Kapitel 4
Der Durst des Marquis bleibt ungestillt
Maximilian schob sich an dem Butler vorbei, der ihn, wäre ihm die Chance zuteil geworden, angekündigt hätte, und hastete die ausladende, geschwungene Treppe im Haus der Dunsteads hinunter.
Irgendwo da draußen liefen zwei Wächtervampire frei herum, und so kam es, dass er nun diesem Grünschnabel von Venator nachjagen musste, der sich mehr dafür interessierte, seine Tanzkarte zu füllen und mit hübschen jungen Männern anzubändeln, als einen Pflock zu schwingen. Nur auf die geringe Gefahr hin, dass die Vampire sie zuerst finden könnten, hatte er beschlossen, Miss Grantworth bei dieser verflixten Tanzveranstaltung aufzuspüren, um sie zu informieren.
Eine kurze Überprüfung des überfüllten Ballsaals verriet ihm, dass sie sich nicht an diesem lächerlichen Walzer versuchte. Sein Nacken zeigte keine Reaktion, es waren also keine Vampire in der Nähe. Mit gerunzelter Stirn schob Max sich an einer Gruppe kichernder Debütantinnen vorbei, die ihn über Fächern in sämtlichen Rosa-Schattierungen hinweg anstarrten. Er bedachte sie mit mürrischen Blicken, die sie einschüchtern sollten, doch mehr als eine von ihnen sah ihn mit verheißungsvollen Augen und verführerisch gespitzten Lippen an.
Verdammte englische Gänse. Nichts im Kopf außer der Frage, was ein Mann in der Börse hatte oder in der Hose. Oder beides. Kein Wunder, dass so viele von ihnen Vampirangriffen zum Opfer fielen. Sie waren so leichte Ziele.
Max schob sich durch das Gedränge im Saal. Er verspürte den Drang, einfach wegzugehen, auf die Straße zurückzukehren und die Wächtervampire dort aufzuspüren, aber er wollte Eustacia sagen können, dass er zuerst alles versucht hatte, um Victoria zu finden. Er würde noch den gesamten Ballsaal durchsuchen, vielleicht sogar einen Blick auf die Terrasse werfen, da es nicht ausgeschlossen war, dass die jungfräuliche Miss Grantworth eine Ausrede gefunden hatte, um im Mondlicht spazieren zu gehen, und dann würde er sich aus dem Staub machen.
Nachdem er seinen Rundgang beendet hatte, ohne die Gesuchte zu entdecken, wollte er gerade auf die Terrasse hinausschlüpfen, als er einen leisen Hauch von Kälte im Genick spürte. Max blieb stehen. Das Frösteln war schwach, gerade eben fühlbar; aber da kein Lüftchen wehte und sein Nacken von einer dichten Mähne gesunden Haars bedeckt war, war ein Irrtum ausgeschlossen. Er sah sich um, ließ den Blick wieder durch den Saal wandern und dann den Korridor hinunter, zu dem fünf Stufen hinaufführten. Dort.
Er nahm die Treppe mit einem Satz und jagte den Flur hinunter, der nach nur drei Türen eine scharfe Biegung machte. Die Härchen in seinem Nacken waren nun aufgerichtet, und so wusste er wenigstens, dass er auf der richtigen Fährte war. Die Tatsache, dass Victoria nicht im Ballsaal gewesen war, verstärkte sein Gefühl der Dringlichkeit: Sie war entweder bei dem Vampir - wahlweise den Vampiren - oder küsste draußen irgendeinen ihrer Verehrer. So oder so würde Max sich um das Problem kümmern müssen.
Ein frischgebackener Venator war schon einem Wächtervampir nicht gewachsen; Gott sei mit ihr, falls sie gerade gegen beide kämpfte.
Während er den Gang hinuntereilte, entdeckte er einen dieser Lackaffen, mit denen Victoria auf ihrem eigenen Ball geflirtet hatte.
»Miss Grantworth?«, rief der Mann und öffnete dabei zaghaft eine der Türen.
Er musste entweder eine Verabredung mit Victoria haben, oder aber er folgte ihr zu ihrer Verabredung. Was auch immer der Fall sein mochte, Max musste ihn loswerden, denn es gab nun keinen Zweifel mehr, dass sie irgendwo in der Nähe war.
»Sind Sie zufällig auf der Suche nach Miss Victoria?«, fragte Max freundlich und ohne sich seine innere Unruhe anmerken zu lassen. Sein Nacken war inzwischen eisig.
Der Mann - ein Marquis von Rockford oder so ähnlich - erstarrte, als hätte man ihn mit der Hand im Mieder einer Dame ertappt. »Das bin ich in der Tat.« Er sah Max mit leiser Herausforderung in seinen tief liegenden Augen an.
»Ich glaube, ich habe sie gerade in diese Richtung laufen sehen. Sie wollte offenbar in den Ballsaal zurückkehren.« Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnten, war die Einmischung so eines Möchtegernhelden, und genau das schien dieser Marquis von Was-auch-immer zu sein. »Sie machte den Eindruck, als hätte sie es sehr eilig.«
Der Marquis sah ihn abschätzend an, dann nickte er knapp. »Ich danke Ihnen, Sir.«
Max wartete kaum ab, bis der Mann an ihm vorüber war, bevor er weiter den Korridor hinunterlief. Seine Instinkte trieben ihn an, und als er die richtige Tür gefunden hatte, wusste er es sofort.
Noch während er sie aufstieß, zog er einen Pflock aus der Tasche und stürmte hinein.
Er kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie auf der anderen Zimmerseite ein Vampir zu Staub zerfiel, doch bekam er nicht die Chance, auf irgendwelche Details zu achten, da sich bei seinem Hereinplatzen ein zweiter, weiblicher Vampir umgedreht hatte, der nun mit unerhörter Geschwindigkeit auf ihn zugestürzt kam. Er stoppte den Angriff der Frau, indem er ihr den Pflock in die Brust rammte, und fort war sie.
Max schloss die Tür, die er im Eifer des Gefechts weit offen gelassen hatte, trat in den Raum und betrachtete die Szene, die sich ihm bot.
Victoria lag in ihren Röcken verheddert auf dem Boden, doch rappelte sie sich schon auf die Füße, noch bevor er zwei Schritte auf sie zu gemacht hatte. Ihr welliges, schwarzes Haar war noch immer hoch an ihrem Hinterkopf festgesteckt und mit irgendeinem Flitterkram verziert, der glitzerte, wenn sie sich bewegte. Eine einzelne, dicke Korkenzieherlocke hatte sich gelöst und fiel ihr auf eine ihrer weißen Schultern. Das zarte Gewebe ihrer Röcke war irreparabel zerknittert, und ihr heller englischer Teint schimmerte noch blasser als sonst.
»Maximilian.« Victoria richtete sich gerade auf, musste sich dabei jedoch an der Rückenlehne eines Sofas abstützen. Er bemerkte, dass ihre Hand ganz leicht zitterte, als sie sich eine dunkle Locke, die ihr über die Augen fiel, aus dem Gesicht strich. »Was für ein glücklicher Zufall. Sie treffen gerade rechtzeitig ein, um mich in meiner Bedrängnis zu sehen. Oder« - sie senkte das Kinn und sah ihn unter ihren dichten Wimpern hervor an - »sind Sie am Ende gekommen, um mich zu retten? Sir Schwingden-Pflock, der der wehrlosen Demoiselle zu Hilfe eilt?«
Sie war schneeweiß. Und das schwache Beben ihrer Stimme verriet ihre Anspannung. Und... »Zur Hölle!« Mit einem Satz war Max an ihrer Seite und schob unsanft die widerspenstige schwarze Locke beiseite, unter der... »Sie wurden gebissen!«
»Autsch!« Victoria zuckte zurück, die Finger noch immer um die Sofalehne gekrampft. »Ich bin mir dessen durchaus bewusst. Und es tut weh, also fassen Sie es nicht an!«
Maximilian schenkte ihr keine Beachtung, sondern zog sie zu einer der Gaslampen, um besser sehen zu können. »Er hat nicht viel getrunken.« Sanft strich er über ihre warme Haut und fühlte das stetige Pochen ihrer Vene unter seiner rauen Hand.Als er die Finger wegnahm, waren sie purpurrot verfärbt. »Verdammt!«
Er fasste in seine Tasche, wühlte darin herum und förderte schließlich ein Glasfläschchen zutage. »Ganz still jetzt, Victoria«, befahl er, während er den Korken herauszog. Er legte ihr unsanft den Kopf zur Seite, um die Wunde sehen zu können. Noch bevor sie reagieren konnte, hatte er bereits die vier kleinen roten Kreise des Bisses mit dem Wasser besprenkelt. Mit einem Schmerzensschrei riss Victoria sich los und legte die Hand auf die Wunde. »Was tun Sie da?«
»Ich habe den Biss mit Weihwasser und Salz gewaschen. Und ja, es tut weh, ist zu diesem Zeitpunkt jedoch der einzige Ausweg. Sie werden wieder in Ordnung kommen, aber wir müssen Sie unverzüglich zu Eustacia bringen. Sie hat eine Salbe...«
»Natürlich. Das weiß ich.« Der Blick, den sie ihm zuwarf, war finster. Sie ließ die Sofalehne los und schüttelte ihre Röcke aus. »Mein Kleid ist ruiniert! Ich kann unmöglich in diesem Zustand hier heraus- und durch den Ballsaal gehen. Jeder wird annehmen... Nun, sie werden das Schlimmste annehmen!«
Max schloss den Mund. Als er schließlich wieder sprach, war sein Kiefer angespannt. »Ich werde Ihren Umhang holen.«
»Nein, Sie werden ihn niemals finden können. Ich werde Sie begleiten, aber wir müssen mein Kleid vor Blicken schützen. Und meine Mutter...«
»Eustacia wird ihr eine Nachricht mit einer Erklärung schicken«, erwiderte Max und drängte sie in Richtung Tür. »Kommen Sie jetzt. Wir haben zwar noch Zeit, aber allzu viel bleibt uns auch nicht. Das mit Salz versetzte Weihwasser wird das Gift des Wächtervampirs nur für eine kurze Weile verlangsamen.« Er schob sie zur Tür hinaus, dann folgte er ihr den Flur hinunter und zurück zu der Festgesellschaft.
Nachdem sie ihren Umhang gefunden und so drapiert hatte, dass er ihr Kleid verhüllte, nahm Max sich einen Moment Zeit, die losgelöste Locke in ihren Kragen zu stecken, damit sie die Bisswunde verbarg.
Augenblicke später drängte er sie hastig durch den Ballsaal, wobei er jedem auswich, der Anstalten machte, sie aufzuhalten, um zu plauschen, als plötzlich der Marquis von Rock-irgendwas vor ihnen auftauchte. Victoria erstarrte; Maximilian fühlte ihre Reaktion an seinem Arm, den er benutzte, um sie durch die Menge zu dirigieren.
»Miss Grantworth. Und... hm... ähm.« Er sah Max eindringlich an. »Ich habe schon nach Ihnen gesucht.«
»Lord Rockley«, erwiderte Victoria mit einem sanften Unterton in der Stimme, wie er Max noch in keinem Gespräch mit ihr zuteil geworden war. »Ich muss mich für mein Verschwinden entschuldigen, aber mehr noch bedauere ich, an das Bett meiner Großtante gerufen worden zu sein. Sie ist erneut krank geworden.«
Rockley - das war also sein Name - sah wieder Max an, dann zurück zu Victoria. »Ich verstehe. Tja, Miss Grantworth, und ich bedauere, dass ich Ihren Durst heute Abend nicht habe stillen können. Gute Nacht.«
»Lord Rockley, warten Sie.« Victoria löste sich von Max und griff nach dem Arm des Marquis. Er blieb stehen und sah sie an, und selbst aus Max’ Blickwinkel wirkte er kühl und ungerührt, und das, obwohl ihn eine der fraglos schönsten Frauen im Saal aufzuhalten versuchte. »Darf ich Sie mit dem persönlichen Leibwächter meiner Tante bekannt machen, der gleichzeitig mein Cousin ist.« Max hörte den Nachdruck, mit dem sie das Wort aussprach. »Maximilian Pesaro. Er ist gekommen, um mich zu ihr zu bringen. Unverzüglich.«
Rockley zollte Max einen weiteren abschätzenden Blick, dann verneigte er sich knapp. »Phillip de Lacy, Marquis von Rockley, stets zu Ihren Diensten, Sir.«
Mit Max’ Geduld war es nun vorbei. Die Floskeln der feinen Gesellschaft und die Tändelei zwischen einer Debütantin und diesem adeligen Fatzke bedeuteten nichts im Gesamtgefüge der Dinge - genauer gesagt angesichts der Tatsache, dass Eustacia Gardellas geliebte Nichte in diesem Moment die Bissspuren eines Vampirs an ihrem Hals trug. »Sehr erfreut. Victoria, ich muss darauf bestehen, dass wir uns jetzt auf den Weg machen. Deine Tante ist ernstlich erkrankt.«
Zu seiner Überraschung ließ Victoria sich von ihm praktisch hinter sich herziehen, und obwohl sie sich beeilen musste, um mit ihm Schritt zu halten, tat sie dies ohne großes Aufhebens.
»Sie scheinen keine Vorstellung davon zu haben, wie wenig Zeit uns bleibt, um die Situation zu bereinigen, in die Sie sich törichterweise selbst gebracht haben«, herrschte er sie an, als er sie in die Kutsche stieß, die auf seine Rückkehr gewartet hatte.
Umhang und Rocksäume hinter sich herschleifend stolperte Victoria hinein und verkroch sich sofort in der entlegensten Ecke. Aller zur Schau gestellten Tapferkeit, mit der sie ihm begegnet war, zum Trotz wirkte sie mehr als nur ein bisschen erschüttert über die Konsequenzen ihres Scheiterns. Doch sie erholte sich nur allzu schnell.
»Ich vermute, Sie werden ein paar hässliche Bemerkungen hinsichtlich meines Versagens machen wollen«, sagte sie, sobald sich die Kutsche in Bewegung setzte. »Mein Versagen als Venator. Dass ich von einem Vampir gebissen wurde. Sie müssen sich wirklich ins Fäustchen lachen.«
Max starrte sie von der gegenüberliegenden Sitzbank aus an. In einer Ecke hing eine kleine Laterne, deren schwaches Licht das Innere der Kutsche gerade genug erhellte, dass sie sah, wie seine Lippen schmal wurden.
Er zögerte nur einen Moment, dann griff er sich an den Hals, löste seine Krawatte aus ihrem perfekten Knoten, nahm sie ab und warf sie beiseite.
Victoria beobachtete verdutzt, wie er die Knöpfe an seinem Kragen öffnete und ihn weit dehnte, um seinen Hals zu entblö ßen. Er drehte den Kopf zur Seite, und sie erkannte die vier kleinen Narben eines Vampirbisses: zwei von den oberen Fangzähnen, zwei von den unteren.
Mit gelassenem Blick drehte er sich in die andere Richtung, um ihr diese Seite seines Halses zu zeigen. Jene, die noch nicht vollständig verheilt war.
»Das ist der Grund, warum ich eine Phiole mit gesalzenem Weihwasser bei mir trage.«
Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und starrte zum Fenster hinaus.
Sie schloss den Mund und sagte nichts mehr.

Victoria kam nicht darüber hinweg, wie leicht sie der Verlockung des Vampirs erlegen war. Als seine Lippen ihren Hals berührt hatten, war sie plötzlich weich und schwankend geworden. Seine nadelspitzen Zähne hatten an ihr gespielt, hatten sanft über ihre Haut gekratzt, waren neckend, liebkosend über ihren Puls geglitten, während sie formbar und willenlos wie eine Wachspuppe in seinen Armen gelegen hatte.
Und dann, gerade als er die Eckzähne in ihr Fleisch geschlagen hatte, als die qualvolle Wonne über sie hinweg- und in sie hineingeströmt war, hatte sie den winzigen verbliebenen Rest ihres Bewusstseins konzentriert und die Finger um den Pflock geschlossen. Er hatte vor Ekstase gestöhnt, und sie hatte zugestoßen.
Fft!
Er hatte sich aufgelöst, und plötzlich war Maximilian da gewesen. Und nun brachte Briyani sie in seiner Kutsche zu Tante Eustacias Haus.
»Die Wächter hatten sie bereits gefunden, als ich eintraf«, erklärte Max, als er Victoria in den Salon schob. Dank einer weiteren großzügigen Portion seines gesalzenen Weihwassers, das er während der Fahrt in seiner Kutsche auf ihre Wunde geträufelt hatte, pochte ihr Hals noch immer.
»Wächter?«, hakte Victoria nach, während er sie zu einem Stuhl dirigierte. Sie ließ sich daraufsinken und blieb still sitzen, während Eustacia und Kritanu geschäftig im Zimmer umhereilten. Sie bereiteten irgendetwas vor, das scheußlich roch und von dem sie annahm, dass man es bald auf ihren Biss auftragen würde. Oder schlimmer noch, dass sie es würde trinken müssen.
»Die Wächtervampire«, setzte Kritanu mit seinem weichen Akzent zu einer Erklärung an, »sind Lilith mit grimmiger Loyalität ergeben. Sie sind ihre Elitetruppe, ihre persönliche Leibgarde. Sie hat jeden Einzelnen von ihnen selbst erschaffen. Viele sind schon seit Jahrhunderten und länger Untote. Die Augen eines gewöhnlichen, weniger machtvollen Vampirs haben die Farbe von Blut. Man erkennt einen Wächter an den Augen - sie sind nicht wirklich rot, sondern heller, von einem dunklen Rosa.«
Victoria nickte. »Ist das die einzige Sache, die sie von anderen Vampiren unterscheidet?«
»Im Gegensatz zu herkömmlichen Vampiren und zu den Imperialen haben sie ein Gift in ihren Fangzähnen. Wenn man es nicht unwirksam macht, führt es zum Tod - sogar bei einem Venator. Aus diesem Grund hat Max darauf bestanden, Sie ohne Verzug zurückzubringen.«
»Imperiale? Was ist das? Ihr habt mir nie gesagt, dass es verschiedene Arten von Vampiren gibt.«
»Wächter und Imperiale kommen nicht sehr häufig vor, und da es so viel gab, was du lernen musstest, hielt ich es für besser, dir zunächst beizubringen, wie man sie bekämpft, und dich in andere Aspekte die Untoten betreffend erst im Laufe der Zeit einzuweihen«, gestand Eustacia. »Ich erkenne nun, dass ich dir einen Bärendienst erwiesen habe, indem ich versuchte, dich nicht zu überfordern, Victoria. Wärest du besser vorbereitet gewesen, hättest du sie heute Abend erkannt.«
»Imperiale sind die ältesten unter den Vampiren«, fuhr Kritanu freundlich fort. »Viele von ihnen sind Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende alt. Sie tragen Schwerter bei sich und können sich derart schnell bewegen, dass sie zu fliegen scheinen. Ihre Augen sind von einem dunklen Purpurrot, und obwohl sie nicht über das Gift verfügen, das die Wächtervampire haben, sind sie von allen Vampiren dennoch die furchterregendsten. Und die seltensten.«
»Und aus diesem Grund hatte ich das Gefühl, dass du darüber nicht sofort Bescheid wissen müsstest.« Eustacia sah zu Max hinüber. »Ich hatte nicht erwartet, dass sie so dreist sein würden. Üblicherweise bleiben die Wächter in Liliths Nähe; und Max hat schon seit zwei Jahren nicht mehr gegen einen Imperialen gekämpft.«
»Es war unverkennbar, dass sie es auf Victoria abgesehen hatten; sie haben sie bei dem Ball in die Falle gelockt.«
»Habt ihr sie exekutiert?«, erkundigte sich Eustacia, während sie sich zu Victorias Hals hinunterbeugte und eine Lampe so nah an ihre Haut hielt, dass diese heiß wurde. »Das hast du gut gemacht, Max.« Sie strich mit den Fingern über die wunde Stelle. »Deine schnelle Kombinationsgabe wird das hier wesentlich weniger schmerzhaft machen.«
»Victoria hat den Vampir gepfählt, während er sie gerade biss. Ich hatte das Glück, den anderen unschädlich machen zu können. « Max schien mit großer Aufmerksamkeit die aufgeschlagene Seite eines Buchs zu studieren. Das Papier raschelte, als er umblätterte.
Eustacia sah erst Max an, dann Victoria. »Du hast den Wächtervampir gepfählt, während er dich gebissen hat? Sorprendente! Kritanu, die Salbe.«
»Ja, sie haben mich beide attackiert, aber er stieß die Frau weg. Dann, als er...« Sie blickte zu Max, der so desinteressiert wirkte, als ob sie gerade ein neues Kleid beschriebe. Trotzdem senkte sie die Stimme. Sie wollte nicht, dass das Ausmaß ihres Versagens so offenkundig wurde. »Als er sich zu mir beugte, um mich zu bei ßen, ließ ich ihn. Ich glaube, er hat mich irgendwie hypnotisiert. Ich fühlte mich von ihm... Aaaahh!«, kreischte sie, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie beschämend ihr Schrei war. Es tat wirklich weh!
Die Salbe war nicht nur kalt und faulig riechend... sie stach, als würde sie sich in ihre Haut ätzen. Tatsächlich brannte sie zehnmal schlimmer als Max’ Salzwasser, und Victoria konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
»Ich weiß, dass es unangenehm ist, Liebes, aber sie wird die Narbenbildung auf ein Minimum beschränken und den größten Teil, wenn nicht sogar alles Gift des Wächters unwirksam machen. Mit etwas Glück bleiben am Ende nur ein paar helle Flecken zurück. Und nachdem du auch noch den Vampir, der es getan hat, töten konntest, nun, da sollte es eigentlich keine schlimmen Nachwirkungen geben.«
Victoria widerstand dem Bedürfnis, Max anzusehen, der inzwischen drei weitere Seiten umgeblättert hatte. Er hatte seinen Kragen wieder zugeknöpft und sich die Krawatte umgebunden. Doch sie erinnerte sich nur zu genau an die Narben an seinem Hals. Sie waren weitaus auffälliger als ein heller Fleck. Der Mann konnte von Glück reden, dass hohe, gestärkte Krägen in Mode waren.
Eustacia wandte sich ab, um sich die Hände zu waschen, während Kritanu vorsichtig ein Tuch um Victorias Hals wickelte, um die Heilpaste zu bedecken, die sich noch immer anfühlte, als würde sie sich in ihre Haut fressen. »Atmen Sie tief und langsam, ein und aus«, wies er sie leise an. »Ein und aus. Es wird helfen, den Schmerz zu lindern.«
Victoria tat, was er sagte, und tatsächlich ließ das Brennen nach.
»Du kannst heute Nacht hier schlafen«, sagte Eustacia nun. »Ich habe deiner Mutter eine Nachricht zu den Dunsteads geschickt, damit sie sich keine Sorgen macht. Ich werde ihr erzählen, dass ich dir selbst eine Kutsche gesandt habe, denn ich weiß, dass Melly völlig außer sich geraten würde, sollte sie je herausfinden, dass du allein mit Max gefahren bist.«
Sie ergriff Victorias Hände. »Du hast einen Wächtervampir gepfählt, während er dich biss. Falls ich irgendwelche Vorbehalte gehabt hätte, dich einen Venator zu nennen, Victoria Gardella Grantworth, so wären sie nun ausgeräumt. Aber in Wahrheit habe ich von Anfang an geahnt, dass du etwas Besonderes bist. Jetzt weiß ich, dass ich Recht hatte. Wenn es jemanden gibt, der Lilith aufhalten kann, dann du.«