Kapitel 6
Das Erste, was ich tat, nachdem ich zurück am Auto war, war Beccas Nummer zu wählen. Es klingelte sieben Mal, bevor der Anrufbeantworter dranging. Ich hinterließ ihr eine Nachricht mit meinem Namen und meiner Handynummer, bat sie, mich bitte zurückzurufen.
„Also, was halten wir von Graf Reißzahn?“, fragte Dana, während ich auflegte.
Das war eine tiefschürfende Frage. Ich hatte das untrügliche Gefühl, dass er etwas verbarg. Aber ob es mit Alexas Tod zusammenhing oder seinem speziellen Trinkproblem, wusste ich nicht. Und zu dieser Unentschiedenheit kam noch hinzu, dass ich den Schauer immer noch auf meinem Rücken spüren konnte, der auf seine eisigen blauen Augen zurückzuführen war. Gefährlich, intensiv, verführerisch. Restlos nervenaufreibend.
Daher zuckte ich stattdessen die Achseln. „Fragezeichen?“
„Gut zusammengefasst“, bemerkte Marco und nickte auf dem Beifahrersitz. „Man kann niemals sicher sein, wozu Vampire imstande sind.“
Dana und ich verdrehten beide gleichzeitig die Augen. „Ehrlich, Marco?“, sagte ich. „Du kannst doch nicht allen Ernstes glauben, dass Vampire unter uns leben.“
Marco blinzelte mich im Rückspiegel an. „Hallo? Hast du den Mann nicht gehört? Es gibt zweihundertfünfundsiebzigtausend echte Vampire hier.“
„Zweihundertfünfundsiebzigtausend Spinner, die behaupten, Blut zu trinken“, korrigierte Dana ihn.
„Das kommt doch aufs Gleiche hinaus“, verkündete er, wischte Danas Einwand einfach beiseite. „Ich bin immer noch froh, dass ich einen Rollkragenpullover trage, weil der Kerl … He, habt ihr gerade die Augen verdreht?“
Von dem Augenverdrehen und der Vampirbefragung hatte ich Hunger bekommen. Glücklicherweise befand sich gleich außerhalb von Laurel Canyon ein Drive-In einer Hamburgerkette, und nach nur geringem Gejammer meinerseits über mein armes hungerndes Baby war Dana einverstanden, anzuhalten.
Marco bestellte einen Protein-Burger – Fleisch, Salat, Tomate ohne Brötchen – und sagte, er wolle seine Kohlenhydrate im Blick behalten, jetzt, da er sich mit Gunnar traf. Dana bestellte sich nur ein Wasser und sagte, dass alles auf der Karte voller Fett und giftiger Pestizide sei. Ich bestellte mir einen Doppelburger, doppelt mit extra Käse und einer Extraportion Fritten in Tierform sowie einen Schoko-Shake und sagte nichts.
Marco schaute auf mein Tablett, dann wieder zu mir. Wieder auf das Tablett, dann zu der Beule.
„He, der Burger und die Fritten sind für das Baby“, erklärte. „Ich nehme nur den Shake.“
Er zuckte die Achseln. „Klingt fair.“
Nachdem wir unseren Lunch verzehrt hatten (ich und Marco gaben dabei ununterbrochen genüssliche Laute von uns, während Dana nur immer wieder angewidert mit der Zunge schnalzte), suchte ich noch rasch die Toilette auf, und dann waren wir wieder in Danas Mustang.
Ich versuchte nochmals, Becca anzurufen, aber landete wieder nur bei dem Anrufbeantworter. Dieses Mal hinterließ ich keine Nachricht. Stattdessen gab ich die Adresse in Danas Navi ein, und wir fuhren auf den Highway.
Die Adresse, die Sebastian uns gegeben hatte, lag unweit vom Sunset, östlich der 101. Während der Teil des Sunset Boulevards in Hollywood voller Souvenirstände und Touristenläden war, gab es auf der Ostseite reihenweise baufällige Appartementhäuser und Mülltonnenfeuer. Die vorherrschende Architektur stammte aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, gepaart mit Abrisshäusern aus den Achtziger Jahren, die nun als Drogenumschlagplatz missbraucht wurden. Die ehemals prächtigen Häuser der weniger bekannten Hollywoodgrößen waren zu Ruinen verkommen, in denen Ratten von der Größe von Schoßhunden hausten. Wenn das die Gegend war, in der Becca lebte, war klar, dass sich mit der Rolle bei den Vampirpartys nicht viel Geld verdienen ließ.
Das Haus mit Beccas Wohnung war ein rechteckiger Betonblock zwischen einem Erotikshop und einem Schnapsladen, der gerade Marlboro-Stangen im Sonderangebot hatte. Wir fuhren einmal um den Block, dann fanden wir zwei Häuser weiter am Straßenrand einen Parkplatz. Dana vergewisserte sich zweimal, dass sie die Alarmanlage ihres Auto eingeschaltet hatte, um ganz sicher zu gehen, und sandte ein kurzes Stoßgebet gen Himmel, dass es immer noch da sein möge, wenn wir zurückkamen, bevor sie mir und Marco in den Eingangsbereich des Hauses folgte.
Der Bodenbelag bestand aus zerschlissenem Linoleum, die Wände waren in einem dumpfen Grau gestrichen und der Geruch eine Mischung aus Urin und chinesischem Fastfood. Rechts war eine Treppe, links ein Aufzug. Dummerweise hing an dem Aufzug ein Pappschild mit der Aufschrift „Außer Betrieb“, quer mit Edding darauf geschrieben. Wunderbar.
„In welchem Stockwerk wohnt Becca?“, fragte ich und beäugte erst die Stufen, dann meine Schuhe.
Dana zog erneut das Papier zu Rate. „Appartement Nummer vier-siebzehn.“
Vierter Stock. Mist.
„Okay, bringen wir es hinter uns“, schnaubte ich und erklomm die erste Treppe dicht hinter Dana und Marco.
Auf Treppe zwei fing ich an, die Last von zusätzlichen fünfzehn Pfund zu spüren. Auf Treppe Nummer drei begann ich schwerer zu atmen. Und auf Treppe vier fühlte ich mich, als ob ein Nilpferd auf meiner Brust säße und ich hundert Pfund Hanteln auf den Schultern trüge.
„Ich“ – (keuch) – „hasse“ – (keuch) – „Treppen.“ – (keuch, keuch)
„Geht es dir gut?“, fragte Dana mit einer steilen Sorgenfalte auf der Stirn.
„Du bekommst doch nicht jetzt das Baby, oder?“, wollte Marco mit nackter Panik im Blick wissen.
Ich schüttelte den Kopf. „Es geht mir gut. Ich brauche nur“ – (keuch, keuch) – „eine Sekunde.“
„Ich glaube, es ist gleich hier“, versicherte Dana mir und deutete auf den Gang rechts von uns, in dem es eine Reihe geschlossener Türen mit aufgemalten Nummern gab.
Ich machte ein paar meiner Lamaze-Atemübungen, um das Keuchen zu verlangsamen, dann folgte ich ihr, bis sie vor der Tür mit der Nummer vier-siebzehn stehenblieb, einem Appartement am Ende des Ganges in der Nähe des Müllschluckers, aus dem es nach Windeln und verdorbenem Essen stank. Rasch hielt ich mir die Nase zu. Es ist ein fieser Streich, den die Natur Schwangeren spielt, dass ausgerechnet dann, wenn der Magen so empfindlich ist wie sonst nie im Leben, der Geruchssinn auf einmal Überstunden macht und jede noch so schwache Geruchsnuance störend wahrnimmt.
Dana warf mir wieder einen Blick zu. „Bist du okay?“
„Bestens“, sagte ich und hörte mich wegen der zugehaltenen Nase an, als hätte ich eine schwere Erkältung. „Bringen wir es hinter uns.“
Dana nickte, klopfte an die Tür. Wir warteten, lauschten auf Geräusche auf der anderen Seite der Tür. Nichts.
Dana klopfte erneut, während ich durch den Mund atmete und meinen Würgreflex mühsam in Schach hielt.
Wieder keine Antwort.
„Vielleicht ist sie nicht zu Hause“, schlug Dana vor und legte ihr Ohr an die Tür, um besser hören zu können, ob sich dahinter etwas regte.
Aber ich war nicht bereit, so leicht aufzugeben. Ich war gerade erst vier ganze Treppen hochgestiegen. Ich würde nicht mit leeren Händen von hier fortgehen. Ich klopfte mit meiner freien Hand an, wartete zwei Sekunden und probierte dann den Türknauf.
Und haste nicht gesehen, er ließ sich mühelos drehen.
Danas und Marcos Mienen spiegelten die gleiche Mischung aus Überraschung und Sorge wider, die sich auch auf mein Gesicht malte. Das war kein gutes Zeichen. Niemand in dieser Gegend würde die Eingangstür unverschlossen lassen. Genau genommen ließ niemand, den ich hier in L.A. kannte, die Tür unverschlossen – selbst wenn er zu Hause war nicht.
Vorsichtig öffnete ich sie einen Spalt breit.
„Hallo?“, rief ich. „Becca?“
Niemand antwortete.
„Becca? Sind Sie da?“ Ich öffnete die Tür ganz, trat vorsichtig ins Zimmer.
Und erstarrte.
Mir bot sich ein Bild der Verwüstung. Sofakissen lagen überall herum, Tische waren umgestoßen, Lampen umgeworfen und der Inhalt der Küchenschränke auf dem ganzen Boden verstreut.
Hier war uns eindeutig jemand zuvorgekommen.