Kapitel 15
Miss Grantworth bekommt
Kopfweh
Zum Silberkelch zu gelangen gestaltete sich nicht
ganz so einfach, wie Victoria sich das vorgestellt hatte.
Ihr war nämlich völlig entfallen, dass ihr
Verlobter sie an diesem Abend ins Theater ausführen wollte. Und sie
hatte sich so sehr darauf gefreut, die neueste Interpretation von
Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung zu
sehen!
Victoria redete sich ein, dass das seltsame
Kribbeln in ihrem Bauch nicht damit zusammenhing, dass sie
Sebastian wiedersehen würde, sondern von ihrer Befürchtung
herrührte, dass Phillip ihr möglicherweise nicht glauben würde,
wenn sie direkt nach Ende der Vorstellung Kopfschmerzen
vortäuschte.
Auf diese Weise könnte sie das Stück sehen,
müsste dann jedoch sofort nach Hause zurückgebracht werden, anstatt
im Anschluss einen Ball zu besuchen oder einen Spaziergang durch
Covent Garden zu machen. Der Vorhang würde sich um halb acht heben
und die Aufführung gegen elf vorüber sein.
Wenn Barth um Mitternacht mit seiner Droschke
auf sie wartete, hätte Victoria ausreichend Zeit, dem Silberkelch
einen Besuch abzustatten, nach Hause zu fahren und noch mehrere
Stunden zu schlafen, bevor die Anprobe ihres Brautkleides
stattfand.
Perfekt.
Und es funktionierte tatsächlich nach Plan.
Weder waren im Drury Lane Theatre Vampire anwesend, noch verspürte
Victoria während der Hin- und Rückfahrt auch nur den leisesten
Hauch eines Fröstelns im Nacken. Irgendwie schien es seit der
Auseinandersetzung im Redfield Manor eine geringere Anzahl von
Vampiren zu geben, sodass Victoria sich allmählich fragte, ob sie
und Max am Ende einen Großteil von Liliths Armee vernichtet hatten.
Vielleicht war die Vampirkönigin untergetaucht, um sich die Wunden
zu lecken, oder hatte, noch besser, das Land verlassen.
»Bist du sicher, dass ich nichts für dich tun
kann?«, erkundigte sich Phillip, als er sie den Gehweg zum
Grantworth House hinaufgeleitete. Er war unverkennbar enttäuscht,
dass ihr Abend
nun so kurz ausfiel, doch reagierte er genau mit der
Liebenswürdigkeit und Besorgnis, die sie von ihm erwartet
hatte.
»Ich danke dir, Liebling, aber ein wenig Ruhe
und eine Tasse von Verbenas Pfefferminztee sind im Moment alles,
was ich brauche. Morgen bin ich bestimmt wieder quicklebendig. Und
das sollte ich auch besser sein, denn Madame LeClaire besucht mich
für eine Anprobe.«
Jimmons öffnete ihnen die Tür, und Phillip
folgte Victoria über die Schwelle. »Nun, mein Schatz, ich würde
alles darum geben, das zu sehen.« Sein Lächeln, das warm und
verschmitzt war, deutete an, dass auch er wusste, wie bald sein
Wunsch in Erfüllung gehen würde.
Er sah sich kurz um, wie um sich davon zu
überzeugen, dass der Butler sich wirklich zurückgezogen hatte, dann
umfasste er ihre Schultern, und Victoria trat unter dem sanften
Druck seiner Finger an ihn heran. Ihre Brüste streiften die Knöpfe
seines Mantels, und die Falten ihres Rocks legten sich um und
zwischen seine Beine, während einer ihrer Füße zwischen seine
glitt.
Eine weitere Bewegung seiner Hände brachte sie
noch näher zusammen, und ihr stockte der Atem, als sich ihre
Hüften, Schenkel und Füße gleichzeitig berührten. Und dann die
Münder. Warm, feucht und zärtlich küsste er sie.
Victoria war sich sicher, dass sich, wenn sie
wirklich an Kopfweh gelitten hätte, dieses ebenso leicht in
Wohlgefallen auflösen würde, wie es ihre Gedanken jetzt
taten.
»Ich weiß, dass du dich nicht gut fühlst«,
murmelte er an ihren Lippen, als sie Stirn an Stirn innehielten,
»aber ich kann nicht widerstehen.« Seine Nase strich an ihrer
entlang, als er sich nach unten beugte, um sie wieder zu
küssen.
Als er sie schließlich ebenso sanft wegschob,
wie er sie zuvor an sich gezogen hatte, öffnete Victoria die Augen.
Sie musste blinzeln, um sie scharf zu stellen, dann stellte sie mit
köstlicher Befriedigung fest, dass seine ohnehin schon
schwerlidrigen Augen nun noch schläfriger wirkten. Er sah aus, als
wollte er mit einer Leichtigkeit und Behaglichkeit in ihre Arme
zurückschlüpfen, als wären sie ein Federbett. Nur wärmer. Und
einladender.
»Gute Nacht, Phillip«, hörte sie sich selbst
sagen, als er, noch immer ihre Hand haltend, einen Schritt von ihr
zurücktrat. Ihre Finger glitten bis zu den Spitzen durch seine,
bevor er sie losließ. Die Tür war direkt hinter ihnen. Den Blick
seiner halb geschlossenen Augen noch immer bedeutungsvoll und
entschlossen auf ihr Gesicht gerichtet, fasste er nach dem
Türgriff, dann drehte er sich um und verschwand in der Nacht.
»Also, wenn das kein Kuss echter Liebe war, dann
weiß ich auch nicht.«
Victoria schoss herum und sah Verbena - Mist,
sie hatte sie noch nicht einmal kommen hören! - mit eindeutig
sehnsüchtiger Miene am Fuß der Treppe stehen. »Liebe ist nicht
zwingend nötig für eine erfolgreiche Ehe«, erwiderte Victoria
förmlich, »aber sie kann gewiss auch nicht schaden. Also, ist Barth
inzwischen eingetroffen?«
»Ja, er wartet gleich um die Ecke. Sind Sie
sicher, dass ich heute Nacht nicht mitkommen kann?«
»Nein, Verbena. Danke, aber ich werde allein
gehen. Barth wird mich sicher hinbringen, und ich werde vor
Morgengrauen zurück sein. Du musst hierbleiben, für den Fall, dass
meine Mutter nach mir fragt. Sie war besorgt, als ich das Theater
verließ, weil ich ihr gesagt habe, dass ich mich nicht wohl fühle.
Nun, ich
sollte mich jetzt besser auf den Weg machen, wenn ich darauf
hoffen will, heute Nacht noch etwas Schlaf zu bekommen.«
»Barth wird warten, während Sie sich
umziehen.«
»Das werde ich nicht, aber ich nehme meinen
dunkelroten Umhang mit. Seine Kapuze wird mein Gesicht verbergen.«
Für den Fall, dass Max ebenfalls im Silberkelch sein sollte.
Als sie vierzig Minuten später aus Barths
Droschke stieg, hatte Big Ben gerade halb eins geschlagen. Unter
dem schweren Umhang hielt Victoria die Pistole, an die sie dieses
Mal zum Glück gedacht hatte - denn heute Nacht würde Verbena ihr
nicht zu Hilfe eilen können. Außerdem hatte sie drei an
verschiedenen Stellen versteckte Pflöcke dabei sowie ihr
Abendtäschchen mit einer Phiole gesalzenen Weihwassers und
schließlich noch ein großes Kruzifix, das in ihrem vergleichsweise
hohen Ausschnitt steckte. Auf Letzterem hatte Verbena bestanden,
denn wenn sie schon nicht mitkommen durfte, wollte sie zumindest
dafür sorgen, dass ihre Herrin so gut wie möglich geschützt
war.
Von Vampiren würde ihr also keine Gefahr drohen,
und dank ihrer Pistole auch nicht von anderen Angreifern.
Aber wenn sie an Sebastian Vioget dachte, war
sie aus unerfindlichen Gründen gar nicht mehr so überzeugt davon,
dass sie nicht in Gefahr war.
Im Silberkelch gab es mehr freie Tische als bei
Victorias letztem Besuch. Aber da es damals nur einer gewesen war
und dieses Mal drei, fasste sie es nicht als Indiz für ein
schlechter laufendes Geschäft auf.
Unter der Kapuze prickelte Victorias Nacken vor
Kälte, so als ob ein arktischer Wind darüber hinwegfegen würde. Sie
blieb
am Fuß der steilen Treppe stehen und warf einen Blick in die
Runde, um festzustellen, ob sie jemanden kannte.
Amelie, die platinblonde Pianistin, die letztes
Mal bei Verbena gesessen hatte, befand sich zur Linken auf ihrem
Platz. Sie zeigte denselben melancholischen Ausdruck, den Victoria
schon zuvor an ihr gesehen hatte, und spielte dieselbe traurige,
schleppende Musik. Max war nicht da, und soweit sie sehen konnte,
Sebastian ebenso wenig.
Nachdem sie die Kapuze gelüftet hatte, trat
Victoria aus dem Schatten neben der Treppe und steuerte einen der
Tische an. Berthy, die burschikose Bedienung, erkannte sie, obwohl
Victoria beim ersten Mal als Mann gekleidet gewesen war.
Offensichtlich hatte Sebastian Recht damit gehabt, dass eine
Verkleidung ihr Geschlecht nicht verbergen konnte. Beide Hände mit
überschwappenden Bierkrügen beladen, kam Berthy an Victoria vorbei
und verpasste ihr einen Rempler, der einen nassen Fleck auf ihrem
Umhang zur Folge hatte. »Er hat gesagt, Sie sollen nach hinten
kommen.«
Victoria verschwendete keine Energie darauf,
sich zu fragen, woher Sebastian wusste, dass sie da war. Vielleicht
hatte er Berthy angewiesen, ihr das auszurichten, wann auch immer
sie auftauchen würde. Sie wollte schon auf die Ziegelmauer mit der
versteckten Tür zugehen, als sie es sich anders überlegte und sich
stattdessen an einen leeren Tisch mit drei Stühlen setzte.
Auf ihrem Weg zurück zum Tresen blieb Berthy
gerade lange genug bei Victoria stehen, um zu nuscheln: »Was
solls’n sein?«
»Apfelmost«, erwiderte diese an Berthys
Hinterkopf gewandt, aber die Bedienung nickte, also hatte sie sie
verstanden.
Victoria richtete ihre Aufmerksamkeit auf den
Schankraum
und vertrieb sich die Zeit damit, herauszufinden, welche Gäste
Untote und welche Sterbliche waren. Zu ihrer Überraschung war das
Verhältnis ziemlich ausgewogen, und es gab sogar Tische, an denen
sich beide Gattungen mischten. Wieso ein Sterblicher freiwillig mit
einem Vampir verkehren sollte, überstieg allerdings ihr
Vorstellungsvermögen. Es war wie mit der Fliege und der Spinne, die
sich zum Tee treffen: gefährlich, wenn nicht gar tödlich.
Als Berthy, wieder beide Hände voll, erneut
vorbeigeschaukelt kam, beobachtete Victoria, wie sie zwei Krüge auf
einen Tisch knallte, der mit Vampiren besetzt war. Etwas, das zu
dunkel für Rotwein war, schwappte über den Rand und auf den Tisch.
Victoria, die fühlte, wie sich die Härchen auf ihren Armen
aufstellten, sah rasch weg, als einer der Untoten gierig zu trinken
begann.
Als Berthy den Apfelmost vor ihr abstellte,
bedachte sie Victoria mit einer Grimasse, die wohl ein Lächeln sein
sollte, dann beugte sie sich zu ihr und sagte: »Sie lassen ihn zu
sich kommen, stimmt’s? Die beste Art, sie zu erziehen.« Und weg war
sie.
Victoria verbarg ihr Lächeln in dem Metallkrug
und nahm einen Schluck von dem vergorenen Getränk. Nicht schlecht.
Sie hatte dieses Mal an Münzen gedacht und zog nun einen
Viertelpenny hervor, um ihn für Berthy auf dem Tisch zu
hinterlassen.
Just in diesem Augenblick bog Max - natürlich
ganz in Schwarz gekleidet - um die Ecke neben der Treppe. Genau wie
zuvor Victoria sah er sich im Raum um, und ihr blieb, sich ins
Unvermeidliche fügend, keine andere Wahl, als die Hand zu heben, um
ihn auf sich aufmerksam zu machen.
Er wirkte nicht überrascht, sie hier zu sehen;
tatsächlich verriet
die Eile, mit der er sich seinen Weg zu ihrem kleinen, runden
Tisch bahnte, dass er nach ihr gesucht hatte. Eustacia musste ihn
eingeweiht haben.
»Guten Abend, Max«, sagte Victoria, als er sich
auf den Stuhl neben ihr setzte. »Soll ich Berthy bitten, Ihnen ein
Bier zu bringen? Oder hätten Sie lieber das, was die dort trinken?«
Sie machte eine Handbewegung zu den Vampiren neben ihnen. »Für
Chianti wirkt es ein bisschen zu dickflüssig.«
Er lehnte sich zu ihr, die Ellbogen neben ihren
auf dem Tisch, und behielt den Schankraum im Auge, während er
sprach. »Ich kann nicht fassen, dass Sie allein hergekommen sind,
Victoria.«
»Ich bin ein Venator, Max, genau wie Sie.«
»Ich weiß nicht, was Eustacia Ihnen eingeredet
hat, aber Sebastian Vioget...«
»...ist hocherfreut, Sie in seiner Schänke
begrüßen zu dürfen.«
Max’ innere Anspannung verpuffte. Victoria
spürte förmlich, wie sie aus ihm herausströmte. Er saß nahe genug,
dass sie merkte, wie sich seine verkrampften Muskeln entspannten
und er weich und tief einatmete.
»Vioget. Welch perfekt gewählter Zeitpunkt. Wie
immer.«
Victoria sah ihn an. Der große und schlanke Max
saß vollkommen entspannt auf dem Stuhl neben ihr; er erweckte den
Eindruck, als sei soeben sein bester Freund mit der Nachricht
eingetroffen, dass draußen die Sonne scheine. Er lächelte, sodass
seine ebenmäßigen, weißen Zähne und ein Grübchen neben dem
Mundwinkel sichtbar wurden. Trotzdem entging ihr nicht die Schärfe,
die unter diesem unverfänglichen Lächeln lag.
»Und wer ist Ihre zauberhafte Begleiterin?«
Sebastian machte
es sich auf dem dritten Stuhl, links von Victoria, bequem. Damit
saßen sie in einem weiten V um den Tisch herum, mit Victoria am
Scheitelpunkt, das Gesicht dem Schankraum zugewandt.
Sie musste die Situation retten, bevor Max
antworten konnte. »Dann bin ich Ihnen gegenüber wohl im Vorteil,
Mr. Vioget. Mein Name ist Victoria Grantworth, und ich weiß
bereits, dass Ihnen dieses Lokal gehört. Ich habe Sie bei meinem
letzten Besuch hier gesehen.« Nichts von alledem war genau genommen
eine Lüge.
Anerkennung blitzte in seinen Augen auf, als er
über den Tisch fasste und ihre Hand ergriff. »Ich bin entzückt,
Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Grantworth.« Er führte ihre Hand
zu einem Kuss an seine Lippen, wobei er sie mit seinen goldenen
Augen beobachtete. Das rief in ihr die Erinnerung an ihren letzten
Abend im Silberkelch wach - als sie ihm als Mann verkleidet die
Hand geschüttelt, ihre schmale in seiner breiten gelegen
hatte.
Und dann durchzuckte sie eine andere Erinnerung
an seine bronzefarbene Hand, an seine gespreizten Finger, wie sie
über ihren cremeweißen Bauch gestrichen waren. Ihr Magen zog sich
unwillkürlich zusammen, so als versuchte Sebastian gerade erneut,
sie zu berühren. Ihre Blicke trafen sich, als er ihre Hand freigab.
Die Farbe seiner Augen hatte zu Bernstein gewechselt, woran sie
erkannte, dass auch er sich erinnerte.
»Wie wär’s mit etwas von dem Whisky, den Sie
hinter der Bar aufbewahren?« Max’ Stimme klang ruhig und
geschmeidig, aber Victoria spürte, wie er sie gleichzeitig mit
seinen Sinnen abtastete, so als suchte er nach dem tieferen Sinn
hinter den höflichen Worten, die sie gerade ausgetauscht hatten.
Seine gelassene
Art unterstrich lediglich die Kampfbereitschaft, von der sie
wusste, dass sie in ihm schlummerte. Die Frage war bloß, ob
Sebastian sich dessen ebenfalls bewusst war.
Sebastian machte Berthy auf sich aufmerksam, und
irgendwie verstand sie, was er wollte, denn wenig später knallte
sie eine Flasche Whisky und zwei kleine Gläser vor ihn hin. Dieses
Mal ohne dabei seine Spitzenmanschetten zu durchtränken.
»Es ist Ihnen also gelungen, das Buch des
Antwartha an sich zu bringen«, bemerkte Sebastian, nachdem er sein
Glas wieder abgesetzt hatte. Das Licht aus dem Wandhalter hinter
ihm schimmerte in den Spitzen seines welligen Haars und verlieh ihm
ein seltsam engelhaftes Aussehen. »Ich muss Ihnen meinen
Glückwunsch aussprechen, Pesaro. Es gab da nämlich einen kurzen
Moment, in dem Ihr Erfolg infrage stand.«
Max’ Arm streifte Victorias, als er einen
kräftigen Zug von der goldenen Flüssigkeit nahm. Während er das
Glas mit übertriebener Sorgfalt abstellte, betrachtete er Sebastian
mit scharfem Blick, trotzdem klangen seine Worte ungezwungen.
»Wussten Sie von dem Schutzzauber, der auf dem Buch lag? Der
verhindern sollte, dass ein Sterblicher es seinem rechtmäßigen
Eigentümer wegnehmen kann?«
Sebastians Antwort war gleichermaßen ungerührt.
»Mir war so etwas zu Ohren gekommen.« Sie hielten unverwandt den
Blick aufeinander gerichtet, und keiner schien bereit,
nachzugeben.
»Nett, dass Sie das erwähnten.«
Plötzlich wurde Victorias Aufmerksamkeit auf
eine Bewegung am Eingang neben der Treppe gelenkt. Sie sah genau
hin, und ihr blieb das Herz stehen.
Nein.
Nein! Unmöglich! Noch
immer in Richtung Eingang starrend, brachte sie die Worte nur mit
großer Mühe heraus. »Es ist Phillip! Rockley! Er ist hier!« Victoria fasste blindlings nach Max’
Handgelenk. »Großer Gott, er ist hier!«
Max, der noch immer auf Vioget konzentriert
gewesen war, sah erst sie an, dann zum Eingang. Victoria spürte,
wie ihre Fingernägel sich in seine warme Haut gruben.
Rockley stand am Fuß der Treppe. Er schien eine
Pistole in der Hand zu halten. Und er hatte die Aufmerksamkeit von
mehr als nur einem Gast auf sich gezogen.
Wie war das möglich? Sie musste ihn hier
rausbringen, aber gleichzeitig durfte er sie nicht sehen! Victoria
zog sich die Kapuze ihres Umhangs wieder über die Haare und wich
nach hinten in den Schatten, während ihr zu dämmern begann, dass
sie Max um Hilfe würde bitten müssen. Ihre Finger waren eisig. Sie
verspürte Übelkeit. Wie war er hierhergekommen? Wie konnte das
sein?
»Jemand, den Sie kennen?«, fragte Sebastian mit
seinem leichten französischen Akzent. Er beobachtete sie und Max
aufmerksam, so als spürte er, dass sie sich von ihm abgekoppelt
hatten. »Ich hoffe, er hat nicht die Absicht, Ärger zu
machen.«
»Es ist Miss Grantworths Verlobter«, hörte
Victoria, die sich den Kopf nach einem Ausweg zermarterte, Max wie
aus weiter Ferne sagen. »Sie muss verschwinden, bevor er sie
sieht.«
Gott sei Dank hatte er verstanden. Und er hatte
Recht - sie musste verschwinden, bevor Phillip sie sah! Ihre
Erschütterung ebbte langsam ab und wurde durch konzentrierte
Entschlossenheit ersetzt.
Sebastian sah Victoria überrascht an. »Sie haben
sich heimlich von Ihrem Verlobten davongestohlen? Aber, aber, Miss
Grantworth.« Er hob den Blick und begegnete Max’. »Ich werde ihr
einen anderen Ausgang zeigen, sodass man sie nicht sehen wird.«
Offensichtlich hatte auch er verstanden.
Max schien widersprechen zu wollen, aber
Victoria fasste wieder nach seinem Arm und sah ihn unter ihrer
Kapuze heraus an. »Max, Sie müssen sich um ihn kümmern. Bitte.
Sorgen Sie dafür, dass er diesen Ort verlässt und sicher nach Hause
zurückkehrt. Er gehört nicht hierher.«
Ohne auf Max’ Zustimmung zu warten, stand
Sebastian auf und zog Victoria mit sich auf die Füße. »Kommen Sie,
Miss Grantworth«, murmelte er und nahm mit festem Griff ihren
Arm.
Victoria warf Max einen letzten flehentlichen
Blick zu - auch wenn es ihr schrecklich widerstrebte, ihn um Hilfe
bitten zu müssen -, dann ließ sie sich von Sebastian durch die zwei
Schritte von ihrem Tisch entfernte Tür in den dahinter liegenden
Korridor führen.
Max würde Phillip in Sicherheit bringen.
Der Venator beobachtete, wie Sebastian Victoria
aus dem Schankraum brachte. Verdammt noch
mal! Was zur Hölle dachte Rockley sich dabei?
Doch es war nicht wichtig, wie oder warum er
hergekommen war. Das Einzige, das ihn jetzt zu interessieren hatte,
war, wie er diesen eitlen Fatzke hier rausschaffen konnte, bevor
die Vampire sich möglicherweise entschlossen, Anstoß an der Pistole
zu nehmen, die er in der Hand hielt.
Während ihrer geflüsterten Beratung war Rockleys
Blick durch das Lokal gewandert, und er hatte drei weitere,
zögerliche Schritte ins Innere getan. Falls er Victoria gesehen
hatte, dann nur als schemenhafte Gestalt.
»Rockley«, begrüßte Max den Mann, der noch immer
nahe am Eingang stand, sich umsah und dabei die Aufmerksamkeit
jedes einzelnen Untoten im Raum erregte. Frisches Blut war immer
besser als das Zeug aus den Fässern, die Vioget hinter der Bar
aufbewahrte. »Dürfte ich Ihnen einen Rat geben? Stecken Sie die
Pistole weg. Sie werden sie hier nicht brauchen.«
Der Lackaffe sah ihn an, und Max stellte
erleichtert fest, dass in seinen Augen keine Angst schimmerte und
er auch nicht diese Nervosität zeigte, die oftmals jenen Männern zu
eigen war, die mit Pistolen herumfuchteln mussten, um ihre
Tapferkeit zu beweisen. Seine Miene war nicht nur gelassen, sondern
er wirkte auch nicht überrascht, hier ein bekanntes Gesicht zu
entdecken.
»Sie war nötig, um von meiner Kutsche zur Tür
dieses Etablissements zu gelangen«, erwiderte Rockley und schob die
Pistole ein. »Und ich werde sie im Zweifelsfall benutzen, um
Victoria zu finden und in Sicherheit zu bringen.«
Dies war der Moment, in dem Max sein
schauspielerisches Talent unter Beweis stellen musste - und zwar
überzeugender, dachte er abfällig, als Victoria und Vioget dies
getan hatten, während sie versuchten, ein erstes Kennenlernen
vorzutäuschen. »Victoria? Wovon zum Teufel sprechen Sie,
Rockley?«
»Sie ist hier irgendwo. Ich bin ihr gefolgt,
aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie hier
macht! An einem Ort wie diesem.« Noch während er sprach, überprüfte
er wieder mit scharfem Blick den Schankraum, wie um sich zu
vergewissern, dass sie noch immer nicht aufgetaucht war. »Und was
tun Sie eigentlich hier?«
»Ich habe Victoria nicht gesehen«, behauptete
Max mit Nachdruck. »Ich sitze schon seit einer Stunde an meinem
Tisch dort drüben, und wenn sie hier irgendwo wäre, hätte ich sie
bemerkt. Ich werde Sie gar nicht erst fragen, wie Sie zu der
Annahme kommen, dass sie sich in ein solches Lokal begeben könnte,
noch dazu mitten in der Nacht. Sie werden, auch wenn es lächerlich
scheint, Ihre Gründe haben.«
»Ich bin ihr von ihrem Haus aus gefolgt. Ich
habe sie aus einer Mietdroschke steigen sehen, Herrgott noch mal!
Eine Droschke! Ihre Cousine ist aus der Droschke gestiegen und hier
heruntergegangen.«
Ach, ja. Er durfte nicht vergessen, dass
Victoria behauptet hatte, er sei ihr Cousin. »Wie lange ist das
her?« Max wusste, dass zwischen seinem und Rockleys Eintreffen
einige Zeit vergangen war; und Victoria war bereits hier gewesen,
als er nach einem kurzen Kontrollgang durch die Nachbarschaft in
den Silberkelch zurückgekehrt war. Er hatte schon seit elf Uhr auf
sie gewartet.
»Es war ein bisschen früher«, erwiderte Rockley.
»Nachdem ich meine Kutsche verlassen hatte, geriet ich in eine
Auseinandersetzung mit ein paar Gentlemen, die ich erst davon
überzeugen musste, dass ich hier einkehren werde, ob nun mit ihrer
Einwilligung oder ohne.«
Das erklärte die Pistole.
»Wie ich schon sagte, Rockley, sie ist nicht
hier. Und falls ich meine Cousine je in einem Nachtlokal wie diesem
antreffen sollte, werde ich sie unverzüglich nach Hause
eskortieren. Dies
ist kein Ort für Frauen, und für die meisten Männer ebenso
wenig.«
»Ich bin ihr von zu Hause aus gefolgt«,
wiederholte Rockley starrsinnig. »Sie sagte, dass sie sich nicht
wohl fühle, deshalb brachte ich sie nach dem Theater heim. Aber sie
vergaß ihre Stola in meiner Kutsche, also fuhr ich zurück, um sie
ihr zu bringen, und da sah ich sie aus dem Vordereingang kommen und
in eine Droschke steigen.«
»Sie müssen sich irren. Vermutlich haben Sie sie
mit ihrer Zofe verwechselt oder mit jemand anderem, der das Haus
verließ. Es ist absurd, Rockley, wirklich absurd, zu glauben, dass
Victoria ein Etablissement wie dieses besuchen würde.«
Max bemerkte, dass einer der Vampire Rockley mit
mehr als nur Neugier im Blick anstarrte. Er musste den Mann hier
rausschaffen, bevor sie in ein Handgemenge gerieten. Der Frieden,
den die Untoten und Sterblichen hier im Silberkelch wahrten, war
zerbrechlich. Sobald man ihn überstrapazierte oder missbrauchte,
würde er in einen blutigen Tumult münden. Er hatte es bereits
erlebt.
Ungeachtet der Tatsache, dass so etwas Sebastian
Vioget mehr als ungelegen käme, durfte Max es nicht zulassen. Er
musterte Rockley, der trotz seiner gestriegelten Frisur und der
perfekt geknoteten Krawatte bereit und fähig schien, sich selbst zu
verteidigen.
Den Helden zu markieren war schön und gut und
machte bestimmt Eindruck bei den Damen, aber der Marquis von
Rockley war nicht ansatzweise für die speziellen Gefahren, die hier
lauerten, gerüstet. Max hatte jede Menge Erfahrung und wenig Geduld
mit solch naiven Gutmenschen.
Das Einzige, was man in einer Situation wie
dieser tun konnte, war, Zeit zu gewinnen, Rockley einen Whisky zu
beschaffen und diesem etwas salvi
beizumengen. Das würde den Umgang mit dem Mann wesentlich
erleichtern.
»Sie haben mir gar nicht gesagt, dass Sie verlobt
sind«, murmelte Sebastian im flackernden Lichtschein.
Victoria fühlte die kalten Steinmauern des
Durchgangs hinter sich und die Wärme seiner Worte in ihrem Gesicht.
Er hatte die Tür hinter ihnen geschlossen, sodass sie jetzt allein
in dem Gang mit der gewölbten Decke standen. Er hielt noch immer
ihren Arm zwischen Handgelenk und Ellbogen umfasst; sie hätte ihn
seinem Griff mit einer einzigen kräftigen Bewegung entziehen
können.
»Und Sie haben Max nichts von dem Schutzzauber
auf dem Buch des Antwartha verraten«, gab sie zurück. »Also haben
wir alle unsere kleinen Geheimnisse.«
Er lächelte. »Ist es ein Geheimnis, dass Sie mit
einem reichen Stutzer verlobt sind? Einer, der aus der Dunkelheit
gerettet werden muss wie eine Debütantin vor einem übereifrigen
Verehrer?«
Daraufhin entzog Victoria ihm nun tatsächlich
ihren Arm. »Rockley ist weder ein Geheimnis, noch ist er der
schwächliche Tölpel, als den Sie ihn hinstellen. Würden Sie bitte
nicht so nahe bei mir stehen.«
»Hat er Ihre vis bulla
gesehen?« Er entfernte sich keinen Schritt, sondern fuhr mit der
Hand zwischen ihren Körpern hindurch bis unter ihre Brüste, wo er
sie flach auf ihr Kleid und die darunter liegenden, zitternden
Muskeln ihres Bauches legte. »Weiß er, was sie bedeutet?«
Mit einem Stoß gegen seine Schultern schubste
sie ihn weg. Er bewegte sich nach hinten, geriet jedoch kaum aus
dem Gleichgewicht. Er war kräftiger, als sie geahnt hatte.
»Weiß er, dass sie bedeutet, dass sich seine
Liebste nachts auf den Straßen herumtreibt? Und sie sich unter die
Wesen der dunklen Seite mischen muss, um ihre Geheimnisse zu
ergründen?« Ungerührt über ihre hitzige Reaktion sprach er weiter,
mit leiser, hypnotischer Stimme. »Dass sie tötet, jedes Mal, wenn
sie ihre Waffe erhebt? Dass sie über eine Stärke verfügt, die er
selbst nie besitzen wird?«
»Er weiß nichts«, erwiderte Victoria. Sebastian
war wieder auf sie zugekommen und drängte sie mit dem Rücken gegen
die Wand, auch wenn er sie dabei nicht berührte.
»Hat er sie gesehen, Victoria?« Das sanfte
Rollen, mit dem er die letzten Silben ihres Namens aussprach,
verursachte ihr ein seltsames Beben in der Magengegend. »Hat
er?«
Sie konnte den Blick nicht von seinen
tigerartigen Augen abwenden, konnte kaum ihre Lungen dazu bringen,
Luft zu holen. Die feuchtkalte, grobe Wand drückte sich durch ihren
Umhang und das zarte Gewebe ihres Kleides, so wie zuvor seine Hand
gegen die Vorderseite ihres Rockes gedrückt hatte. Sie spürte, wie
ein kleines Rinnsal Kondenswasser von den Steinen auf ihren
Hinterkopf tropfte. Es war kalt und roch modrig.
»Nein«, flüsterte sie.
Befriedigung erhellte seine Züge. »Ich
verstehe.«
Er trat so plötzlich zurück, als würde er nach
hinten gezerrt. Als ob ihm ihre Nähe plötzlich zu viel geworden
wäre. Victoria, die nun wieder atmen und sich bewegen konnte, stieß
sich von der Wand ab und ging auf Abstand zu ihm.
»Kommen Sie. Lassen Sie uns verschwinden, bevor
Ihr Venator zurückkommt, um nach uns zu suchen.«
Er drehte sich um und schlenderte den Korridor
hinunter, womit Victoria vor der Wahl stand, ihm zu folgen oder
nicht - ganz anders als beim ersten Mal, denn da hatte er sie am
Arm geführt. Genau wie damals zögerte sie. Die Entscheidung
zwischen Scylla und Charybdis: der solide Phillip oder der
faszinierende Sebastian. Wer von beiden war das kleinere
Wagnis?
Am Ende folgte sie Sebastian. Phillip war ein zu
wichtiger Teil ihres Lebens, einer, den zu verlieren sie nicht
riskieren würde. Sebastian hingegen war bloß irgendein Mann.