde jetzt beendet, bevor die Faszination Olivia zerstörte.

Sie befeuchtete sich die Lippen und wandte den Blick ab. „Darüber wollte ich mit dir reden.“ Ein leichter Schauer überlief sie. „Ich glaube nicht, dass ich es kann, Lysander.“ Die Worte kamen als gequältes Flüstern hervor. „Ich glaube nicht, dass ich Aeron töten kann.“

„Warum?“, fragte er, obwohl er wusste, was sie sagen würde. Doch im Gegensatz zu Bianka hatte Aeron ein himmlisches Gesetz gebrochen. Ihn einschließen und auf den rechten Weg führen, das kam bei ihm nicht infrage.

Wenn Olivia es nicht schaffte, den dämonenbesessenen Mann zu töten, musste die Aufgabe einem anderen Engel übertragen werden – und Olivia würde für ihre Weigerung bestraft werden. Man würde sie aus dem Himmel verstoßen, ihr die Unsterblichkeit nehmen, ihr die Flügel ausreißen.

„Er hat niemandem etwas getan, seit der Blutfluch von ihm genommen worden ist“, erklärte sie.

Lysander entging der flehentliche Unterton nicht. „Er hat einem von Luzifers Lakaien geholfen, der Hölle zu entkommen.“

„Ihr Name ist Legion. Und ja, das hat Aeron getan. Aber er trägt Sorge dafür, dass die kleine Dämonin den meisten Menschen fern bleibt. Und denen, mit denen sie zu tun hat, begegnet sie mit Freundlichkeit. Na ja, mit ihrer Version von Freundlichkeit.“

„Das ändert nichts an der Tatsache, dass Aeron der Kreatur geholfen hat zu fliehen.“

Olivia ließ die Schultern sinken, obwohl sie keineswegs besiegt aussah. In ihren Augen funkelte Entschlossenheit. „Ich weiß. Aber er ist so … nett.“

Lysander entschlüpfte ein bellendes Lachen. Er konnte einfach nicht anders. „Wir sprechen von einem Herrn der Unterwelt, oder? Und zwar von dem, dessen gesamter Körper mit Bildern von Gewalt und Blut tätowiert ist? Das ist der Mann, den du als nett bezeichnest?“

„Nicht alle seiner Tätowierungen haben mit Gewalt zu tun“, murmelte sie, aus irgendeinem Grund beleidigt. „Zwei sind Schmetterlinge.“

Wenn sie die Schmetterlinge unter den zahllosen Totenschädeln auf dem Leib des Mannes entdeckt hatte, musste sie ihn sehr aufmerksam studiert haben. Lysander seufzte. „Hast du … etwas empfunden für ihn?“ Körperlich?

„Was meinst du?“, entgegnete sie, doch in ihre Wangen stieg ein rosiger Hauch.

Also ja. „Vergiss es.“ Er rieb sich mit der Hand über das plötzlich müde Gesicht. „Gefällt dir dein Zuhause, Olivia?“

Bei diesen Worten wurde sie blass, als ahnte sie, worauf er hinauswollte. „Natürlich.“

„Gefallen dir deine Flügel? Gefällt dir das Fehlen von Schmerz, welche Art von Verletzung du auch erleidest? Gefällt dir das Gewand, das du trägst? Ein Gewand, das sich selbst und dich ununterbrochen reinigt?“

„Ja“, antwortete sie leise. Sie blickte auf ihre Hände hinunter. „Das weißt du doch.“

„Und du weißt, dass du all das und noch mehr verlieren wirst, wenn du deine Pflicht nicht erfüllst.“ Die Worte waren harsch, genauso an ihn gerichtet wie an sie.

Ihr stiegen Tränen in die Augen. „Ich hab nur gehofft, du könntest den Rat dazu bewegen, den Hinrichtungsbefehl aufzuheben.“

„Das werde ich nicht einmal versuchen.“ Ehrlichkeit, rief er sich in Erinnerung. Er musste ehrlich sein. Was er immer vorzog. Zumindest bisher. „Regeln werden immer mit Grund aufgestellt, ob wir diesem Grund nun zustimmen oder nicht. Ich existiere schon seit geraumer Zeit, habe die Welt – ihre und unsere – ins Dunkel und ins Chaos stürzen sehen. Und weißt du was? Dieses Dunkel und das Chaos rührten immer von einer gebrochenen Regel her. Einer einzigen. Denn wenn erst eine gebrochen ist, folgt bald die nächste. Dann noch eine. Es wird zu einem Teufelskreis.“

Einen Moment war es ganz still, während sie seine Worte in sich aufnahm. Dann seufzte sie und nickte. „Also gut.“ Worte der Akzeptanz, gesprochen in einem Ton, der alles andere verhieß.

„Du wirst deine Pflicht tun?“ Was er wirklich fragte: Wirst du Aeron, den Hüter des Zorns, töten, ob du es willst oder nicht? Lysander verlangte nicht mehr von ihr, als er selbst getan hatte. Er verlangte nichts, was er selbst nicht tun würde.

Wieder ein Nicken. Eine Träne lief ihr über die Wange.

Er streckte die Hand aus und fing den schimmernden Tropfen mit der Fingerspitze auf. „Dein Mitgefühl ist bewundernswert, aber es wird dich vernichten, wenn du ihm so viel Macht über dich einräumst.“

Mit einer Handbewegung wischte sie seine Worte fort. Vielleicht weil sie nicht daran glaubte oder weil sie es sehr wohl glaubte, aber nicht vorhatte, etwas dagegen zu unternehmen, und deshalb nicht weiter darüber reden wollte. „Also, wer ist die Frau in deiner Wolke? Die auf den Gemälden?“

Er … wurde rot? Ja, da breitete sich Hitze auf seinen Wangen aus. „Meine …“ Wie sollte er Bianka erklären? Wie könnte er, ohne zu lügen?

„Geliebte?“, beendete sie seinen Satz.

Ein weiterer Hitzeschub strich über sein Gesicht. „Nein.“ Vielleicht. Nein! „Sie ist meine Gefangene.“ So. Die Wahrheit, ohne irgendwelche Details preiszugeben. „Und jetzt“, setzte er an und erhob sich – wenn sie ein Thema beenden konnte, konnte er das genauso –, „muss ich zu ihr zurück, bevor sie noch mehr Ärger macht.“ Er musste das mit ihr erledigen. Ein für alle Mal.

Olivia blieb noch lange sitzen, nachdem Lysander gegangen war. War dieser errötende, unsichere, abgelenkte Mann tatsächlich ihr Mentor? Seit Jahrhunderten kannte sie ihn, und immer war er unerschütterlich gewesen. Selbst in der Hitze des Gefechts.

Die Frau war verantwortlich dafür, da war Olivia sich sicher. Lysander hatte bisher niemanden in seiner Wolke beherbergt. Empfand er für die Frau vielleicht, was Olivia für Aeron empfand?

Aeron.

Der bloße Gedanke an seinen Namen sandte ihr einen Schauer über den Rücken, erfüllte sie mit dem Bedürfnis, ihn zu sehen. Und schon war sie auf den Beinen, die Flügel ausgebreitet.

„Ich will gehen“, sagte sie und der Fußboden gab langsam nach, verwandelte sich in Nebel. Mit graziös schlagenden Flügeln machte sie sich auf den Weg nach unten. Sorgsam mied sie den Blickkontakt mit den anderen Engeln, die im Himmel unterwegs waren, während sie in Richtung Budapest flog. Sie wussten, wohin sie unterwegs war; sie wussten sogar, was sie dort tat.

Manche sahen ihr mitleidig hinterher, manche besorgt – genau wie Lysander. Manche warfen ihr Blicke voller Abneigung zu. Indem sie niemandem in die Augen sah, sorgte sie dafür, dass niemand versuchte, sie aufzuhalten und zur Vernunft zu bringen. Sie sorgte dafür, dass sie nicht würde lügen müssen. Etwas, das sie hasste. Lügen schmeckten widerwärtig bitter.

Vor langer Zeit, noch während ihrer Ausbildung, hatte Lysander ihr befohlen, eine Lüge auszusprechen. Nie würde sie die abartige Flut von beißender Säure vergessen, die ihren Mund erfüllt hatte, sobald sie gehorcht hatte. Nie wieder wollte sie so etwas erleben. Aber um bei Aeron sein zu können … Vielleicht schon.

Endlich kam seine düstere, bedrohliche Burg in Sicht, hoch auf einem Berg. Ihr Herzschlag beschleunigte sich exponentiell. Weil sie auf einer anderen Ebene der Realität existierte, konnte sie durch die steinernen Mauern gleiten, als wären sie überhaupt nicht da. Schon bald stand sie in Aerons Schlafzimmer.

Er polierte gerade eine Waffe. Seine kleine dämonische Freundin Legion, die, der er die Flucht aus der Hölle ermöglicht hatte, hüpfte und wand sich um ihn herum, eine pinke Federboa im Schlepptau.

„Tanzzz mit mir“, bettelte die Kreatur.

Das sollte Tanzen sein? Menschen zuckten so hin und her, wenn sie im Sterben lagen.

„Ich kann nicht. Ich muss heute Nacht in der Stadt patrouillieren, Jäger suchen.“

Jäger, die erklärten Feinde der Herren. Sie wollten die Büchse der Pandora ausfindig machen und die Dämonen aus den unsterblichen Kriegern holen, wobei jeder der Männer sterben würde. Die Herren wiederum hofften, die Büchse vor ihnen zu finden und zu vernichten – genau wie sie die Jäger vernichten wollten.

„Ich hasssse Jäger“, erklärte Legion, „aber brauchen Übung für Zzzweifelchensss Hochzzzeit.“

„Ich werde auf Sabins Hochzeit nicht tanzen, also ist keine Übung nötig.“

Legion blieb stehen und runzelte die Stirn. „Aber wir tanzzzen auf Hochzzzeit. Wie Pärchen.“ Ihre dünnen Lippen verzogen sich. Machte sie … einen Schmollmund? „Bitte. Haben immer noch Zzzeit zzzum Üben. Issst noch ssstundenlang hell.“

„Sobald ich meine Waffen fertig gereinigt habe, muss ich was für Paris erledigen.“ Paris, wusste Olivia, war der Hüter der Promiskuität und musste jeden Tag eine andere Frau ins Bett bekommen, sonst würden seine Kräfte schwinden und er würde sterben. Aber Paris steckte in einer tiefen Depression und sorgte nicht richtig für sich, also beschaffte ihm Aeron, der sich für ihn verantwortlich fühlte, auf eigene Faust Frauen. „Wir tanzen ein anderes Mal, versprochen.“ Aeron blickte nicht auf. „Aber nur hier, allein in meinem Zimmer.“

Ich will auch mit ihm tanzen, dachte Olivia. Wie fühlte es sich wohl an, den Leib an den eines Mannes zu pressen? Eines Mannes, der stark und heiß und sündhaft schön war?

„Aber, Aeron …“

„Es tut mir leid, Süße. Ich tue all diese Dinge, weil sie notwendig sind, damit du in Sicherheit bist.“

Olivia faltete die Flügel auf den Rücken. Aeron musste sich mal etwas Zeit für sich nehmen. Immer war er auf dem Sprung, bekämpfte die Jäger, reiste auf der Suche nach der Büchse der Pandora um die Welt und half seinen Freunden. So oft, wie sie ihn beobachtete, wusste sie, dass er sich kaum je ausruhte und niemals etwas aus bloßer Freude daran tat.

Sie streckte die Hand aus, wollte damit unbemerkt durch Aerons Haar streichen. Doch plötzlich kreischte die schuppige, krallenbewehrte Kreatur: „Nein, nein, nein!“. Offensichtlich spürte sie Olivias Anwesenheit. Im nächsten Augenblick war Legion verschwunden.

Aeron versteifte sich, und ein Grollen stieg aus seiner Kehle hervor. „Ich hab dir gesagt, du sollst nicht wiederkommen.“

Auch wenn er Olivia nicht sehen konnte, schien auch er es immer wahrzunehmen, wenn sie zu ihm kam. Und er hasste sie dafür, dass sie seine Freundin verscheuchte. Aber sie konnte nichts dafür. Engel waren Dämonenhenker, und die Lakaiin musste die Bedrohung spüren, die von ihr ausging.

„Verschwinde“, befahl er.

„Nein“, erwiderte sie, auch wenn er sie nicht hören konnte.

Er schob das Magazin zurück in die Waffe und legte sie neben das Bett. Mit finsterer Miene erhob er sich. Seine veilchenblauen Augen verengten sich, als er das Zimmer nach einer Spur von ihr absuchte. Traurigerweise würde er niemals eine finden.

Olivia betrachtete ihn aufmerksam. Das Haar trug er raspelkurz, die dunklen Stoppeln waren kaum zu sehen. Er war so hochgewachsen, dass sie neben ihm wie ein Zwerg wirkte. Seine Schultern waren so breit, dass sie zweimal hineingepasst hätte. Mit den Tätowierungen, die seine Haut überzogen, war er die wildeste Kreatur, die sie je gesehen hatte. Vielleicht war es das, was sie so unwiderstehlich anzog. Er stand für Leidenschaft und Gefahr, war bereit, alles zu tun, um diejenigen zu retten, die er liebte.

Die meisten Unsterblichen stellten ihre Bedürfnisse über die aller anderen. Aeron dagegen stellte die Bedürfnisse aller anderen über die eigenen. Dass er so handelte, schockierte Olivia immer wieder aufs Neue. Und sie sollte ihn vernichten? Sie sollte seinem Leben ein Ende setzen?

„Man hat mir gesagt, du bist ein Engel“, sagte er.

Woher hatte er das? – Ah, die Dämonin, begriff sie. Auch Legion mochte nicht in der Lage sein, sie zu sehen. Aber wie Olivia bereits erkannt hatte, wusste die kleine Lakaiin, wann sie sich in Gefahr befand. Außerdem kehrte Legion jedes Mal, wenn sie ihn verließ, in die Hölle zurück. Es waren feurige Mauern, die sie nicht mehr halten konnten, sie aber jederzeit willkommen hießen, wenn sie es wünschte. Olivias Versagen musste den Höllenbewohnern größtes Vergnügen bereiten.

„Wenn du ein Engel bist, solltest du wissen, dass mich das nicht davon abhalten wird, dich abzuschlachten, wenn du auch nur den Versuch wagst, Legion etwas anzutun.“

Und wieder dachte er an das Wohlergehen einer anderen statt an das eigene. Er wusste nicht, dass Olivia sich um Legion nicht kümmern musste. Dass das Band der Dämonin zu ihm verdorren würde und sie wieder an die Hölle gebunden wäre, sobald Aeron tot sein würde. Mit zaghaften Schritten näherte Olivia sich ihm. Erst als sie nur noch eine Haaresbreite von ihm entfernt war, blieb sie stehen. Seine Nasenflügel bebten, als wüsste er, was sie getan hatte, doch er bewegte sich nicht. Es war bloß Wunschdenken ihrerseits, das wusste sie. Wenn sie nicht fiel, würde er sie niemals sehen, niemals riechen, niemals hören.

Sie streckte die Hände nach oben und legte sie sanft an seinen Kiefer. Wie sehr sie sich wünschte, ihn spüren zu können. Anders als Lysander, der der Elite angehörte, konnte sie sich auf dieser Ebene nicht materialisieren. Nur ihr Schwert würde das. Ein Schwert, das sie aus nichts als Luft schmieden würde und dessen himmlische Flammen weit heißer wären als die der Hölle. Ein Schwert, das Aerons Kopf im Bruchteil einer Sekunde von seinem Körper trennen würde.

„Man hat mir gesagt, du bist weiblich“, fügte er hinzu, sein Tonfall hart, barsch. Wie immer. „Aber auch das wird mich nicht daran hindern, dich abzuschlachten. Denn, und jetzt pass gut auf, wenn ich etwas will, lasse ich nicht zu, dass sich mir etwas in den Weg stellt, was es auch sei.“

Olivia erschauerte, doch nicht aus den Gründen, die Aeron vermutlich im Sinn hatte. Diese Entschlossenheit …

Ich sollte verschwinden, bevor ich ihn noch mehr verärgere. Seufzend breitete sie die Flügel aus, sprang und erhob sich aus der Festung in den Himmel.