Kapitel 7
„Becca?“, rief ich wieder, hörte selbst den panischen Unterton in meiner Stimme.
Ich ging weiter ins Appartement, versuchte, nicht auf die Sachen auf dem Boden zu treten, hörte Dana und Marco hinter mir dasselbe tun.
Marco stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Oh je. Hier hat aber jemand gewütet.“
Kein Scherz.
Das Wohnzimmer war klein, hatte etwa die Größe meines Schrankes mit einer dazu passenden Küche in Puppenhausformat an der gegenüberliegenden Wand. Die gesamte Küche bestand aus Herd, Kühlschrank und Backofen, die allesamt rostig und abgenutzt aussahen, was aber zu dem Boden mit noch übler zerschlissenem Linoleum als in der Lobby passte. Hinter dem Wohnbereich befand sich eine Tür, die vermutlich ins Schlafzimmer führte. Ich machte vorsichtig einen Schritt über ein paar zerbrochene Bilderrahmen und zwei Sofakissen, um dorthin zu gelangen.
„Becca?“, rief ich wieder. „Sind Sie da?“ Obwohl ich, ehrlich gesagt, keine Antwort erwartete. Wenn sie hier wäre, hätte sie uns eindeutig mittlerweile in dem Schuhkarton-Appartement hören müssen. Dennoch ertappte ich mich dabei, wie ich den Atem anhielt, während ich um den Türrahmen spähte.
Wie erwartet war es ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett und einer verkratzten Holzkommode. Das Bettzeug und die Laken waren von der Matratze gerissen und lagen in einem Haufen neben dem Bett, zusammen mit zwei Kissen, aus deren aufgerissenen Säumen Federn und Daunen quollen. Die Schubladen der Kommode standen offen, und Kleidungsstücke waren halb herausgezogen oder auf den Boden geworfen.
„Ist sie da drin?“, rief Dana und kam hinter mir ins Zimmer.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es ist leer.“ Und das war, wie mir jetzt auffiel, auch ihr Schrank. Der winzige Wandschrank enthielt eine einzelne Holzstange, an der nur ein paar leere Drahtkleiderbügel hingen. Jemand hatte Beccas Habseligkeiten in aller Eile eingepackt und fortgeschafft.
„Das Badezimmer ist auch leer“, rief Marco und steckte den Kopf durch die Tür. „Und ihr Makeup ist ebenfalls weg.“
Was alles nur eines heißen konnte, wurde mir mit einem unangenehmen Gefühl in der Magengrube klar: Unsere Hauptverdächtige war abgängig.
Als ich nach Hause kam, erwartete mich eine Nachricht auf dem Küchentisch, die besagte, dass Ramirez erst spät von der Arbeit heimkommen werde (was für eine Überraschung), dass seine Mutter jedoch Enchiladas vorbeigebracht habe, die im Kühlschrank stünden (juche!). Ich holte mir sofort die Auflaufform, deren Inhalt köstlich nach Chili, Kreuzkümmel und Koriander duftete, und steckte das Gericht zum Erwärmen in die Mikrowelle. Ein Schälchen Sauerrahm und eine zerdrückte Avocado später befand ich mich im siebten Himmel. Ich näherte mich gerade dem kulinarischen Höhepunkt, als die Türklingel ertönte.
Zögernd ließ ich mein Festmahl stehen und öffnete die Tür, sah meine Mutter und meinen Stiefvater davor.
„Wie geht’s meinem Enkelkind?“, fragte Mom meinen Bauch, legte gleich zwei Hände auf die Beule.
„Mir geht es großartig. Danke der Nachfrage.“
Mom schaute zu mir hoch. „Oh, tut mir leid. Ich kann es gar nicht erwarten, ihn zu sehen“, sagte sie und schnitt vor meinem Bauch drollige Grimassen.
„Wie geht es unserem schwangeren Prinzesschen, meine Süße?“, erkundigte sich mein Stiefvater hinter ihr. Ralph oder Faux Dad, wie ich ihn liebevoll getauft hatte, war der Besitzer von Fernandos Salon, glaubte fest an den Einsatz von Bräunungsspray und Botox und hatte fast die ganze Welt in ihren Grundfesten erschüttert, als er meine Mutter geheiratet hatte, wodurch er die Überzeugung aller (meine eingeschlossen) zerstreut hatte, dass er schwul sei. Zwar gehörte Faux Dad zu den Leuten, die man in Beverley Hills als „Charakter“ bezeichnete, war er ein lieber Kerl, der meine Mutter glücklich machte und mich mit so vielen Gratis-Pediküren versorgte, wie ich wollte. Den Kerl musste ich einfach gern haben.
„Es geht mir ausgezeichnet, danke, Ralph.“
„Ich bin nur froh, dass die Schwangerschaft dir bekommt. Irgendwelche Morgenübelkeit? Wie ist es allgemein mit dem Magen? Werden die plötzlichen Gelüste schon schlimmer?“, fragte er, alles in einem Atemzug.
„Manchmal. Gut. Nein. Und was bringt euch heute her?“, wollte ich wissen, während sie in die Wohnung kamen.
„Wir haben ein Ge-sche-enk für dich“, flötete Mama und hielt eine pastellgelbe Tüte mit aufgedruckten kleinen Entchen hoch.
Geschenke waren nie schlecht.
„Was ist es?“, fragte ich und spähte hinein.
„Mach auf.“ Sie drückte es mir stolz in die Hand.
Das tat ich dann auch, riss das Geschenkpapier auf und steckte die Hände hinein.
Und die kamen mit einer weichen Vinylpuppe in einem gelben Strampelanzug mit noch mehr Enten darauf wieder heraus.
Ich blinzelte verwirrt. „Was ist das?“
„Es ist ein Reborn-Baby, eine Puppe, die extra so gemacht ist, dass sie einem echten Baby gleicht.“
Ich zog eine Braue hoch. „Du weißt aber schon, dass ich bald genug ein eigenes echtes Baby bekomme, oder?“
Faux Dad nickte neben ihr. „Ja, und das ist genau der Grund, warum du mit dem Puppenbaby üben musst.“
Am liebsten hätte ich mir mit der Hand auf die Stirn geschlagen. „Leute, ich bin nicht zwölf Jahre alt. Ich muss nicht mit einer Puppe Mutter und Kind spielen.“
„Üben, nicht spielen, Liebes“, verbesserte Mom mich. „Und ja, das musst du. Süße, du hast keine Ahnung, was es heißt, ein Kind zu haben.“
„Ich bin sicher, das finden wir schon ...“
„Es ist meine Schuld“, fuhr sie fort, ohne sich weiter um meinen Einwand zu kümmern. „Ich habe dich völlig unzureichend auf die Elternschaft vorbereitet.“
„Niemand ist auf die Elternschaft vorbereitet“, teilte ich ihr mit, wiederholte die beruhigenden Worte meiner Lamaze-Kursleiterin.
„Oh, das weiß ich, Süße“, erwiderte Mom. Sie hielt den Kopf schief und setzte ein Lächeln-Schrägstrich-Stirnrunzeln auf, das vor Mitgefühl triefte. „Aber du bist besonders unvorbereitet.“
Ich verdrehte die Augen. „Himmel, danke.“
„Nein, nein, wie gesagt, es ist nicht deine Schuld. Und ich will auch nicht unfreundlich sein, aber es ist nur … nun, erinnerst du dich noch an deinen Gummibaum?“
Ich stemmte die Hände in meine seit Kurzem weiten Hüften. „Ja. Ich hatte eine Zimmerpflanze. Ja, sie ist eingegangen. Das tun Pflanzen. Das ist nicht dasselbe wie ein Baby.“
„Und erinnerst du dich auch noch an den Gummibaum, den ich dir als Ersatz gekauft habe?“
Ich hielt inne. „Ja“, antwortete ich nach einer kleinen Pause.
„Und dann erinnerst du dich vielleicht auch noch an den Gummibaum aus Plastik, den ich für dich gekauft habe, nachdem auch der Ersatzgummibaum eingegangen war?“
„Vage“, murmelte ich.
„Was ist mit dem passiert?“, hakte sie nach.
Ich warf die Hände in die Luft. „Okay, gut. Ich habe ihn zu dicht am Herd stehen lassen, sodass das Plastik geschmolzen ist. Ich kann noch nicht einmal eine Plastikpflanze am Leben halten.“
Mom reichte mir die Reborn-Babypuppe. „Leg ihn nicht zu nah an den Herd, Liebes.“
Ich blickte ihm in die blauen Plastikaugen, dann auf die ausgestreckten dicken Ärmchen.
Möge der Himmel mir beistehen.
Es war warm. So warm, dass ich schwitzte, meine Kleider an mir klebten wie Frischhaltefolie. Ich warf mich hin und her, drehte mich von einer auf die andere Seite, überzeugt, von innen heraus zu verglühen. Aber ich konnte mich nicht aus den engen Kleidern befreien. Ich würde in meinen eigenen Sachen ersticken.
Dann plötzlich fühlte ich eine Hand auf der Schulter, kühlen Atem auf meinem Hals.
„Lass dir helfen“, flüsterte eine leise Männerstimme an meinem Ohr. Und das tat er dann auch, seine Hände waren auf meinen Armen, schoben die Ärmel meines Hemdes nach unten, bis meine rechte Schulter entblößt war. Es fühlte sich herrlich an. Himmlisch, als eine kühle Brise über meine Haut strich, mir Gänsehaut machte.
Dann senkte er den Kopf, zog mit den Lippen eine Spur aus Küssen über meine nackte Haut. Ein Schauer lief mir über den Rücken, versengte mich trotz der Hitze. Hitze, die sich bewegte, sich veränderte, südlich wanderte und sich unter meinem Bauch sammelte. So sehr, bis mir ein Stöhnen entwich und ich mich enger an ihn schmiegte. Sein Körper war fest, kühl und seine Hände fordernd, herrisch, aber ich sehnte mich nach seinen Lippen. Sie waren so weich, so glatt und so federleicht auf meiner Haut. Nicht warm, wie man meinen könnte, sondern kühl. Kalt. Eiskalt und auf meiner überhitzten Haut so unsäglich willkommen. Ich verzehrte mich danach, diese Lippen überall zu spüren – auf meinem Hals, meinen Ohrläppchen, meinem Mund. Und dann, als könne er meine Gedanken lesen, wanderten seine Küsse höher, sein Atem strich über die Haut an meinem Kinn, als er mit seinen Lippen über meine Halsschlagader glitt. Ich stöhnte wieder, unfähig, es zu verhindern.
Ich drehte den Kopf, um meinen Ehemann anzusehen.
Aber es war nicht das Gesicht von Ramirez, das ich sah.
Die hellblauen Augen, in die ich schaute, gehörten Sebastian. Sie waren umrahmt von unvorstellbar langen Wimpern unter zu Stacheln gegelten schwarzen Haaren, was irgendwie wild und gefährlich aussah. Er grinste mich an, zeigte dabei ein Paar weiß schimmernder spitzer Eckzähne, kurz bevor er den Mund auf meinen Hals senkte …
Ich fuhr mit einem Keuchen hoch, setzte mich auf und rang um Atem, während ich mich aus den verschwitzten Laken um meine Beine zu befreien suchte. Ich blinzelte in der Dunkelheit, versuchte, mich zu orientieren. Langsam wurden vertraute Umrisse scharf. Meine Kirschbaumkommode, mein Nachttisch mit Spiegel, mein überquellender Schrank – mit offenstehenden Türen, randvoll mit Schuhkartons.
Ich saß in meinem eigenen Bett, in meinem Schlafzimmer. Es war nur ein Traum gewesen. Ich stieß den unwillkürlich angehaltenen Atem aus, verlangsamte meinen Herzschlag. Es war nur ein Traum gewesen.
Nur ein kleiner unbedeutender erotischer Traum um einen Vampir, also nichts, weswegen man sich Sorgen machen musste.
Ich sah zu den blinkenden Zahlen auf dem Wecker. Ein Uhr dreizehn. Und, bemerkte ich, kein Ehemann auf der anderen Bettseite. Ich knipste die Nachttischlampe an und steckte meine Füße in ein Paar weicher rosa Slipper, machte mich auf die Suche nach besagtem Ehegatten.
Ein einzelnes Licht brannte im Wohnzimmer, die Lampe neben dem Sofa. Ich konnte Ramirez dort sitzen und lesen sehen. Zwar hatte ich keine Ahnung, wann er heimgekommen war, aber die Tasse Kaffee neben ihm verriet mir, dass er keinen Gedanken auf Schlaf verschwendet hatte. Er hielt einen Stapel Papier in der Hand, blätterte ihn durch. Sein Gesicht lag im Schatten, seine Wangen waren mit Bartstoppeln übersät, seine Züge von Erschöpfung weicher, gerade genug, um ihn einladend wirken zu lassen. Ich fühlte als Überrest meines erotischen Traumes ein Prickeln, als ich mich neben ihn setzte.
„He“, sagte ich leise.
Er schaute auf, und ein Grinsen breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus. „Selber he. Ich habe dich nicht geweckt, oder?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich konnte nicht schlafen.“
„Ich auch nicht“, seufzte er und starrte wieder auf die Papiere in seiner Hand.
Ich lehnte mich an ihn, legte den Kopf auf seine Schulter und atmete tief den hölzernen Duft seines Aftershaves vom Morgen ein, der immer noch schwach an seinem Kragen haftete. Und fühlte, wie das Prickeln heftiger wurde. „Was ist das?“, fragte ich und deutete auf die Blätter.
„Nur Arbeit“, antwortete er, legte seinen Arm um mich.
Ich schmiegte mich enger an ihn. „Arbeit? Zufällig der Fall Alexa Weston?“
Er nickte. „Hintergrundberichte.“
Ich kniff die Augen zusammen, um die klein gedruckte Schrift zu entziffern. „Was steht da?“
„Blöderweise nicht viel. Sie ist in San Diego aufgewachsen, dann zog sie vor etwa drei Jahren nach Norden, um eine Karriere als Schauspielerin zu verfolgen.“
„Familie?“, erkundigte ich mich.
„Die Eltern sind tot. Sie hat noch eine Schwester in Corona del Mar.“
„Und?“
„Ein Inspektor der Polizei vor Ort hat gestern mit ihr gesprochen. Sie hat Alexa seit Monaten nicht gesehen. Offenbar war Alexa so etwas wie das schwarze Schaf der Familie.“
Ach nein, wirklich?
„Hast du schon den Bericht des Gerichtsmediziners?“, wollte ich wissen.
Ich spürte, wie sich Ramirez bewegte. „Nein, und selbst wenn ich den hätte, bin ich nicht sicher, ob ich ihn als Bettlektüre mit meiner Frau teilen würde.“
„He, schließlich war es ich, die die Leiche gefunden hat“, protestierte ich.
„Was ist daran neu?“, fragte er.
Ich versetzte ihm spielerisch einen Stoß mit dem Ellbogen in die Rippen.
„Autsch! Pass auf“, sagte er, aber ich konnte spüren, wie sein Oberkörper von einem unterdrückten Lachen geschüttelt wurde.
„Ich habe ein bisschen Schuldgefühle wegen der Sache“, gestand ich.
„Warum? Hast du sie umgebracht?“, zog er mich auf.
Der nächste Rippenstoß von mir war weniger spielerisch.
„Nein, aber ich habe ihr den Tod gewünscht, kurz bevor sie tot aufgefunden wurde.“
„Was nichts mit ihrem echten Tod zu tun hatte“, stellte Ramirez fest.
Ich nickte. „Ich weiß. Aber, egal, ich fühle mich einfach schlecht deswegen. Hätte ich gewusst, dass es ihre letzte Nacht auf Erden war, hätte ich sie vielleicht nicht Mistzicke genannt.“
Ramirez drückte mich an sich und küsste mich auf den Scheitel. „Ich bin sicher, sie trägt es dir nicht nach.“
Der Kuss war nett. Tröstend. Und wenn er ein wenig tiefer wäre und ein wenig langsamer, könnte vielleicht etwas daraus werden. „Kommst du mit ins Bett?“, fragte ich, stand auf.
Ramirez schüttelte den Kopf und nahm wieder die Papiere. „Gleich. Ich möchte nur noch ein paar Sachen hier durchgehen.“
„Oh.“ Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Okay, Nacht.“
„Gute Nacht, Maddie. Und he, mach dir keine Sorgen“, fügte er hinzu. „Wir werden denjenigen kriegen, der Alexa das angetan hat.“
Ich nickte. „Ich weiß“, sagte ich, bevor ich ins Schlafzimmer zurückging. Was der Wahrheit entsprach.
Ich wusste nur nicht, wer von uns beiden den Täter als Erster fassen würde.