Kapitel 17
In welchem Miss Grantworths
Schlafzimmer einiges zu sehen bekommt
Die nächsten dreißig Minuten vergingen in
hektischer Be triebsamkeit. Max, wenn auch verwirrt und schwach,
war trotzdem noch ausreichend Herr seiner Sinne, um zu berichten,
dass es ihm gelungen war, Phillip vor der Vampirattacke zu
retten.
»Wurde er gebissen?« Victoria warf sich einen
seiner schweren Arme um die Schultern, sodass er an ihr lehnte,
während die andere Hand frei unterhalb ihrer linken Brust baumelte.
Sie half ihm zu seiner unmarkierten Kutsche - was nicht so
schwierig war, wie es ohne ihre vis bulla
gewesen wäre.
»Nein... war rechtzeitig dort. Hab den Bastard
gepfählt.«
Victoria hoffte, dass er den Vampir meinte und
nicht Phillip. Allerdings hätte sie keinen Eid darauf
geschworen.
Max hatte Phillip befreit, ihn in Barths
Droschke verfrachtet und dem Kutscher genaue Instruktionen erteilt,
wie er ihn nach Hause fahren und was er tun sollte, sobald sie dort
angekommen wären. Phillip war unverletzt, aber durcheinander und
als Folge des Kampfes halb bewusstlos.
»Woran wird er sich erinnern?«, fragte Victoria,
als sie Max in seine Kutsche half.
»An nichts. Hab das... Pendel benutzt.«
Sie schob ihn auf seinen Platz, dann kletterte
sie wieder aus der Kutsche, um sich von Sebastian zu verabschieden,
der zwar keine große Hilfe gewesen war, als sie Max nach draußen
brachte, sie aber auch nicht behindert hatte. Er hatte sie
begleitet, ihr einen Hinterausgang gezeigt und Max’ Kutsche dorthin
kommen lassen.
»Danke«, sagte sie.
»Bis zum nächsten Mal«, erwiderte er schlicht.
Er machte keine Anstalten, ihr den Handschuh zurückzugeben, und sie
bat ihn nicht darum. Victoria drehte sich um und stieg in die
Kutsche. Sebastian schloss die Tür hinter ihr.
Das Gefährt setzte sich schlingernd in Bewegung,
und Victoria taumelte auf den Sitz gegenüber von Max.
Wie ein zerknittertes grau-schwarzes Bündel
kauerte er in einer Ecke. Als die Straßenlampen das Innere
erhellten, sah sie, dass er die Augen geschlossen hatte.
War er etwa gebissen worden? Sie hatte noch
nicht einmal daran gedacht, zu fragen. Sie war nach Max’ schlimmer
Verkündung zu sehr in Sorge um Phillip gewesen.
Victoria stand vorsichtig auf, um auf seine
Seite zu wechseln, und wäre um ein Haar auf seinem Schoß gelandet,
als die Kutsche unerwartet um eine Straßenbiegung fuhr.
Sie griff gerade nach seinem Kragen, als er die
Augen öffnete. »Was tun Sie da?«, fragte er und stemmte sich
hoch.
»Ich dachte, dass Sie möglicherweise gebissen
wurden.«
»Setzen Sie sich auf Ihren Platz.« Er sah sie
finster an. »Ich bin schon seit Jahren nicht mehr gebissen
worden.«
»Warum tragen Sie dann gesalzenes Weihwasser bei
sich? Und warum sieht der Biss da so frisch aus?«
»Ich habe es dabei, damit ich es, falls ich
einem Bissopfer begegne, auf seine Wunde träufeln kann.« Mit einem
Mal wirkte er um einiges lebendiger.
»Was ist dann mit Ihnen passiert?«
Er verschränkte die Arme und holte tief Luft.
»Ich wurde betäubt. Von Ihrem Marquis.«
Victoria hob die Brauen. »Wirklich? Also hat ein
Marquis Sie schachmatt gesetzt, während ein bösartiger Vampir dazu
nicht in der Lage war? Und Sie geben das einfach so zu?«
Max öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen,
schien es sich dann jedoch anders zu überlegen. Er wandte den Kopf
zum Fenster, um hinauszusehen. Jedes Mal, wenn sie an einer Stra
ßenlaterne vorbeifuhren, beschien das hereinfallende Licht sein
Profil. Victoria betrachtete die hochmütige Linie seiner Nase, den
sturen Zug um seinen Mund, den wirren Schopf dunklen Haars. Er
wirkte angeschlagen.
»Was ist geschehen, Max?«
»Ich tat, was Sie verlangten, Victoria. Wir
müssen das nicht weiter erörtern.« Er nahm den Blick nicht vom
Fenster. »Ihr
Marquis ist in Sicherheit, und die Sache wird keine schlimmen
Folgen für ihn haben - er wird auch nur sehr wenige Erinnerungen an
das Geschehene behalten, denn auch darum habe ich mich gekümmert.
Er hat versucht, einen Vampir mit einer Pistole zu erschießen.«
Seine Stimme triefte vor Verachtung. Dann: »Wo ist Ihr
Handschuh?«
Victoria sah nach unten. Sie hielt beide Arme
unter ihrem Umhang versteckt, den behandschuhten wie den nackten.
»Ich … Sebastian hat ihn genommen.«
Max drehte sich zu ihr um. »Und was hat er sonst
noch genommen?«
Victorias Herz schlug schneller. Sie schüttelte
den Kopf.
»Er dürfte eine Gegenleistung für seine
Information erwartet haben; was hat er außerdem noch
genommen?«
Freiheiten. Er hatte sich Freiheiten
herausgenommen, die ihr Verlobter sich nicht erlaubt hätte. Und auf
gewisse Weise hatte er ihr einen weiteren Teil ihrer Naivität
genommen. Ihr genau gezeigt, warum Frauen Handschuhe trugen. Die
ganze Zeit über.
»Victoria.«
»Nichts. Er hat meinen Handschuh behalten, aber
sonst nichts genommen. Ich bin ein Venator, Max. Er ist kein Gegner
für mich.«
Es hätte ein Lachen sein können, das da seinen
Lippen entschlüpfte; Victoria konnte es nicht mit Gewissheit sagen.
Doch er erwiderte nichts, sondern wandte sich einfach ab und sah
wieder aus dem Fenster.
Sie setzten ihre Fahrt eine Weile schweigend
fort, dann sagte sie: »Danke. Für das, was Sie heute Nacht getan
haben.«
Das lenkte seine Aufmerksamkeit von der
vorbeiziehenden Kulisse ab. Düster und zornig schaute er sie von
der gegenüberliegenden Ecke des engen Passagierraums aus an.
»Rockley hatte keine Ahnung, in was er da heute Abend hineingeraten
ist. Und das ist genau der Grund, warum Sie nicht heiraten dürfen,
Victoria. Eure beiden Welten dürfen sich nicht kreuzen, so wie sie
es heute getan haben. Diesen Weg weiterzugehen würde nur noch mehr
Unheil nach sich ziehen.«
Mit diesen Worten wandte er sich wieder zum
Fenster und verstummte.
Victoria schlief nicht gut in dieser Nacht. Ein
Chaos von Bildern, die aufeinander einstürmten, füllte ihre Träume.
Phillip und Sebastian, Tante Eustacia und Max, Worte und Stimmen,
die sich mischten: Ich wollte schon immer mal
einen weiblichen Venator kosten... Sie dürfen nicht heiraten... Ich
würde alles geben, um das zu sehen... Weiß er, dass sie sich nachts
auf den Straßen herumtreibt?... Was hat er sonst noch
genommen?
Als sie aufwachte, strahlte die Sonne durch das
Fenster - ein krasser Gegensatz zu der Düsternis, mit der ihre
Erinnerungen aufeinandergeprallt waren. Es war schon fast elf Uhr.
Madame LeClaire würde in zwei Stunden für ihre Anprobe
eintreffen.
Ihre Brautkleidanprobe.
Victoria presste eine Hand auf ihre Augen. Hatte
Max Recht? Würde sie weiteres Unheil heraufbeschwören, wenn sie
Phillip heiratete?
Ihr Magen krampfte sich zusammen, aber es lag
nicht daran, dass sie nichts gegessen hatte. Wie könnte sie Phillip
nicht heiraten? Den charmanten, humorvollen, gut aussehenden
Phillip?
Den Mann, der sie zum Lachen brachte, der mit ihr scherzte, der
ihr half, das Absurde der Gesellschaft, in der zu leben sie
gezwungen war, zu sehen. Der ihr Blumen brachte, nachdem sie ihm
einen Rüffel erteilt hatte. Dieser Mann, der das Richtige tat, das,
was von ihm erwartet wurde. Ein Mann, den sie verstehen
konnte.
Er war ihr letzte Nacht gefolgt. War ihr in ein
Hornissennest voller Vampire gefolgt, ohne einen Gedanken an seine
eigene Sicherheit zu verschwenden, ohne zu wissen, in was für eine
Welt er da eindrang. Wenn sie ihn heiratete, würde sie dann in der
Lage sein, ihr Geheimnis zu bewahren? Würde sie es müssen? Wenn sie
ihm sagte, dass sie ein Venator war und damit besser geschützt als
jeder andere, würde er dann verstehen?
Er hatte seine Geständnisse abgelegt - harmlos,
wie sie waren. Schuldete sie ihm denselben Gefallen?
Sebastians Worte verfolgten sie. Weiß er, dass sie bedeutet, dass sich seine Liebste
nachts auf den Straßen herumtreibt? Und sie sich unter die Wesen
der dunklen Seite mischen muss, um ihre Geheimnisse zu ergründen?
Dass sie tötet, jedes Mal, wenn sie ihre Waffe erhebt? Dass sie
über eine Stärke verfügt, die er selbst nie besitzen
wird?
Wie könnte er verstehen? Sie selbst hatte Wochen
dazu gebraucht, und dabei war sie zu dieser Pflicht berufen
worden.
Er war so gut, so anständig. Wie könnte er mit
einer Frau verheiratet sein, die das Böse jagte? Die grausam war,
die tötete? Er könnte so etwas nie akzeptieren - und sollte es auch
nicht müssen.
Er könnte ihre Welt nicht begreifen. Tante
Eustacia und Max und Kritanu, sogar Verbena und Barth - sie alle
begriffen sie. Sie alle waren Teil dieser Welt, dieses
Lebens.
Phillip war das nicht und würde es nie
sein.
Sie holte tief Luft; sie wusste, was sie zu tun
hatte.
Ein enger Knoten schnürte ihr die Kehle zu, als
sie begann, sich ein Leben ohne Phillip auszumalen. Ein Leben, das
daraus bestand, in dunklen Straßen zu lauern, in unterirdischen
Kneipen, in dem Bedürfnis, zu jagen und zu töten. Das Ende von
Tanzen und Lachen, ohne jede Hoffnung darauf, jemanden zu haben,
den man liebte, der für einen da war.
Vielleicht erklärte das Max’ Wesen: sein ganzes
Gebaren, sein unterschwelliger Zorn, sein triefender Sarkasmus. Er
war so einsam. Victoria hatte angenommen, er habe diese Wahl selbst
getroffen. Vielleicht irrte sie sich.
Vielleicht hatte auch sie keine Wahl.
Ein lautes Knallen von unten, gefolgt von
hämmernden Schritten, die die Treppe hinaufgestürmt kamen, lenkte
Victorias Blick auf ihre Schlafzimmertür.
Rufe, sie klangen nach Jimmons, und Verbena,
dann flog die Tür auf und rumste gegen die Wand.
Phillip.
»Victoria!« Dort stand er, groß und aufbracht,
eingehüllt in seinen Umhang, der ihm um die Beine schlug, das Haar
unordentlich in der Stirn. »Du bist hier und in Sicherheit!«
Sie war so verdattert, dass sie sogar vergaß,
ihren Mund wieder zu schließen. Verbena, Jimmons und Maise, die
Hausdame, standen im Türrahmen und redeten alle gleichzeitig, um zu
erklären, wie es geschehen konnte, dass Phillip in ihr Zimmer
eingedrungen war.
»Schick sie weg«, verlangte er, während er mit
langen Schritten auf ihr Bett zuging, in dem sie, das Nachthemd
unter einer
Decke verborgen, noch immer lag. »Ich bin dein Verlobter. Wir
werden in drei Wochen heiraten. Schick sie weg!«
So hatte sie ihn noch nie gesehen - der
gelassene, korrekte Phillip war völlig außer sich. »Ihr könnt
gehen«, sagte sie mit einer Handbewegung zu Jimmons und Verbena.
Dann kam ihr, erstaunlicherweise angesichts der Situation, ein
vernünftiger Gedanke. »Ist meine Mutter schon wach und auf?«
»Jetzt bestimmt«, erwiderte Verbena.
»Dann haltet sie von hier fern. Erzählt ihr, was
ihr wollt, aber haltet sie von hier fern, bis der Marquis gegangen
ist.«
»Aber es ziemt sich nicht...«, setzte Maise
an.
»Geht jetzt bitte. Es wird in Ordnung sein,
solange niemand darüber spricht.«
Erst nachdem sie fort waren, gestattete Victoria
es sich, Phillip anzuschauen. Der Knoten in ihrer Kehle hatte sich
noch enger zusammengezogen. Sie hatte geglaubt, mehr Zeit zu haben,
um zu entscheiden, was sie tun sollte, wie sie Phillip begegnen
sollte. Wie sie ihm sagen sollte, dass sie ihn nicht heiraten
konnte.
Aber ihr Entschluss stand fest. Es war der
einzig richtige.
»Victoria, Victoria.« Er verharrte neben ihrem
Bett, die Hände auf dem Rücken, so als versuchte er, sich selbst
daran zu hindern, sie zu berühren. »Es tut mir so leid, aber ich
konnte nicht warten. Ich musste mich einfach vergewissern, dass du
hier bist und es dir gut geht.«
»Phillip.« Sie schüttelte den Kopf und schloss
für einen Moment die Augen. Was konnte sie schon sagen? »Phillip,
natürlich geht es mir gut. Du siehst es doch, mir fehlt nichts. Es
waren nur wieder diese Kopfschmerzen.«
Woher war das nun wieder gekommen? Sie hatte
nicht vorgehabt, die Scharade fortzusetzen.
Er sah von oben zu ihr herunter, der Blick
seiner blauen Augen scharf und immer noch wild. »Victoria.«
»Phillip, setz dich. Hierhin.« Sie klopfte auf
ihre Knötchenstichdecke und machte ihm neben ihrer Hüfte
Platz.
»Ich weiß nicht, ob ich das tun sollte.« Er
schaute sie an, und sie sah etwas in seinen Augen, das sie nie
zuvor darin gesehen hatte. »Ob es sich gehört.«
Victoria musste lachen; sie kam nicht dagegen
an. »Phillip, jetzt mach dich nicht lächerlich. Du bist doch schon
hier, in meinem Schlafzimmer. In drei Wochen werde ich die deine
sein.« Ihre Blicke trafen sich, und ihr Mund wurde trocken. Hatte
sie das wirklich ausgesprochen? Diese Lüge?
Er setzte sich, und durch sein Gewicht am Rand
des Bettes rutschte sie unwillkürlich auf ihn zu. Ihre Oberschenkel
berührten sich durch die Schichten von Decken.
»In drei Wochen erst. Ich weiß nicht, ob ich so
lange warten kann.« Er streckte die Hand aus, streichelte ihr
ungebändigtes Haar, dann zeichnete er ihren Wangenknochen nach,
bevor er sie wieder neben sich sinken ließ. »Aber ich muss wissen,
wohin du letzte Nacht gegangen bist, Victoria. Steckst du in
irgendwelchen Schwierigkeiten?«
»Ich habe mich nicht wohl gefühlt«, gab sie zur
Antwort. Warum log sie noch immer? Sie musste ihn gehen
lassen.
»Victoria. Ich liebe dich, und ich werde dich
heiraten, aber wenn ich eines nicht tolerieren kann, dann ist das
Unehrlichkeit.« Er war zornig, eine Regung, die sie bisher nicht an
ihm kannte. Echter Zorn, gemischt mit einer Art verzweifelter
Besorgnis.
Aber nicht Angst einflößend. Nein, dies war ein Zorn, mit dem sie
leben konnte. »Was hast du letzte Nacht in St. Giles gemacht? Sag
mir die Wahrheit.«
Da brach es aus ihr heraus. Die Tränen, zusammen
mit allem, was sie in den letzten Wochen unterdrücken musste, seit
sie diese Träume gehabt hatte. Seit sie von ihrer Berufung erfahren
hatte.
Abgehacktes Schluchzen, Zittern und Beben -
Spuren der Angst, die sie so tief in sich verborgen hatte, während
sie um ihr Leben hatte kämpfen müssen - all das strömte nun aus ihr
heraus. Sie lehnte an Phillips Schulter, denn er hatte sie an sich
gezogen, und die Decken fielen von ihr ab, als er die Arme um sie
schlang.
»Victoria, Victoria.« Seine Hand streichelte
über ihren Kopf und die wirren Flechten ihres Haars bis hinunter zu
ihrer Wirbelsäule. »Großer Gott, Victoria, was ist mit dir? Ich
werde es in Ordnung bringen, wenn du mir nur sagst, was es ist. Ich
bin nicht ohne Einfluss; falls nötig, werde ich ihn bedingungslos
einsetzen.«
Als sie sich von seinem durchnässten Mantel
löste, hielt er ein Taschentuch bereit, um ihr das Gesicht zu
trocknen und die Nase zu putzen, als wäre sie ein Kind. Sie fühlte
sich wie ein kleines Mädchen, das umhegt und gehätschelt wurde. Zum
ersten Mal seit fast zwei Monaten hatte sie das Gefühl, nicht die
Führung übernehmen zu müssen. Die Kontrolle.
Die Starke sein zu müssen.
Sie hatte Phillip nie mehr geliebt als in diesem
Augenblick.
»Ich danke dir«, sagte sie mit dem weichen
Schluckauf ihres letzten Schluchzers.
Er ließ das Taschentuch fallen und umfasste ihre
Schultern. »Was ist los? Erzähl es mir. Ich ertrage es nicht, dich
so zu sehen.«
»Ich kann nicht.« Sie tat einen tiefen,
holprigen Atemzug. »Ich kann es dir nicht sagen, Phillip, aber ich
schwöre, dass es nichts ist, das du ändern könntest. Selbst wenn du
alles Geld der Welt hättest und über dieses Land herrschtest,
könntest du dies hier nicht ändern.«
Er starrte sie für einen langen Moment an; seine
Augen zuckten von rechts nach links, so als wollte er ihren eigenen
Blick besser einschätzen können. Das Weiß seiner Augen war rot
unterlaufen. »Du musst es mir sagen.«
»Das kann ich nicht.«
»Ich bin dir letzte Nacht gefolgt. Ich wusste,
dass du es warst, ganz gleich, was dein Cousin sagte. Zuerst hatte
ich Angst, du könntest einen anderen Mann treffen, und so bin ich
dir nachgefahren. Ich musste Bescheid wissen. Ich musste wissen, ob
deine Liebe einem anderen gehört. Selbst dann, dachte ich, würde
ich dich noch immer heiraten wollen, wenn ich es nur mit Gewissheit
wüsste. Ich würde eine Möglichkeit finden, ihn aus deinem Herzen zu
vertreiben.
Aber als dann deine Droschke - lieber Himmel,
Victoria, ist dir nicht klar, wie gefährlich es ist, eine
Mietdroschke zu benutzen? - in St. Giles anhielt, wusste ich nicht
mehr, was ich denken sollte. Du würdest dort keinen Liebhaber
treffen, ganz gleich, wer er war. Ich sah dich aussteigen und durch
die Tür einer der furchteinflößendsten Absteigen gehen, die mir je
untergekommen sind. Ich hätte mich dort nicht hineingewagt, wenn
ich nicht gewusst hätte, dass ich dich beschützen muss. Ich war auf
meine Pistole angewiesen, um ein paar Straßenganoven davon zu
überzeugen, mich vorbeizulassen.
Dein Cousin hat mir das Leben gerettet. Ich bin
nicht sicher, was genau passiert ist; meine Erinnerung ist ziemlich
verworren. Ich weiß nur noch, dass ich die Bar verließ, um nach dir
zu suchen, und dann zu Hause aufgewacht bin. Wie ich dorthin
gelangt bin, ist mir völlig schleierhaft. Ich träumte von roten
Augen …
Siehst du, mein Liebling, ich verstehe nicht,
was letzte Nacht passiert ist, aber trotzdem bin ich nicht mit
Vorwürfen oder einer vorgefassten Meinung zu dir gekommen. Nichts,
was du mir sagen könntest, würde etwas daran ändern, wie ich für
dich empfinde. Bitte.«
Etwas konnte sie ihm sagen; vielleicht würde es
ihm helfen, zu verstehen. »Glaubst du an Schicksal?«
Er nickte, und auf seinem Gesicht zeichnete sich
ein Anflug von Erleichterung ab. »Aber natürlich. Schließlich war
es das Schicksal, das uns vor vielen Jahren das erste Mal
zusammenführte.«
»Das Schicksal ist unveränderbar. Es ist
unauslöschlich und in Stein gemeißelt. Macht, Geld und Einfluss
können es nicht wandeln, Phillip. Du kannst es nicht wandeln. Und
aus diesem Grund kann ich dir, ganz gleich, wie sehr du mich
anflehst, nicht sagen, was ich in St. Giles gemacht habe. Denn das
ist mein Schicksal.« Ein Schicksal, das er nicht akzeptieren könnte
- eine Ehefrau, die tötete, eine Welt des Bösen und der Dunkelheit.
Phillip gehörte zu sehr ins Licht, sie durfte seine Welt nicht
zerstören.
»Victoria!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich liebe dich,
Phillip. Aber ich kann nicht.«
Er sah verletzt aus. »Victoria, ich bitte dich
aus tiefster Seele, es mir zu sagen. Ich werde nicht wütend werden,
gleichgültig, was es ist. Aber ich kann das nicht zwischen uns
stehen lassen, wenn wir heiraten wollen.«
Jetzt. Ihre Hände waren eiskalt unter der warmen
Decke. Victoria holte tief Luft und schloss die Augen. Sie würde
ihn nicht ansehen, während sie es aussprach. »Dann sollten wir
vielleicht besser nicht heiraten.«
Er war still, so still. Er hatte sogar zu atmen
aufgehört; sie konnte in der Finsternis hinter ihren geschlossenen
Lidern nichts hören als die leisen Stimmen von unten. Und das
schnelle, schmerzhafte Schlagen ihres Herzens.
»Victoria.« Die Qual in seiner Stimme ließ sie
die Augen öffnen. Phillip sah sie nicht an; er hatte den Blick zum
Fenster gerichtet, betrachtete die Sonnenstrahlen, die auf das Dach
einer nahe gelegenen Mansarde fielen. Ein Blauhäher ließ sich mit
seinem unangenehm krächzenden Gesang flügelschlagend auf dem Ast
eines Baumes nieder.
»Es tut mir leid, Phillip.«
Abrupt stand er auf, kehrte ihrem Bett den
Rücken zu und schritt zur Tür. Sie beobachtete mit
niedergeschlagenem Blick, wie er auf der Schwelle verharrte. »Falls
du deine Meinung änderst...«, sagte er, zur Tür gewandt.
»Ich kann nicht.« Sie musste die Worte aus ihrer
Kehle zwingen. Sie wollte ihn zurückrufen.
Phillip sah sie nicht an; er ging durch die Tür
und schloss sie mit sanftem Nachdruck.
Victoria verstand das nicht. Sie hätte sie
zugeknallt.