Kapitel 24
In welchem drei Gentlemen aufeinandertreffen
Spät am zweiten Tag nachdem Victoria ihm ihre fantastische Geschichte erzählt hatte, dämmerte Phillip plötzlich, was er zu tun hatte.
Er hatte das Bridge and Stokes natürlich inzwischen aufgesucht und es ›wegen Trauer geschlossen‹ vorgefunden. Und es gab zweifelsfrei diverse Gerüchte über die Angriffe, die sich dort zugetragen hatten; doch niemand hatte Vampire erwähnt.
Er war sogar so weit gegangen, mit seinem Einspänner zum Haus von Victorias Cousin Maximilian zu fahren, um ihn, wie er es schon einmal getan hatte, zur Rede zu stellen, aber der Mann war nicht zu Hause gewesen, und der dunkelhäutige Butler hatte ihm nicht sagen können, ob sein Herr im Laufe des Tages zurückkehren würde.
Nur eines konnte er im Moment noch nicht tun, nämlich Victoria gegenübertreten. Also fuhr er nicht nach St. Heath’s Row zurück.
Stattdessen ließ er sich von einer Mietdroschke nach St. Giles bringen. An jenen Ort, wohin er Victoria gefolgt war, zu dem Etablissement, das man den Silberkelch nannte.
Dort würde er seine Antwort bekommen.
Oh, er war kein Narr. Betäubt vielleicht, abgestumpft und seelisch zerbrochen vor Trauer und Schmerz, aber kein Narr. Er war vorbereitet: mit einem Kruzifix unter seinem Mantel. Er hatte ganze Knoblauchknollen in seine Taschen gestopft und sogar etwas aufgetrieben, das als Holzpflock verwendet werden konnte - einen abgebrochenen Spazierstock, den er in der Garderobe des White’s gefunden hatte.
Phillip glaubte nicht an Vampire, aber obwohl er seine Zeit nicht damit verschwendet hatte, Polidoris lächerliches Buch zu lesen, wusste er, wie man sich der Überlieferung nach vor den Untoten schützte.
Trotzdem steckte er zusätzlich noch eine Pistole ein.

Als Max die dritte Nacht in Folge den Silberkelch betrat, spürte er, dass etwas Schlimmes geschehen würde.
Es wurde auch Zeit. Er wartete schon seit drei Tagen darauf, dass die Bombe platzte. Seit dem Anschlag in den Vauxhall Gardens, auf den der Überfall auf das Bridge and Stokes gefolgt war, hatte er gewusst, dass das alles auf ein bestimmtes Ziel hinauslief.
Lilith verlor die Geduld.
Womit er nicht gerechnet hatte - wen er hier niemals zu treffen erwartet hätte -, war der Marquis von Rockley, der freundschaftlich mit Sebastian Vioget an einem Tisch saß.
Noch bevor Max die Gelegenheit bekam, sich darüber zu wundern, blickte Vioget schon auf und sah ihn am Eingang stehen. Ein winziges Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er ihm zunickte.
Max ging auf sie zu. Ganz egal, wie listig Lilith auch sein mochte, dies konnte nicht Teil ihres Plans sein.
»Guten Abend, Rockley«, sagte er, sobald er den Tisch erreicht hatte.
»Pesaro. Warum erstaunt es mich nicht, Sie hier zu sehen?«, sagte er tonlos.
»Nun, wie es scheint, sind Sie mir gegenüber diesbezüglich im Vorteil. Man sollte meinen, dass Sie durch Ihren letzten Besuch hier etwas dazugelernt hätten. Nämlich, dass es Orte gibt, an denen Sie nicht willkommen und nicht sicher sind.«
»Vioget hat mir beteuert, dass das nicht der Fall ist und ich in seinem Lokal nichts zu befürchten habe. Victoria hat mir alles erzählt.«
»Tatsächlich? Aber Sie haben ihr nicht geglaubt, darum sind Sie hergekommen, um sich selbst ein Bild zu machen. Sie sind wirklich ein Dummkopf. Wäre ich nicht hier, müssten Sie allein auf das Wohlwollen dieses Mannes vertrauen.« Also hatte sie es ihm tatsächlich gesagt. Mit schmalen Augen musterte Max den Marquis: die schläfrigen Lider, das perfekt sitzende Haar, die maßgeschneiderte, gebügelte Kleidung. Der Mann hatte sich einfach so in diesen Schlupfwinkel der Untoten begeben, voller Zweifel und gänzlich unvorbereitet, die Folgen seines Handelns zu tragen.
Er war so gut wie tot, wenn Max nichts unternahm. Wieder einmal.
»Wenn Sie nicht gekommen wären, hätten wir unser höchst angenehmes Gespräch fortsetzen können«, gab Vioget kühl zurück. »Also, Maximilian, wenn Sie uns nun bitte...«
Aber noch bevor er zu Ende sprechen konnte, erregte ein alarmierendes Geräusch hinter Max ihrer beider Aufmerksamkeit. Der Venator schoss herum, und Sebastian sprang auf die Füße.
Imperialvampire. Fünf von ihnen - mehr, als Max je auf einmal gesehen hatte - standen mit gezückten Schwertern und glühenden, rot-violetten Augen am Fuß der Treppe. Einer von ihnen entblößte grinsend seine Fangzähne.
Max hörte, wie Rockley nach Luft schnappte. Zu spät, armer Bastard.
Im Raum war es still geworden, und die allgemeine Anspannung pulsierte wie ein sterbender Herzschlag.
»Guten Abend und willkommen im Silberkelch.« Max musste vor Vioget den Hut ziehen; seine Stimme war so ruhig und gelassen, als würde er eine Dame zum Tee begrüßen. Aber Max wusste, dass die fünf Imperialvampire nicht gekommen waren, um Tee oder sonst ein Getränk zu sich zu nehmen. Noch nicht einmal das frische Zeug.
Lilith hatte sie geschickt.
Der Anführer machte drei Schritte nach vorne. Die Untoten an den Tischen neben ihm schraken zurück. Imperialvampire waren bekannt dafür, dass sie, wenn zornig, in kannibalistischer Weise über ihre eigenen Artgenossen herfielen.
»Sebastian Vioget, man hat uns geschickt, um Sie zu unserer Herrin zu eskortieren.«
»Bitte richten Sie ihr mein Bedauern aus, aber wie Sie sehen, bin ich heute Abend bereits verabredet.«
Max war nicht entgangen, dass Vioget sich rückwärts auf die Ziegelwand hinter Rockley zubewegt hatte. Unter dem Vorwand, seine Jacke zurechtzurücken, schob Max sich auf Rockleys linke Seite, sodass dieser sich zwischen Sebastian und ihm selbst und nur wenige Zentimeter von der verborgenen Tür entfernt befand. Max würde Vioget nicht durch sie verschwinden lassen, ohne dass sie beide mit von der Partie wären.
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie ausgerechnet er dazu kam, auf einen Marquis aufzupassen - wieder einmal.
»Sehr amüsant, Vioget. Also, Sie können es auf die einfache Art haben oder auf die harte.« Wie der Anführer mit dem linken Eckzahn seine Unterlippe liebkoste, ließ keinen Zweifel daran, dass er die harte Art bei weitem bevorzugte.
Max berührte Rockleys Schultern und spürte, wie verkrampft er war. »Halten Sie sich bereit«, sagte er leise und ohne die Lippen zu bewegen. »Hinter Ihnen.«
Aber sie bekamen nie die Chance.
Plötzlich brach in dem Schankraum das Chaos aus - ein Tisch flog durch die Luft, Schwerter klirrten, Stühle zerbarsten; da waren Schreie, Kreischen und das Klatschen von Fleisch auf Fleisch.
Max packte Rockley und beförderte ihn unter den Tisch, dann folgte er hinterdrein. Zur Hölle mit der Geheimtür; sie würden versuchen, sich an der Wand entlang hinauszuschleichen.
Phillip, der völlig bewegungsunfähig gewesen war, erkannte plötzlich, dass seine einzige Hoffnung auf ein Entkommen darin bestand, Victorias Cousin unter den Tischen hinterherzukrabbeln. Er ließ die Pistole in seiner Tasche los, als er nun endlich begriff, was Pesaro und Victoria ihm zu sagen versucht hatten. Zu spät.
Es hatte nicht gereicht. Dieser hypnotische Sog in den Augen der Kneipenbesucher, die Art, wie sie in ihn einzudringen und seinen Willen zu schwächen schienen - nein, erst als diese fünf Männer mit den glühenden Augen und tödlichen Waffen das Lokal gestürmt hatten, war ihm klar geworden, dass er sterben würde.
Er würde sterben, während noch immer all die Vorwürfe und der Zorn zwischen ihm und Victoria standen.
Instinktiv wusste er, dass das Kruzifix in seiner Tasche nur wenig Schutz vor den fünf Kreaturen bot, also kroch Phillip Max hinterher und setzte damit seine einzige Hoffnung auf Überleben auf jenen Mann, der zu wissen schien, was er tat. Glasscherben und Holzsplitter bohrten sich durch seine feine Hose und schnitten ihm in die Hände. Etwas Dunkles und Klebriges ergoss sich von dem Tisch über ihm auf seinen Kopf und seine Schultern. Der Geruch von Rost drang ihm in die Nase. Hinter ihm ertönte ein lautes Krachen, dann roch er Laternenöl und kurz darauf den erstickenden Qualm eines wütenden Feuers.
Er und Pesaro erreichten auf wundersame Weise jene Biegung der Wand, die zur Treppe dieses Ortes führte, an den er sich für immer als die Hölle auf Erden erinnern würde. Gebrüll und Kampfgeräusche verfolgten sie, als sie sich zentimeterweise im Schutz einer plötzlich dichten Rauchwolke an der Wand entlang vorarbeiteten. Phillip hätte am liebsten einen Triumphschrei ausgestoßen, als sie die unterste Stufe erreichten.
Während sie die Treppe hochstolperten, sah Phillip, dass Max stehen geblieben war und sich nach hinten umsah. Er drängte ihn weiter, wohl wissend, dass es keine Möglichkeit gab, Vioget zu helfen oder sonst jemandem, der diesen fünf Monstern in den Weg geriet.
Aber als sie oben - in der Freiheit - ankamen, standen sie plötzlich zwei weiteren der Kreaturen gegenüber. Ihre Augen waren rot, und sie trugen keine Schwerter. Bei einer von ihnen handelte es sich um eine Frau. Doch so unvertraut Phillip mit diesen Dämonen auch war, erkannte er trotzdem, dass es sich um Vampire handelte. Er nahm eine Abwehrhaltung ein, um hoffnungslosen Widerstand zu leisten, als ihr Blick ihn gefangennahm.
»Wie nett«, sagte sie mit kehliger Stimme. »Genau, was ich jetzt brauche. Und ich dachte schon, ich würde hier oben auf meinem Posten den ganzen Spaß verpassen.«
Er konnte nicht dagegen ankämpfen, ihre Augen hielten ihn in ihrem Bann. Mühelos wurde er hochgehoben und fortgetragen - irgendwohin. Er wehrte sich, konnte sich jedoch nicht befreien, sie hielt ihn eng an sich gedrückt, und er fühlte ihr Herz in ihm schlagen, durch ihn hindurch, als hätte er sich in irgendeiner Ranke verfangen, die sich mit jeder seiner Bewegungen enger zuzog.
Dann stieß sie ihn von sich, und er landete auf einem Polster und versuchte zu entkommen. Er war in einer Kutsche - er konnte die Tür sehen. Und sie hatten Pesaro. Sie zogen ihn auf die Kutsche zu, aber die Frau riss Phillip nach hinten, weg von der Öffnung.
»Nun, mein Hübscher«, flüsterte sie, und er blickte ihr ihn die Augen. Er kam nicht dagegen an. Sie fesselten ihn wie nichts zuvor in seinem Leben. Er war sich vage einer schweren Last bewusst, die neben ihn geworfen wurde, denn sie unterbrach für einen winzigen Moment den Kontakt.
»Mein Hübscher«, summte sie wieder, und ihre starken Finger zausten sein Haar wie die einer Liebenden. Wie Victorias. Dann ballte sie sie zur Faust und riss seinen Kopf so heftig nach hinten, dass er vor Schmerz und Überraschung aufschrie. Sie beugte sich zu ihm; ihre Lippen waren warm und kühl zugleich, und sie berührten die Wölbung seines Halses, jene weiche Stelle, die nun entblößt und ungeschützt war.
Er setzte sich zur Wehr, aber sie zog sich zurück und sah ihn an, besänftigte ihn mit den Augen. »Es wird nicht wehtun, mein Süßer, ach, mein Hübscher.« Sie leckte über sein Gesicht, schloss den Mund über seinem und stieß ihre Zunge hinein. Erstickte ihn und erregte ihn. Als sie sich von ihm löste, schmeckte er Blut und sie leckte sich über die Lippen. Er wollte auch darüberlecken.
Jemand strampelte neben ihm in der Kutsche. Es rüttelte ihn auf, und der weibliche Vampir zischte: »Bezwinge den Venator. Aber beherrsch dich. Die Herrin wird dir das Herz herausrei ßen, wenn du von ihm trinkst.«
Dann wandte sie sich lächelnd wieder Phillip zu und verführte ihn mit den Augen. »Sag mir deinen Namen, mein Süßer. Du bist zu niedlich, um namenlos zu bleiben. Vielleicht werde ich dich behalten.«
Er wollte antworten; er wollte nicht antworten... Ihm blieb keine Wahl. Ihre roten, schwarz umrahmten Augen - auch die Iris war schwarz - nötigten ihn dazu. »Phillip«, würgte er heraus. »Rockley.«
Ihre Augen weiteten sich entsetzt; die Kontrolle entglitt ihr. Scharfe Nägel gruben sich in seine Kopfhaut und in den Oberarm, den sie umklammert hielt. »Du bist Rockley? Verheiratet mit Victoria?«
Schwach vernahm er durch das Rauschen in seinen Ohren ein verzweifeltes »Nein!«, aber Pesaros Ausruf konnte ihn nicht davon abhalten zu antworten: »Ja.«
Die Vampirin betrachtete ihn lächelnd. Ihre Fangzähne waren lang und hübsch. Er wollte sie an seiner Haut, in seinem Fleisch spüren. Sein Schwanz pochte erwartungsvoll. Er tat einen tiefen Atemzug, als sie sich über ihn lehnte. Sie neckte ihn für eine kurze Weile mit den Lippen, der Zunge, knabberte und nagte an ihm. »Das ändert alles«, murmelte sie und vergrub die Zähne in seinem Ohr.
Er stöhnte, als Wonne und Schmerz ihn auf eine Weise durchströmten, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. Etwas Warmes tropfte auf seinen Hals; er konnte es riechen - roch es in ihrem Atem, als sie sich wieder seinem Mund zuwandte. Er wollte es auch einatmen.
»Jetzt muss ich dich nicht mehr töten.« Sie holte tief Luft und ließ sie langsam, genüsslich wieder entweichen, atmete warm in sein Fleisch und in sein Blut, als sie ihm die Zähne in die Schulter schlug.