Kapitel 9
Miss Grantworth verspürt in
einem höchst ungelegenen Moment ein Frösteln
Als Victoria die Augen
öffnete, betrachtete Sebastian noch immer seine Hand auf ihrem
Bauch. Sie blinzelte, um wieder zu sich zu kommen, dann wurde ihr
klar, dass er noch nicht einmal bemerkt hatte, dass sie... was?
Ohnmächtig geworden war?
Es war nur ein kurzer Moment gewesen - da war
sie sich ganz sicher -, in dem alles dunkel geworden war. Eine
einzige Sekunde. Nur eine vorübergehende Anomalie.
Aber was auch immer sie ausgelöst hatte - ob nun
ihre eigene Sensitivität oder irgendeine andere Schwäche -, sie
wollte nicht riskieren, dass es sich wiederholte. Daher umfasste
sie Sebastians Handgelenk und zog es von ihrer Haut weg. Als er sie
nun endlich ansah, waren seine Augen von der kräftigen Farbe
starken Tees, alles Goldene war aus ihnen verschwunden.
»Sie wollten es sehen. Von anfassen war keine
Rede.« Wäre sie nicht so argwöhnisch gewesen, hätte sie innerlich
jubiliert, dass ihre Stimme so kräftig und selbstsicher klang, mit
einem Hauch jenes spöttischen Untertons, der bei Max so häufig
mitschwang.
Er neigte den Kopf in vornehmer Zustimmung und
zog sich zurück.
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie,
nachdem ich nun
mehr als den vereinbarten Teil unseres Abkommens erfüllt habe, mir
sagen würden, was ich wissen muss.«
»Das werde ich, Victoria.« Er verschränkte die
Hände vor der Brust, nahm wieder seine entspannte Haltung am
anderen Ende des Sofas ein und schien seine Gedanken zu
ordnen.
Victoria hatte damit kein Problem, denn sie war
sich nicht sicher, ob sie durch das Rauschen in ihren Ohren und das
Hämmern ihres Herzens irgendetwas von dem, was er sagen würde,
hören oder sich merken könnte.
Als er dann endlich sprach, tat er dies in
kurzen, prägnanten Sätzen, so als bereite es ihm Unbehagen, noch
länger in ihrer Gegenwart zu verweilen. »Das Buch befindet sich
derzeit im Besitz eines Mannes, der kürzlich von einer Indienreise
zurückgekehrt ist. Während er dort war, kaufte er ein altes
Schloss, und das Buch war Teil der Bibliothek. Ein Schutzzauber
wurde vor Jahrhunderten über das Buch verhängt, und es kann nicht
aufgeschlagen werden, solange dieser Zauber nicht gebrochen ist.
Darüber hinaus kann es seinem Eigentümer nicht von einem
Sterblichen entrissen werden.«
»Aber ein Untoter könnte es stehlen?«
»Ja, genau. Deshalb müssen Sie warten, bis
Lilith ihre Gefolgsleute ausgeschickt hat, um das Buch zu holen,
und erst nachdem der Diebstahl erfolgt ist, können Sie es ihnen
wegnehmen. Falls Sie versuchen sollten, das Buch eigenhändig an
sich zu bringen, werden Sie sterben, sobald Sie es berühren.«
Victoria musterte ihn abschätzend. »Sie
behaupten also, dass ein Sterblicher das Buch berühren kann,
nachdem es seinem Besitzer von einem Vampir geraubt wurde?«
»Exakt.«
»Aber wie soll ein Vampir es diesem Mann
stehlen, wenn er doch die Schwelle eines Hauses nicht ohne
Einladung überschreiten kann?« In ihren Worten schwang Skepsis
mit.
Als wollte er sein Verständnis für ihr
Misstrauen zum Ausdruck bringen, nickte Sebastian knapp. »Das ist
der Grund, warum es übernächste Nacht passieren wird. Der
Hauseigentümer wird sich auf eine Reise begeben, und die Person,
die während seiner Abwesenheit dort wohnt, wird die Untoten in das
Haus bitten.«
»Diese Person, die den Vampiren Einlass gewähren
wird, weiß sie, dass es Vampire sind? Kennt sie den Grund ihres
Besuchs? Wird sie zu Schaden kommen?«
Sebastian zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Das ist alles an Information, was Sie brauchen werden, Victoria.
Sie können entsprechend handeln oder es bleiben lassen.«
»Und falls Sie mich anlügen oder sich
hinsichtlich Ihrer Informationen irren, werde ich die Konsequenzen
zu tragen haben.«
Sebastian setzte sich auf und beugte sich nahe
zu ihr. Seine Augen waren zu schmalen, dunklen Schlitzen verengt,
während er sie betrachtete. »Victoria, ich hege die Hoffnung, dass
dieses Treffen nur das erste von vielen war. Deshalb versichere ich
Ihnen, dass ich nicht lüge. Und wenn es um Angelegenheiten wie
diese geht, irre ich niemals.«
Victoria und Verbena kamen erst nach Hause
zurück, als die Sonne bereits über den östlichen Stadtrand Londons
blinzelte. Von den Ereignissen der Nacht erschöpft, überrascht und
aus dem Gleichgewicht gebracht, sprach Victoria während der
Heimfahrt nicht, sondern dachte stattdessen über ihr weiteres
Vorgehen nach.
Sebastian hatte ihr den Weg zu einem Mann
gewiesen, in dessen Besitz sich das Buch des Antwartha befand. Er
hatte außerdem wiederholt behauptet, dass die Vampire es in zwei
Nächten, also nun die bevorstehende Nacht, stehlen würden, weil der
Besitzer dann fort sein würde. Falls seine Informationen korrekt
waren, hatte Victoria den Silberkelch keinen Moment zu früh
besucht. Vielleicht war Max gestern Abend aus demselben Grund dort
gewesen.
Sollte sie Tante Eustacia einweihen und auf
diesem Wege auch Max, damit sie zusammen versuchen konnten, das
Buch des Antwartha an sich zu bringen? Oder sollte sie Liliths
Spießgesellen allein auflauern, für den Fall, dass Sebastians
Informationen falsch waren?
Am Grantworth House angekommen, brachte ein
gähnender Barth die Droschke am Straßenrand zum Stehen, und
Victoria und Verbena stiegen aus. Gemeinsam huschten sie um das
Haus herum zum Dienstboteneingang, der vorsorglich unverschlossen
geblieben war, und schlichen sich in Victorias Zimmer, ohne von
einem der Bediensteten gesehen zu werden. Lady Melly würde bis nach
Mittag schlafen, und ihren Informationen nach war Victoria mit
starken Kopfschmerzen von der Dinnerparty zurückgekehrt.
Verbena half ihr, sich auszuziehen, dann sank
Victoria dankbar auf ihr Federbett. Als sie gerade eindösen wollte,
fiel es ihr wieder ein: Sie würde Phillip heute Abend auf dem Ball
der Madagascars treffen. Vielleicht würde er die Gelegenheit
bekommen, sie noch einmal zu küssen.
Sie lächelte in ihr Kissen.
»Wie kommt es nur«, murmelte Phillip, als er
Victoria an sich zog, »dass ich mir immer erst einen Weg durch eine
Horde Verehrer bahnen muss, wenn ich mit Ihnen tanzen
möchte?«
Den Arm unter seinen gehakt, gestattete Victoria
ihrer Hüfte, sich gegen seine zu wiegen, als sie gemeinsam
davonschlenderten. »Sie wollten nicht nur mit mir sprechen.« Sie lächelte ihn an. »Gwendolyn
Starcasset hat ebenfalls viele Bewunderer.«
»Das mag sein, aber die meisten von ihnen haben
über Ihrer Hand geseufzt und nicht über Gwendolyns.«
»Sie sind zu freundlich, Sir«, erwiderte sie mit
einem verlegenen Lachen.
Phillip drückte ihren Arm fester an seine Seite.
»Ich bin nicht im Mindesten freundlich. Tatsächlich empfinde ich
keinen Funken Freundlichkeit gegenüber diesen Lackaffen.«
»Und was ist mit all den Müttern und hübschen
Töchtern, die sich nach Ihrem attraktiven Gesicht und Ihrer prall
gefüllten Börse verzehren?«
»Ich werde sie bald schon von ihrem Elend
erlösen. Möchten Sie etwas trinken, Victoria?«
Sie konnte nur nicken und dabei versuchen, nicht
zu ihm hochzustarren. Sie bald schon von ihrem Elend erlösen?
Konnte er meinen, was sie glaubte, dass er meinte? Ein warmer
Schauder durchlief sie, und sie war froh über den Becher Punsch,
hinter dem sie ihr Gesicht verstecken konnte.
Erst gestern hatte er sie im Park geküsst, und
trotz ihres beunruhigenden Erlebnisses im Silberkelch hatte
Victoria sich, als sie heute spät am Tag erwacht war, noch an den
Geschmack seiner Lippen erinnert. Und sich gefragt, ob er in dieser
Nacht erneut die Chance ergreifen würde.
Es gehörte sich nicht für eine wohlerzogene
junge Dame, daran zu denken, einen Mann zu küssen, mit dem sie
nicht verheiratet oder wenigstens verlobt war. Aber seit sie ihre
vis bulla erhalten hatte, war sie alles
andere als eine wohlerzogene junge Dame. Sie tötete Vampire. Trug
Hosen. Trieb sich nachts auf den Straßen herum.
Zeigte fremden Männern ihren Nabel.
Was würde Phillip denken, wenn er ihre vis bulla sähe?
Ihr Gesicht wurde immer noch heißer, was Phillip
aufzufallen schien, denn er fragte: »Fühlen Sie sich wohl,
Victoria? Sollen wir nach draußen gehen, um ein wenig frische Luft
zu schnappen?«
»Ja, das täte ich gern.«
Sie blieben jenseits der großen Glastüren des
Ballraums auf der Terrasse stehen. Zwei weitere Paare standen an
der hüfthohen Brüstung und blickten auf die gewundenen Wege und
sorgfältig angeordneten Hecken hinunter, die den Lustgarten der
Madagascars bildeten. Eine sanft geschwungene Treppe führte von der
Mitte der Steinterrasse in die darunter liegende Vegetation.
Phillip gab Victorias Arm frei, legte seinen um
ihre Taille und führte sie an der Balustrade entlang. Ein
Gardenienstrauch voll cremig weißer Blüten wuchs von unten herauf
und stand nahe genug, dass er eine davon pflücken und sie Victoria
anbieten konnte.
»Für meine Herzensdame«, sagte er, als er sie
ihr reichte. »Ich wollte eigentlich Vergissmeinnicht mitbringen,
aber die sind zu dieser Jahreszeit nicht erhältlich.«
Victoria lächelte, als sie die Gardenie
entgegennahm, wie immer fasziniert von dem intensiven Duft, den
eine einzelne Blume zu verströmen vermochte. Sie bemerkte, dass
Phillip sie über die
Terrasse zu einer abgeschiedeneren Stelle geführt hatte, die noch
innerhalb der Grenzen des Schicklichen, aber weit weg von den
geöffneten Türen und den Geräuschen des Ballsaals lag. Die anderen
Paare, die die frische Nachtluft genossen, schienen ihre Gegenwart
nicht zu bemerken. Sie erkannte zwei von ihnen, nämlich Lord
Truscott Von-den-unbeholfenen-Füßen und Miss Emily Colton.
Phillip drehte sich zu ihr um und drängte sie
sanft gegen die Brüstung. Victoria hob das Gesicht. Sein dunkles
Haar war ordentlich nach hinten gekämmt, und nicht eine einzige
Locke wagte es, ihm in die Stirn zu fallen, als er zu ihr
heruntersah. Der Ausdruck in seinen halb geschlossenen Augen ließ
ihr die Hände feucht werden, und sie lächelte nervös.
»Victoria«, sagte er mit einer heiseren Stimme,
die nur für sie bestimmt war. »Sie wissen, dass ich Sie nie
vergessen habe und meine Verehrung für Sie noch größer wurde, seit
wir unsere Bekanntschaft erneuerten.«
Genau in diesem Moment fühlte Victoria das
Prickeln kalter Luft in ihrem Nacken. Sie zuckte zusammen, so stark
war die Empfindung und so unerwartet. Warum ausgerechnet jetzt?
Phillip musterte sie besorgt. »Victoria?«
»Bitte fahren Sie fort. Was sagten Sie gerade?«
Sie lächelte. Vielleicht war es nur eine kühle Frühlingsbrise
gewesen.
Er nahm nun ihre Hände und hob eine nach der
anderen an seine Lippen, um jeder einen zarten Kuss auf den Rücken
und dann auf die Innenseite zu hauchen. »Als ich den Entschluss
traf, mir eine Braut zu suchen, erwartete ich, dass ich ebenso
lange brauchen würde, mich für eine zu entscheiden, wie ich
gebraucht hatte, diesen Entschluss zu fassen.«
Es war keine Brise. Das Kälteempfinden war
stärker, noch intensiver geworden. Victoria, die mit dem Rücken zur
Brüstung stand und auf das Licht des Ballsaals blickte, das sich
vor ihr ausbreitete, versuchte, sich weiter auf Phillip zu
konzentrieren. Sie lächelte zu ihrem Verehrer hoch, während ihr
allmählich klar wurde, dass der Vampir nicht im Ballsaal war.
Er oder sie war hier draußen. Wahrscheinlich mit
seinem Opfer.
Sie musste etwas unternehmen. Ihre Finger
verkrampften sich in seinen. »Phillip, mir ist ein wenig
kalt.«
Er hielt inne, da ihre Worte seine unterbrochen
hatten. »Könnten wir... ich würde gerne mit Ihnen über etwas
sprechen, bevor wir wieder hineingehen. Es gibt da eine Sache, die
ich Sie fragen möchte.« Er ließ ihre Hände los, umfasste kühn ihre
nackten Arme und rieb sie sanft, um sie zu wärmen.
Victoria schluckte. Sie wollte unbedingt
erfahren, was er ihr zu sagen hatte, aber wie sollte sie gerade
jetzt zuhören?
»Victoria«, fuhr Phillip einfach fort, »wie ich
schon sagte, hatte ich damit gerechnet, dass ich lange brauchen
würde, um die richtige Frau zu finden. Deshalb stellen Sie sich
meine Überraschung und Freude vor, als ich entdeckte, dass ich sie
gefunden hatte - nur wenige Wochen, nachdem ich mit meiner Suche
begann. Denn in Wahrheit hatte ich Sie schon vor langer Zeit
gefunden.«
Die Kälte in Victorias Nacken war unerträglich
geworden. Sie konnte sich nur mit Mühe beherrschen, ihre Arme nicht
einfach loszureißen und sich den Nabel reibend in die unter ihnen
gelegenen Gärten zu stürzen.
Denn dort würde sie den Vampir finden.
Aber wie sollte sie sich loseisen, um dorthin zu
gelangen?
»Victoria, willst du meine Marquise sein?«
»Ja, Phillip! Ja, das will ich, aber würden
Sie... würdest du mir bitte meine Stola holen? Mir ist entsetzlich
kalt!« Sie konnte nichts gegen den panischen Unterton in ihrer
Stimme machen; sie musste den Vampir aufhalten.
In seinem Gesicht spiegelte sich Überraschung
wider, so als wüsste er nicht genau, wie er reagieren sollte.
Victoria musste nachdenken: Sie hatte seinen
Antrag angenommen, oder nicht?
»Selbstverständlich«, erwiderte er langsam und
förmlich. Victoria bekam ein flaues Gefühl im Magen.
Rockley machte Anstalten, sich umzudrehen, aber
sie fasste ihn am Ellbogen und hielt ihn fest. Sie schlang ihm die
Arme um den Hals und zog sein Gesicht nach unten, um ihn zu küssen.
»Ja, Phillip, ich werde dich heiraten«, flüsterte sie. »Ich will
deine Frau werden.« Ein Gefühl überschwänglicher Freude
durchströmte sie. Sie war verliebt, und sie würde Phillip
heiraten!
Er erwiderte ihren Kuss, aber dann löste sie
sich von ihm, da die Eiseskälte in ihrem Genick sie zur Pflicht
rief. »Holst du mir bitte meine Stola, Phillip, damit wir noch ein
bisschen länger hier draußen bleiben können?« Sie lächelte, während
sie sich gleichzeitig auf die Lippe biss und ihn im Stillen
anflehte, jetzt endlich zu gehen, damit sie
hinunter in den Garten schlüpfen konnte.
Rockley lächelte nun ebenfalls, und da wusste
sie, dass sie den Moment gerettet hatte... wenn sie jetzt bitte
auch noch das Opfer retten dürfte. Geh!
Das tat er, indem er von der Terrasse zurück zum
Ballsaal
schlenderte. Victoria wartete gerade noch, bis er drinnen
verschwunden war, bevor sie die Treppe hinuntereilte, die in den
dunklen Garten führte.